Der Niedergang des AKP-Paradigmas
// TÜRKEI: Die Parlamentswahlen am 7. Juni haben der 13-jährigen Alleinregierung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ein Ende gesetzt. In einer Phase der wirtschaftlichen und politischen Instabilität ist das Schicksal des türkischen Regimes noch offen. //
Die seit 13 Jahre regierende, autoritäre und neoliberale AKP hat durch die Wahlen einen kräftigen Schlag erlitten. Nun steht im Parlament die Frage der Koalitionen an. Die linke, prokurdische Partei HDP hat nach den Parlamentswahlen nochmals eine Koalition mit der AKP ausgeschlossen, ohne dabei jedoch eine Regierungsverantwortung prinzipiell abzulehnen. Sie zielt momentan darauf ab, die größte Oppositionspartei im Parlament zu werden, um mit der nächsten Wahlperiode eine Verantwortung in der Regierung zu übernehmen. Deshalb plädiert sie für die Bildung einer großen Koalition zwischen der AKP und der CHP (Republikanische Volkspartei), um weitere Teile der Basis der AKP und CHP zu gewinnen. So betonte der Co-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş: „Wir wünschten uns eine Alleinregierung der HDP. Das Volk hat aber niemanden genügend unterstützt, um eine Alleinregierung zu bilden. Es wird sich eine Koalition bilden. Nach den Konventionen sollten zunächst die Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der CHP laufen. Wir würden selbstverständlich die Koalitionsarbeit erleichtern, wenn sie unseren Prinzipien nicht widerspricht. Die Türkei darf nicht ohne Regierung bleiben.“1
Die zentrale Bedingung scheint nur die Fortsetzung des „Friedensprozesses“ mit der kurdischen Bewegung zu sein. Ihre liberalen Teile wollen aber lediglich die Entmachtung der AKP. Dafür streben sie die Restauration des Staatsapparates mit einer Koalition zwischen der CHP, der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und der HDP an. Mit der ultrarechten MHP ist die Fortsetzung des „Friedensprozesses“ nicht möglich. Damit vertieft sich der prinzipienlose und pragmatische Kurs der HDP, die sich heute noch als „Partei der Unterdrückten“ definiert. Doch die linken Sektoren, die für die HDP gestimmt haben, erwarten von ihr eine kämpferische Arbeit im Dienste der Unterdrückten. Sie fordern, dass die HDP für die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde und des Sicherheitspakets, für die Erhöhung des Mindestlohns und für die Gründung eines Untersuchungsausschusses für die Korruptionsfälle schon jetzt das Parlament nutzt, ohne auf die Gründung einer Koalitionsregierung zu warten. Doch die Aussagen von führenden Figuren der HDP deuten in Richtung eines konformistischen Kurses, dessen Programm sich nach dem Stand der „bürgerlichen Stabilität“ richtet.
Die bürgerliche kemalistische CHP nähert sich nun einer Koalition mit der AKP an. Nach langer Zeit hat sie die Gelegenheit, sich vor der türkischen und den imperialistischen Bourgeoisien als solide Vertreterin ihrer Interessen zu beweisen. Doch für die CHP ist dies nicht die optimale Lösung: Die AKP hat wegen ihres autoritären Kurses, der Korruption und der gescheiterten Außenpolitik viele Sympathien verloren. Damit droht der CHP in einer Koalition der Verlust von Teilen ihrer Basis. Deswegen stellt sie der AKP Bedingungen: Der Staatsapparat, welcher unter der Kontrolle der AKP steht, muss wiederhergestellt werden. Das heißt, dass Präsident Erdoğan keinen Einfluss mehr auf die Regierung nehmen darf. Zudem fordert die CHP ein moderates und proimperialistisches Modell in der Außenpolitik, die Bestrafung der ehemaligen Minister, die während des Korruptionsskandals von Erdoğan in Schutz genommen wurden, sowie bürgerliche Reformen in der Innenpolitik. Diese Taktik der CHP zielt darauf ab, die Schwächung der AKP zu beschleunigen und in den nächsten Wahlen eine Alleinregierung zu bilden.
Die MHP hat die Option einer Koalition mit der AKP nicht ausgeschlossen, auch wenn sie sich gegen das Präsidialsystem ausgesprochen hat. Konkret wird die MHP in ihren Aussagen lediglich bei der Ablehnung einer Koalition mit der HDP. Ihre zentralen Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit der AKP sind der Abbruch des „Friedensprozesses“ und die Entfernung von Erdoğan aus der Regierung. Die MHP möchte damit auch Teile der AKP-Basis gewinnen, mit denen sie ohnehin materielle und ideologische Überschneidungen hat. Doch der ultranationalistische und zentralistische Kurs der MHP steht im Widerspruch zu den Interessen der türkischen Bourgeoisie und den imperialistischen Mächten. Die türkische Bourgeoisie beabsichtigt die Fortsetzung des „Friedensprozesses“, um eine stabile Lage in der Türkei zu schaffen. Damit will sie ihre Macht in Nordkurdistan konsolidieren und der wirtschaftlichen Krise entgegenwirken.
Die Neuorientierung des Regimes
Die Wahlen haben Erdoğans Autoritarismus gebremst. Einerseits steht das Präsidialsystem in absehbarer Zeit nicht mehr auf der Tagesordnung. Andererseits muss die AKP nun Zugeständnisse machen, um zumindest noch Teil einer Koalitionsregierung zu bleiben. Da die AKP aus den Wahlen sehr geschwächt herausgekommen ist, fürchtet sie weitere Stimmenverluste im Falle vorgezogener Neuwahlen. Wie wir im Artikel vor den Wahlen bereits analysiert haben, blieb der innen- und außenpolitischen Kurs Erdoğans erfolglos. 2 Was ist der Hintergrund davon?
Die AKP erklärte sich gegenüber der türkischen Bourgeoisie in der ökonomischen Krise 2001 bereit, den „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung zu starten. Dazu kam das Versprechen von Demokratisierungen im Staatsapparat und die Überwindung der Krise durch Gegenreformen in der Innenpolitik und die Annäherung an die EU in der Außenpolitik. Doch die Bilanz der AKP-Regierung ist ein Desaster.
Die türkische Wirtschaft befindet sich am Rande einer großen Wirtschaftskrise. Das Land konnte durch Kreditblasen und Privatisierungen zunächst ein hohes Wirtschaftswachstum erzielen. Nun wird es umso stärker von den Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise getroffen. Das Wirtschaftswachstum sinkt deutlich und liegt momentan bei 3,3 Prozent. Vor vier Jahren waren es noch 8,8 Prozent. Die Stärke des US-Dollars hat massiven Einfluss auf die Abwertung der türkischen Lira und führt zum Anstieg des Leistungsbilanzdefizits. Das ausländische Finanzkapital fürchtet aufgrund der Instabilität um seine sichere Investitionslage. Zudem sind durch die Wahlergebnisse die Börsenkurse gefallen. Der Export ist für Mai im Vergleich zum Vorjahr um 19 Prozent gesunken und das Außenhandelsdefizit um 17,82 Prozent gestiegen.
Außenpolitisch befand sich die türkische Bourgeoisie in Syrien und Ägypten in sehr widersprüchlichen Situationen: Sie versuchte die dortigen Oppositionen zu unterstützen, um eigene Märkte zu bilden und mit geopolitischen Verbündeten ihre Regionalmachtbestrebungen voranzutreiben. Doch für den Sturz von Assad fehlte ihr die eigene wirtschaftliche Kraft und die Unterstützung der Imperialismen. Die durch Privatisierungen und Auslandsschulden belebte Wirtschaft bildete keine geeignete Grundlage zur Etablierung als Regionalmacht. Mit Mohammed Mursi kam in Ägypten kurzzeitig ein Verbündeter an die Macht, der aber 2013 gestürzt wurde. Während Erdoğan immer noch verzweifelt nach Hilfe für die dortige Muslimbrüderschaft ruft, ignorieren ihn die ImperialistInnen: Deutschland unterhält etwa gute Beziehungen zur Junta-Regierung.
Auch in Syrien gibt es kein direktes Eingreifen der Imperialismen. Für sie ist die Lage zu heikel: Es gibt keine starke Alternative zu Assad. Zudem drohen geopolitische Konflikte mit Russland, China und dem Iran. Zugleich leistet sich der türkische Staat heute noch finanzielle und logistische Unterstützung für mehrere oppositionelle Kräfte, die im syrischen BürgerInnenkrieg nicht vorankommen. Eine Zeitlang wurde auch der barbarische „Islamische Staat“ (IS) unterstützt, da Erdoğan aufgrund seiner Regionalmachtbestrebungen den Fokus einzig und allein auf den Sturz von Assad legte. Kurz nach den Wahlen hat der US-Präsident Obama am Rande des G7-Gipfels in Garmisch-Partenkirchen dem türkischen Staat Mängel bei der Überwachung ihrer Grenze zu Syrien vorgeworfen. Das „türkische Modell“ in der Region ist gescheitert und die Türkei hat jetzt vorwiegend feindliche Beziehungen zu Syrien, Ägypten, Irak und Libyen.
Auch wenn der „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung aufgrund des autoritären Kurses der AKP eine Atemnot hat, trotz der Spannungen innerhalb der türkischen Bourgeoisie und der Unruhe der ausländischen Bourgeoisien gegenüber dem autoritären AKP-Modell ist momentan ein Koalitionsszenario ohne die AKP unvorstellbar. Bei all ihren Widersprüchen bildet sie nach wie vor die stärkste Kraft zur Vertretung der nationalen und imperialistischen Bourgeoisien. Ein schneller Untergang der AKP bedeutet für die bürgerliche Ordnung eine Gefahr, die zu einer tiefen wirtschaftlichen Krise führen könnte. Daher befürworten die Imperialismen einen Übergang mit möglichst wenig Schaden. Deren Erwartung liegt eher bei der Schwächung der AKP mit Stärkung der anderen bürgerlichen Partei CHP, um mit einer Großen Koalition das bürgerliche System wieder auf legitimen Boden zu stellen. Die türkische „GroKo“ soll nach dem Wunsch der türkischen und imperialistischen Bourgeoisien die wirtschaftliche Krise auf Kosten der ArbeiterInnenklasse überwinden, den Staatsapparat restaurieren und vor allem den „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung fortsetzen. Die Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TÜSIAD) erklärte nach den Wahlen, die Parteien im Parlament sollen sich nach den demokratischen Prinzipien und nationalen Interessen für die Bildung einer Koalitionsregierung einsetzen.
Der US-Außenamtssprecher Jeff Rathke hat auf der Pressekonferenz die Wahlergebnisse als „die anhaltende Vitalität der türkischen Demokratie“ bezeichnet und das Interesse der Zusammenarbeit mit der neuen Regierung offen bekundet: „Die Vereinigten Staaten freuen sich darauf, mit dem neu gewählten Parlament und der zukünftigen Regierung zu arbeiten. Als Freund und Verbündeter der NATO engagieren wir uns für die Fortsetzung unserer engen politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit.“3
In den bürgerlichen Medien der imperialistischen Zentren haben die Wahlen in der Türkei ebenfalls einen wichtigen Platz bekommen. Dort wurde die Schwächung der AKP einheitlich mit großer Freude zum Audruck gebracht: So betonte Der Spiegel nach den Wahlen: „Jetzt muss Präsident Erdoğan zeigen, ob er verstanden hat, wie Demokratie funktioniert.“4 Der britische Telegraph betitelte die Niederlage der AKP mit: „Die Träume Recep Tayyip Erdoğans von mehr Macht sind zerschmettert“.5
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff
Auch wenn sie noch nicht offen ausgebrochen ist, existiert innerhalb der AKP-Reihen Unruhe als Ausdruck von Spannungen, die einer Pro/Contra-Erdoğan-Front einen Boden bereiten: Der Niedergang des AKP-Paradigmas, welches spätestens mit der Wahlniederlage zum Ausdruck kam, stellt die zentralisierte Rolle von Erdoğan in der Partei in Frage.
Interessanterweise hat Abdullah Gül, Gründungsmitglied der AKP, ehemaliger Ministerpräsident 2003-2004 und Staatspräsident 2007-2014, nach den Wahlen den Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu angerufen, um ihn zur Gründung einer Koalition zu motivieren. Nach dem Ende seiner Amtszeit 2014 war kurzzeitig die Frage aufgetaucht, ob Abdullah Gül die Partei übernimmt. Darauf reagierte Erdoğan mit einem Manöver und ernannte Ahmet Davutoğlu zum Ministerpräsidenten und Parteichef. Letztendlich wurde er Gül so ins Abseits gestellt, da er aufgrund seiner Rolle in der Partei ein Gegengewicht zu Erdoğan darstellte. Innerhalb des moderaten Flügels um Abdullah Gül befinden sich einige Sektoren, die sich nun für die Distanzierung Erdoğans von der Regierung aussprechen. Ihre Strategie zielt darauf ab, ein moderat-islamisches und liberales AKP-Modell ohne Erdoğan zu etablieren, da der Autoritarismus von Erdoğan im Gegensatz zu langfristigen Interessen der türkischen und imperialistischen Bourgeoisien steht und die Partei nach den Wahlen geschwächt wurde.
Ahmet Davutoğlu hat vor kurzem betont, die Bevölkerung hätte das Präsidialsystem abgelehnt und die Akteure sollten sich nun auf ihre Positionen zurückziehen. Das bedeutet zwar noch lange nicht eine offene Kriegserklärung gegen Erdoğan, aber die Machtkonstellation innerhalb der AKP formiert sich langsam um. Ein Szenario der offenen Fronten innerhalb der AKP in nächster Periode ist wahrscheinlich.
Was tun?
Eins ist klar: Es gibt keine unabhängige Vertretung der ArbeiterInnenklasse im türkischen Parlament. Die Koalitionsszenerien zwischen AKP-CHP und AKP-MHP beinhalten hauptsächlich ein neue Welle der neoliberalen Angriffe. Der radikaldemokratische Kurs der HDP, welcher progressive Forderungen für die ArbeiterInnen, KurdInnen und andere Minderheiten, Frauen und Jugend enthält, bietet jedoch keine Lösung auf die Krise und die kommenden Angriffe. Denn diese progressiven Forderungen haben im Parlament keinerlei Aussicht auf Umsetzung. Als klassenversöhnlerisches Projekt beabsichtigt die HDP eine bürgerlich-demokratische Restauration des Staates, ohne Klassenkampf gegen die türkische Bourgeoisie und gegen den Imperialismus. Deshalb hat sie sich angesichts der heroischen Streiks der MetallarbeiterInnen vor und nach den Wahlen nur mit symbolischen Solidaritätserklärungen begnügt, um eine Schlacht gegen die Bourgeoisie zu vermeiden. Das sind die ersten Anzeichen der Grenzen der „Radikalität“ der HDP.
Vor den Wahlen haben die Streiks einer neuen Generation von ArbeiterInnen das Land erschüttert. Diese Kämpfe haben auch teils Errungenschaften erzielt, wie zum Beispiel die Streiks der Renault- und TOFAS-ArbeiterInnen. Sie konnten mit ihren Streiks die gelbe Gewerkschaft Türk-Metal wegfegen, Entlassungen stoppen, die Löhne erhöhen und ihr Streikrecht erkämpfen. Die ArbeiterInnen haben bewiesen, dass sie in unsicheren Zeiten mit ihren Kampfmethoden den Klassenkampf vorantreiben können.
Recep Tayyip Erdoğans bonapartistischer Kurs hat zwar einen Dämpfer bekommen, aber sein arbeiterInnenfeindliches und unterdrückerisches Erbe verschwindet nicht ohne ein klassenkämpferisches Programm. Das türkische Regime befindet sich vor einer Neuorientierung mit dreckigen Koalitionsszenarien. Die ArbeiterInnen und Unterdrückten brauchen eine Antwort auf die allgegenwärtige Krise in der Türkei, die das bürgerliche Wahlsystem nicht bieten kann. Dafür ist die Gründung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei notwendig, um das Streikrecht zu erkämpfen, die Massaker an den ArbeiterInnen zu stoppen, die Bürokratie aus den Gewerkschaften zu werfen, die Prekarisierung rückgängig zu machen, die privatisierten Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle zu verstaatlichen, die demokratischen Rechte der Minderheiten zu erkämpfen und das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten kurdischen Nation bedingungslos anzuerkennen.