Der nette Arzt aus der Nachbarschaft?

12.11.2023, Lesezeit 15 Min.
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Foto: Klinikgründer Prof. Friedrich Schmieder (1911-1988) / Coregonus (Creative Commons)

Friedrich Schmieder, Gründer der Schmieder Kliniken, gilt in der BRD als Wegbereiter der Neurologie. Der 1988 verstorbene Arzt war nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern arbeitete auch eng mit Ärzt:innen zusammen, die mit Menschen experimentierten und sie in den Tod schickten.

Die BRD war nie frei von Faschist:innen. Während der Phase der „Entnazifizierung“ durch die Alliierten konnten viele Beamt:innen, Lehrer:innen und Ärzt:innen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Der Terror, der beispielsweise in Auschwitz stattfand und die Shoa, wurden allerdings erst Jahre später der deutschen Gesellschaft wirklich klar, nachdem spätestens 1978 die US-Serie “Holocaust” international ausgestrahlt wurde. Inwieweit deutsche Faschist:innen, die im Staate Hitlers Verantwortung trugen, diese in der BRD wieder übernahmen, ist hinlänglich bekannt und wurde schon oft dargestellt und belegt.

Dass die BRD nie vollumfänglich “entnazifiziert” wurde, ist dabei keine Verwunderung. Auch heute noch findet man immer wieder Bruchstücke eines großen Ganzen, die eine Verbindung zur Zeit des deutschen Faschismus aufzeigen. Besonders unter den Ärzt:innen gab es viele Mitläufer:innen und Mittäter:innen, die von den Experimenten, die sie in den Konzentrations- und Vernichtungslager machten, profitieren konnten. Erkenntnisse und Beobachtungen, die in die moderne Medizin eingeflossen sind. Viele Ärzt:innen blieben bis zu ihrem Tod unentdeckt, doch bei vielen anderen sind genug Informationen, Akten und Dokumentationen vorhanden, um ihre jeweilige Rolle im deutschen Faschismus einzuordnen. Wie langwierig und schwierig es sein kann, eine Biographie eines Arztes aufzuarbeiten, der während der Zeit des deutschen Faschismus tätig war und welche Konsequenzen gezogen wurden – oder gerade nicht – zeigt das Beispiel Friedrich Schmieders.

Kliniken Schmieder

Die Kliniken Schmieder betreibt ein Netz von neurologischen Fach- und Rehabilitationskliniken, die sich unter anderem auf Frührehabilitationen, psychotherapeutische Neurologie und Berufstherapien spezialisiert haben. Die in Baden-Württemberg operierenden Kliniken haben ihren Hauptsitz im Landkreis Konstanz in der Ortschaft Allensbach am Bodensee. Daneben gibt es im Landkreis noch Kliniken in der Stadt Konstanz und in Gailingen am Hochrhein. In der letzteren Ortschaft wurde am 1. November 1950 die erste Klinik gegründet, in der heute besonders Jugendliche und junge Erwachsene aufgenommen werden, die in die Berufswelt (wieder)eingegliedert werden. Zusätzlich gibt es noch Niederlassungen mit entsprechenden Spezialisierungen in Stuttgart, Heidelberg und Gerlingen.

Die Kliniken zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine der ersten Fachkliniken europaweit waren, die sich 1991 auf die neurologische Frührehabilitation spezialisiert haben. Das Konzept der neurologischen Rehabilitation, wie sie in den Kliniken angewandt und gelehrt wird, geht auf den Gründer Friedrich Schmieder zurück, die These aufgestellte, dass “das Gehirn Kompensations- und Reorganisationsfähigkeiten“ besitze. Das bedeutet, es sei “also lebenslang anpassungs- und lernfähig”. Die erste gegründete Privatklinik in Gailingen am Hochrhein hieß damals “Sanatorium Schloss Rheinburg” und umfasste 20 Betten. Heute bieten die Kliniken an den sechs erwähnten Standorten mehrere hundert Betten an und spielen in Baden-Württemberg eine wichtige Rolle in der neurologischen Rehabilitation. Seit der Gründung vor 73 Jahren befinden sich die Kliniken im Privatbesitz der Familie Schmieder.

Wer war Friedrich Schmieder?

Schmieder wurde am 29. Juli 1911 in Köln geboren. Im “Klinikprofil” auf der Website wird sein biographischer Ablauf in nur wenigen Sätzen abgehandelt. So wird gleich nach der Nennung seiner Geburt die Gründung der Privatklinik zum 1. November 1950 erwähnt, gefolgt von seinem Todestag am 2. Februar 1988. Betont wird indes, dass er im November 1980 vom damaligen Ministerpräsidenten Lothar Spät (CDU) den Titel “Professor” erhalten hat. Doch nicht nur das: 1974 bekam er auch das Bundesverdienstkreuz am Bande und fünf Jahre später das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Dennoch lässt sich auf der Website einiges über den Gründer erfahren. Gelobt wird sein “nie nachlassende[s] Engagement für seine Überzeugung” sowie die Entwicklung des in der BRD nun geltende “Phasenmodell”, das “alle Aspekte der neurologischen Rehabilitation je nach Schweregrad der Erkrankung in den Behandlungsphasen A bis F” umfasst, wie die Website schreibt.

Dass die Kliniken nichts zur Jugend, der Schulzeit, dem Medizinstudium und dem Heranwachsen Schmieders schreibt, sondern die ersten vierzig Jahre überspringt, wird sicherlich seinen Grund haben. Denn Schmieder ist nicht als Schmieder auf die Welt gekommen und seine Expertisen und Erfahrungen muss er in genau dieser Zeit gesammelt haben, die von den Kliniken nicht beleuchtet werden. Doch sein Werdegang ist nicht unbekannt: Er besuchte das Dreikönigsgymnasium in Köln, fing danach ein Studium der Medizin in Köln und Innsbruck an. Während dieser Zeit war er an beiden Ortschaften jeweils Mitglied der katholischen Studierendenvereine. Beendet wurde das Studium mit einer Dissertation zum Thema “Das Geburtstrauma im Fragenkreis des Erbgesundheitsgerichts Köln”. Darin befasste er sich mit der “Sterilisationspraxis” und schrieb unter anderem von “minderwertigem Gehirn” und nicht “wertvollen Erbguts”. Das war im Jahr 1936 – drei Jahre nachdem die deutschen Faschist:innen an die Macht kamen.

Bereits im Mai 1933 trat Schmieder der faschistischen Partei NSDAP bei und wurde Mitglied in vier weiteren Bünden: dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, dem Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund, dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund sowie der Nationalsozialistischen Deutschen Volkswohlfahrt. Im Jahre 1938 fing Schmieder eine psychiatrische Facharztausbildung in Heidelberg bei Carl Schneider an. Schneider lehrte nicht nur an der Universität, sondern war auch in der “Aktion T4” involviert. Darunter versteht man heute die massenhafte Ermordung von körperlich, mental und geistig eingeschränkten sowie neurodiversen Menschen. Wie Schmieder hatte Schneider auch großes Interesse an der Sterilisationspraxis.

Als der imperialistische Krieg am 1. September 1939 ausbrach, wurde Schmieder Stabsarzt bei der Wehrmacht, wurde allerdings im Juli 1942 von seiner Funktion freigestellt. Von da an arbeitete er für und mit Schneider unter anderem an der Erforschung der Unterscheidung zwischen behandlungsfähigen und nicht-behandlungsfähigen Patient:innen – wobei man in diesem Fall von Opfern schreiben muss. Ein Teil seiner Forschung wurde auch direkt von der Zentralstelle T4 finanziert, als er 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch (heute: Psychiatrisches Zentrum Nordbaden) arbeitete. Schneider richtete in der Anstalt Eichberg dort 1942 eine Abteilung ein, in denen er an zum Tode verurteilte Opfer, die geistig behindert waren und an Epilepsie litten, Experimente verübte. Während dieser Zeit starben 21 von 52 Kindern durch Experimente mit Medikamenten, die zuvor in Wiesloch untersucht wurden. Ob sich Schmieder dessen bewusst war, ist nicht überliefert, allerdings ist es falsch zu behaupten, Schmieder hätte von gar nichts gewusst.

Wie die Konstanzer linke Online-Zeitung seemoz 2011 zusammenstellte, gibt es mehrere Notizen und Aktenvermerke, die Schmieders Namen beinhalten. Im Fall der Kinderexperimente wurde klar von “Sonderbehandlung” gesprochen und mit einem “eindeutigen” Arbeitsauftrag – der Vernichtung menschlichen Lebens. Weiterhin existiert ein Aufsatz Schmieders,  in dem er von “Idioten” und “Schwachsinnigen” schreibt. Während der “Aktion T4” wurden “zur Tötung bestimmte und vorgesehene Kranken für sogenannte wissenschaftliche Zwecke fotografiert“. Carl Schneider zeigte ebenfalls Interesse daran und ordnete an, einzelne Menschen an ihn zu schicken, um sie zu fotografieren, ehe sie ermordet wurden – wodurch dann jene Gehirne zurück an Schneider gehen sollten. Dass Schmieder das nicht bekannt war, ist stark anzuzweifeln; Friedrich Mennecke, der maßgeblich für die Ermordung im Rahmen der “Aktion T4” verantwortlich war, schrieb am 16. Juni 1942: “Mit den beiden Professoren, den Herrn Assistenten Dr. Rauch, Dr. Wendt und Dr. Schmieder (kursiv von KGK) unsere Eichberger Gehirne eingehend angesehen.” Später fordert Mennecke Carl Schneider auf, Schmieder zu ihm zu schicken: “[D]amit ich mit ihm an Ort und Stelle die Errichtung unserer Fotoarbeiten in den Reichsausschussfällen bespreche”.

Entnazifizierung oder Postfaschismus?

Seine Habilitation schrieb Schmieder 1944 über Fleckfieber und deren Langzeitfolgen. Ob er diesbezüglich Experimente an Menschen machte, die in den faschistischen Konzentrationslagern waren, ist nicht übermittelt. Schmieder selbst schwieg bis zu seinem Lebensende konsequent beziehungsweise flüchtete sich in Erinnerungslücken oder dem Narrativ, damals von nichts gewusst zu haben. Er gelangte in amerikanische Gefangenschaft, nachdem er seit November 1944 im Fronteinsatz in Frankreich war. Nach wenigen Monaten wurde er jedoch wieder freigelassen und konnte sich bereits 1946 als Facharzt für Nervenerkrankungen und eröffnete zwei Jahre später in Kirchheim unter Teck seine erste Privatpraxis. Innerhalb der Gemeinschaft der Ärzt:innen in der postfaschistischen BRD konnte Schmieder schnell Fuß fassen. Nach der Gründung der Kliniken in Gailingen am Hochrhein schloss er 1956 einen Vertrag mit dem Bundesarbeitsministerium ab, was ihm die finanziellen Mittel gab, seine Kliniken auszubauen – hin zur heute bekannten Fachklinik für neurologische Rehabilitation.

Was Schmieder während der Zeit der faschistischen Diktatur tat, schien eine lange Zeit niemanden zu interessieren. Da er als Koryphäe der Neurologie galt, hatte man auch kein ernsthaftes Interesse daran, es in Erfahrung zu bringen. Die bürgerliche Politik in der postfaschistischen BRD war es nicht, die die Tätigkeit Schmieder ans Licht brachte beziehungsweise der Öffentlichkeit zugänglich. In diesem Fall ist es Ernst Klee zu verdanken, der im August 1983 in der ZEIT das Wirken Schmieders offenbarte. Anstatt sich einer ernsthaften Auseinandersetzung zu stellen, versteckte er sich wie viele andere Täter:innen auch hinter Äußerungen, erst nach Kriegsende etwas davon gewusst zu haben. Besonders von der Finanzierung durch die Zentralstelle der “Aktion T4” will er während seiner Zeit nichts gewusst haben. Vielmehr warf er Klee in besondere, und der Aufarbeitung generell vor, ihn einzig aufgrund seines Jahrgangs und Berufsstandes als Täter zu bezeichnen.

Dennoch leitete die Staatsanwaltschaft Heidelberg 1984 ein Ermittlungsverfahren gegen ihn sowie zwei weiteren Ärzten der damaligen Gruppierung um Carl Schneider ein (Schneider beging am 11. Dezember 1946 in seiner Gefangenenzelle in Frankfurt am Main Selbstmord). Allerdings wurde das Verfahren bereits am 16. Mai 1986 eingestellt, da es scheinbar keine gesicherten Anhaltspunkte gab, die die Taten belegen würden. Aussagen von Zeitzeugen, dass es unter Pfleger:innen und Heilerzieher:innen bekannt war, dass in Eichberg Patient:innen – darunter Kinder – ermordet wurden, wurden als “Gerüchte” abgewiesen. Am 2. Februar 1988 starb Friedrich Schmieder in Bad Krozingen.

Die Rolle Gailingens am Hochrhein

Die Aufdeckungen Ernst Klees haben zwar die Machenschaften Schmieders ans Licht gebracht, allerdings folgten daraus keine Konsequenzen. Nicht nur leugnete er bis zu seinem natürlichen Tode jede Kenntnis vor Kriegsende, auch ist das Schweige der Kliniken Schmieder nicht zu überhören. Wie eingangs bemerkt, gibt es auf deren Website keinen Hinweis auf die Tätigkeit – die Lücke von 40 Jahren wird schlichtweg hingenommen. Dass Schmieder die erste Privatklinik in Gailingen am Hochrhein errichtete, verdankte ihm die Gemeinde 1971 mit einer Ehrenbürgerschaft, die er bis heute hält. Daneben wurde eine Straße nach ihm benannt, die nur wenige Meter neben dem ehemaligen jüdischen Schülerhaus ist, in dem nun das Jüdische Museum ist.

Die Gemeinde mit knapp 3000 Einwohner:innen hatte bis 1938 einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil. Wenngleich die Jüd:innen nicht die gleichen Rechte besaßen wie die nichtjüdische Bevölkerung, waren sie maßgeblich an der Entwicklung der Gemeinde beteiligt. So ist heute noch der große jüdische Friedhof erhalten. Die große Synagoge, die gegenüber dem jüdischen Schülerhaus stand, wurde jedoch von der SS am 10. November 1938 niedergebrannt und gesprengt. Jüd:innen, die bis 1940 die Gemeinde nicht verließen, wurden am 20. Oktober 1940 in das Konzentrationslager Gurs geschickt, wovon der Großteil in Auschwitz vernichtet wurde – das waren etwas mehr als 200 Jüd:innen.

Die Biographie Friedrich Schmieders und die Geschichte Gailingen am Hochrheins bedingen einander. Schmieder profitierte von den Opfern des deutschen Faschismus, von den Menschen, die in die Konzentrationslager gesteckt wurden und den Ärzt:innen regelrecht zum Fraß vorgeworfen haben. Wenngleich Schmieder wohl nicht von Experimenten an jüdischen Gailinger:innen profitierte, so profitierte er von den Experimenten, die das faschistische System ermöglichte. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinschaft war in diesem Fall die Bedingung für Schmieders Weg, in Gailingen am Hochrhein Fuß zu fassen. Dass es gerade in einer Gemeinde war, die vor 1938 einen hohen jüdischen Anteil in der Bevölkerung hatte, mag dem Zufall geschuldet sein. Eine kritische Aufarbeitung innerhalb der Gemeinde – auch durch das Jüdische Museum – fand bisher nicht statt.

Schmieder als Faschist?

Ob Schmieder ein überzeugter Faschist war, der der Ideologie treu ergeben war, ist nicht zu klären. Seine Mitgliedschaft in den hiesigen faschistischen Unterorganisationen mögen opportunistischen Charakter haben. Was jedoch nicht zu leugnen ist: von den Menschenexperimenten, die in Auschwitz und anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern gemacht wurde, konnte er so viel Profit schlagen, dass es im direkt nach dem Krieg gelang, Wegbereiter der Neurologie zu werden. Durch seine Zusammenarbeit mit Carl Schneider war er dabei nicht nur ein einfacher Mitläufer-Arzt, sondern war mit einer Person im Kontakt, die maßgeblich an der Vernichtung von Kindern und körperlichen, geistigen und mentalen Erkrankten. Er verkehrte mit Ärzt:innen, die an der ersten Front der Vernichtung standen.

Die bis heute andauernde Vehemenz, ihn von jeglichem Wissen während der Zeit freizusprechen, ist dadurch zu erklären, weil die Kliniken Schmieder dann gezwungen sein müssten, aufzuklären, wie das Wissen ihres Gründervaters zustande kam. Das Schweigen seitens der Kliniken, der Gemeinde und auch Teile des Jüdischen Museums ist ein Versuch, einen angesehenen Mediziner über die Landkreisgrenze hinaus rein zu halten, um die Fortschritte im Gebiet der Neuromedizin nicht zu diskreditieren. Er sagt, dass er nicht davon wusste, dass Kinder ermordet wurden und entsprechende Zahlungen für etwas anderes getätigt wurden. Ein Blick in Aktenvermerke, Notizen oder seinen eigenen Arbeiten sowie seine Arbeit mit Carl Schneider lassen eher erkennen, dass es sich bei Friedrich Schmieder um einen opportunistischen Arzt handelt, der das Leid und Leben Unschuldiger für seine medizinische Forschung wissentlich in Kauf nahm, ohne zwingen das Ausmaß der Vernichtung der deutschen Faschist:innen zu erkennen.

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