Der Marxismus ist nicht eindimensional
Wer sich in der akademischen Welt mit dem Marxismus beschäftigt, wird mit dieser Kritik bereits konfrontiert worden sein: Marx habe zwar einige gute Perspektiven gehabt, allerdings sei die Fokussierung auf Arbeit und Klasse verkürzt. Im Rahmen der KGK-Uniredaktion stellen wir uns gegen solche Fehlinterpretationen. Ein theoretischer Beitrag.
Marx’ Philosophie wird als “eindimensional” kritisiert. Der Kritikpunkt: Marx beschäftige sich allein mit “Arbeit” und ignoriere weitere Wesensmerkmale des Menschen, wie die Sprache, Interaktion, oder politisches Handeln. Das sei, wie Akademiker:innen gerne sagen, reduktionistisch. Nahezu jede:r Studierende:r der Sozial- oder Geisteswissenschaften hat diesen Vorwurf bereits gehört. So schreibt Marc Rölli in der Einleitung zu seinem Buch Anthropologie dekolonisieren, dass Marx mit seinen Feuerbachthesen zwar einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung anthropologischen Denkens gemacht habe, er aber letztlich an einer “objektivierenden Festschreibung des Menschen” festhält [1]. Dieser Text, der beispielsweise auch an der FU Berlin unterrichtet wird, fügt sich in eine Reihe von Kritiken ein, die selbst eindimensionaler nicht sein könnten. Warum die Anschuldigung fehlgeleitet ist, erfahrt ihr hier.
An erster Stelle: Sich auf einen Themenbereich zu fokussieren, heißt nicht, die Existenz oder Relevanz weiterer Bereiche zu verneinen. Das Argument, die marxistische Analyse fokussiere sich eindimensional auf Arbeit, und verneine somit andere grundlegende Merkmale des Menschen, ist analog dazu zu kritisieren, dass eine Landwirtin, die sich auf Obstbau und Legehennen fokussiert, keine Milchkühe hält und keinen Mais anbaut.
Aber der Marxismus, mit seiner jahrhundertelangen Tradition und Weiterentwicklung, hat natürlich einen umfassenderen Anspruch. Wie Marx schon betonte: Wir wollen die Welt nicht nur grundlegend erklären, sondern sie nachhaltig verändern. Bei beiden Achsen, Theorie und Praxis, ist die Fokussierung von Arbeit und Klasse essenziell.
Der Vorwurf lautet genauer, dass Marx mit dem Prinzip der Arbeit die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht adäquat analysieren kann. Marx erkannte, dass Arbeit ein grundlegender Ausdruck menschlichen Handelns ist. Er beschreibt dies zum Beispiel in der Deutschen Ideologie:
Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar. Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. […] Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zuproduzieren,ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst. [2]
Es wird hier anfänglich klar, was gemeint ist, wenn Marx vom Wesensmerkmal Arbeit redet: Die notwendige Interaktion der Menschen mit der Natur. Egal welcher Theorietradition man nun angehört, diese objektive Bedingung des blanken Überlebens ist wohl nicht zu leugnen. Gleichermaßen schließt diese Einsicht keineswegs andere Aspekte menschlichen Lebens aus. Im Gegenteil: Sie impliziert die Herausbildung weiterer Merkmale wie Sprache und sogar Politik – allerdings nicht mechanistisch, sondern aus der historischen Entwicklung. Dabei werden diese Elemente keineswegs vernachlässigt. Vielmehr geht es in jeder guten Theorie um eine adäquate Anordnung verschiedener Ebenen. Wie Marx schon betonte, entwickelt sich ein Großteil der Philosophie “vom Himmel auf die Erde” herab, während der Marxismus “von der Erde zum Himmel” hinaufsteigt [3]. Um solche dynamischen Entwicklungen – wie Marx sagen würde, dialektisch – nachzuvollziehen, ist ein Verständnis von Marx’ Arbeitsbegriff absolut notwendig.
Der Begriff der Arbeit in Marx
Es stellt sich also die Frage, was Marx genau unter dem Begriff der Arbeit versteht. Nach Marx ist es ein Wesensmerkmal des Menschen, konkrete Tätigkeiten auszuführen. Der Mensch leistet zweckmäßige oder zielgerichtete Arbeit im Sinne des eigenen Überlebens, um die Umwelt nach seinen Bedürfnissen zu modifizieren. Konkrete Arbeit produziert die Gebrauchswerte mit ihren konkreten, nützlichen Eigenschaften. Doch konkrete Arbeit ist für Marx nicht nur ein Mittel, um Produkte zu erzeugen, sondern ein Selbstzweck: Sie ist Ausdruck der individuellen physischen und psychischen Kräfte des Menschen und ein Prozess, in dem der Mensch sich entwickelt. Sie stellt eine Form der produktiven Weltaneignung dar, welche ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst sowie zur sozialen und natürlichen Welt einschließt.
Im Gegensatz zur konkreten Arbeit (als Wesensmerkmal des Menschen) ist die kapitalistische Produktionsweise von abstrakter Arbeit charakterisiert: Die Arbeit dient nicht dem Nutzen für die Menschen, sondern der Produktion von Waren für den Verkauf, welcher über den Tauschwert vermittelt wird. Dabei wird die konkrete Arbeit, die natürlich trotzdem geleistet werden muss, entfremdet. Das Produkt der Arbeit wird der Arbeiter:in fremd. Das Produkt gehört nicht ihr, sondern einer Anderen. Die Arbeitstätigkeit dient nicht der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, sondern dient als Mittel, Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen – die der Kapitalist:in. Solange kein materieller Zwang besteht, würde sich die Arbeiter:in nicht in diese Tätigkeit begeben. In einer Gesellschaft, in der die Arbeiter:innen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft für die Profite der kapitalistischen Klasse zu veräußern, ist jede:r einzelne Arbeiter:in vom eigentlichen Wesen (dem Gattungscharakter) des Menschen entfremdet.
Eine freie und bewusste Tätigkeit ist ohne die gemeinschaftliche Kontrolle über die Produktionsmittel nicht möglich. Solange Land, Ressourcen, Gebäude, Maschinen, Anlagen, Werkzeuge, auch Arbeitskraft – also alles für die Produktion von Waren Notwendige – im Privateigentum einer Klasse ist, bleibt es der anderen Klasse verwehrt, die Umwelt und die Gesellschaft, in der sie lebt, nach ihren Bedürfnissen zu bearbeiten. In einem fremdbestimmten Lohnarbeitsverhältnis ausgebeutet zu werden entspricht weder dem “Gattungswesen” noch dem Interesse des Menschen – sondern die konkrete Arbeit als Selbstzweck ist der Prozess, in dem der Mensch sich in und mit seiner “Gattung” als freiheitlich-kreatives Wesen entwickelt. Diese Wesensbeschreibung ist demnach auch nicht als geschlossen und festgesetzt zu begreifen, sondern als Ursprung echter menschlicher Freiheit, deren Einhegung es zu überwinden gilt. Marx’ Verständnis von konkreter Arbeit ist ein weiter Begriff von Arbeit, der jegliches produktive Wirken als Ausdruck der individuellen und kollektiven, physischen und psychischen Kräfte der Menschen umfasst. Er ist damit nicht auf kapitalistische Produktivität beschränkt. Marx’ Analyse verdeutlicht, warum der Aspekt der Produktion und der Arbeit für eine Erklärung von Machtverhältnissen und der menschlichen Geschichte grundlegend ist.
Der Kampf an den Unis und darüber hinaus
Ob in der universitären Wissensproduktion (zum Beispiel der Soziologie) oder in den bürgerlichen Medien – in einer kapitalistischen Ordnung und unter einer neoliberalen Ideologie wird die marxistische Theorie ignoriert oder als zeitlich überholt dargestellt: “Der freie Markt ist die natürliche Ordnung. Klassen existieren nicht mehr. Armut hat es schon immer und wird es auch immer geben. Es ist keine andere ökonomische Ordnung außer dem Kapitalismus möglich…” Die Kritik der Eindimensionalität reiht sich hier ein. Die Argumentation, Marx’ Theorie sei aufgrund der einseitigen Fokussierung auf Arbeit als Wesensmerkmal des Menschen zu eindimensional und somit unvollständig, ist philosophisch nicht haltbar. Diese Kritik trotzdem aufzubringen, zeugt entweder von einem mangelnden Verständnis, oder sie verfolgt das Ziel, den Marxismus zu diskreditieren.
Im Interesse der kapitalistischen Klasse ist es, die Erkenntnis in den objektiven historischen Fortschritt und den Weg dorthin zu verschleiern. Der wissenschaftliche Marxismus erklärt den historischen Fortschritt mit der Tendenz der Produktivkräfte, sich weiterzuentwickeln. Die technischen Mittel und das Wissen, gepaart mit der menschlichen Arbeitskraft, bilden gemeinsam die Produktivkräfte. Aufgrund der fortschrittlichen Entwicklung der Produktivkräfte sind die entsprechenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft an einem Punkt nicht mehr förderlich. Marx’ Historischer Materialismus zeigt die Notwendigkeit einer revolutionären Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Auch für diese Umwälzung, die praktische und strategische Komponente der marx’schen Theorie, bleibt die Arbeit ausschlaggebend. Einerseits ist nur sie, in ihrer allgemeinen Ausprägung als produktiver Umgang mit der Natur, nachhaltig in der Lage, über das Bestehende hinauszuwachsen. Andererseits ist sie auch in ihrer kapitalistischen Form der strategische Dreh- und Angelpunkt der Veränderung. Denn: Die Lohnarbeiter:innen stellen nicht nur zahlenmäßig die Mehrheit der Menschheit und haben ein legitimes Interesse, ihre Situation zu verbessern; sie sind gemeinsam auch in der Lage, die kapitalistische Produktion z.B. durch Streik zu behindern oder sogar zu beenden. Ohne Ausbeutung der Arbeitskraft gibt es keinen Profit und keinen Kapitalismus.
So entwickelt sich die Geschichte durch das menschliche Wirken als Teil der Produktivkräfte auf und in der Natur und Gesellschaft, sowie durch den Klassenkampf: Auseinandersetzungen zwischen sozialen und politischen Akteur:innen als Antrieb der historischen Entwicklung. Zur Überwindung der Klassengegensätze, zu grundlegender gesellschaftlicher Veränderung, d.h. einer Umwälzung der Produktions- und Eigentumsverhältnisse, kommt es nicht ohne Kampf, nicht ohne revolutionäre Praxis. So ruft Marx am Ende des Kommunistischen Manifests auf zum kollektiven Aufbegehren gegen Ausbeutung und Unterdrückung, der politischen Praxis des Marxismus: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” Als Klasse Gegen Klasse kämpfen wir dafür, einen solchen strategischen Marxismus zurück an die Unis zu bringen.
[1] Rölli, Marc. Anthropologie Dekolonisieren. Eine Philosophische Kritik Am Begriff Des Menschen. Frankfurt a. M., New York: Campus, 2021. S.21;
[2] Marx-Engels Werke, Bd. 3. Berlin (Ost): Dietz Verlag, 1969. S.20-21;
[3] Marx-Engels Werke, Bd. 3. Berlin (Ost): Dietz Verlag, 1969. S.26