Der Koalitionsvertrag: wenig Zuckerbrot und große Peitsche
Heute wird Angela Merkel zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. Was sind die wichtigsten Projekte des neuen Kabinetts? Eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrags aus der Sicht der Arbeiter*innen und der Jugend.
Die neue Bundesregierung, die heute offiziell gewählt und vereidigt wird, wird wohl die letzte unter der Führung von Angela Merkel sein. Zu groß die innerparteilichen Streitigkeiten, zu groß der Druck vonseiten der AfD, zu groß die Fragilität der geopolitischen Lage. Es ist davon auszugehen, dass die neue Regierung viel instabiler sein wird als die letzte – und somit auch Regierungskrisen häufiger auftreten werden, die den Fortbestand der GroKo gefährden. Diese Instabilität hat Auswirkungen auf die Projekte, die Union und SPD in Angriff nehmen wollen.
„Fehlende Vision“
Von vielen Seiten wird kritisiert, dem Koalitionsvertrag „fehle die Vision“. Die Kritiker*innen meinen das natürlich je nach Ausrichtung anders: Den einen ist zu wenig „sozialdemokratische“ Umverteilung enthalten, den anderen fehlen Pläne zur „Digitalisierung“ oder die Perspektive einer „stärkeren Rolle“ Deutschlands in der Welt.
Die unterschiedlichen Kritiken sind Ausdruck davon, dass der Koalitionsvertrag ein besonders Kompromisswerk ist: Die CDU musste Zugeständnisse nach rechts machen, um interne Flügelkämpfe zu schlichten und eine Antwort auf die AfD zu finden. Die CSU will ihren rechtskonservativen Provinzialismus in der Regierungspolitik verankern, um in diesem Jahr die bayrischen Landtagswahlen zu gewinnen. Und die SPD musste die „NoGroKo“-Fraktion mit einzelnen sozialen Konzessionen für sich gewinnen, während das Spitzenpersonal der Partei die bisherige Regierungslinie fortsetzen wollte.
Das Ergebnis ist ein Koalitionsvertrag, der zum einen Spiegelbild der Krise der SPD und zum anderen Ausdruck der fehlenden Klarheit der deutschen Bourgeoisie über ihr zukünftiges Projekt ist. In einem Artikel zum Ende der Ära des Merkelismus haben wir gefragt:
Wie kann Deutschland die krisenhafte EU weiterhin hinter sich vereinigen? Wie kann Deutschland, das wirtschaftlich seit Kohl enorm aufgestiegen ist, seine militärische Hürde überwinden? Auch: Wie kann sich die deutsche Kernindustrie erneuern? Wie kann ein Finanz-Kollaps der Deutschen Bank, die in die andauernde weltweite Krise verstrickt ist, verhindert werden? Wie kann die Konstellation der Kapitalblöcke im deutschen Interesse gehalten werden, insbesondere die Balance zwischen USA, EU, Russland und China?
Diese Fragen sind weiterhin unbeantwortet. Doch die Welt dreht sich weiter und mögliche neue Wirtschaftskrisen oder gar ein Handelskrieg mit den USA sowie neue militärische Erfordernisse für das deutsche Kapital werden die Politik der Bundesregierung entscheidend prägen. Die Regierungspolitik der kommenden dreieinhalb Jahre ist deshalb nur zum Teil aus dem Koalitionsvertrag ablesbar.
Dennoch können wir an dem Vertragswerk eine Tendenz ablesen. Die SPD wird vor allem die sozialen Elemente des Vertrags hervorheben, um eine weitere Polarisierung ihrer Basis zu verhindern. Doch die sozialen Zugeständnisse sind verschwindend klein verglichen mit den aktuellen Profiten des deutschen Kapitals. Zudem sollen sie den fortgesetzten Rechtsruck des Regimes überdecken. Im Ergebnis präsentiert uns die Koalition ein klein wenig Zuckerbrot, um uns von der Peitsche abzulenken, die umso stärker zur Anwendung kommen wird, je mehr die Spannungen der Weltwirtschaft und der Geopolitik sich zuspitzen.
Der Koalitionsvertrag: ein Katalog mit wenig Zuckerbrot…
Die sozialen Zugeständnisse belaufen sich zum Großteil auf Belangloses, statt die Abschaffung von Hartz IV auf die Agenda zu setzen, um das Problem der immer größeren Armut anzugehen. So will die Koalition das Kindergeld um 10 Euro pro Kind und Monat im Jahr 2019 und nochmal 15 Euro im Jahr 2021 anheben – das wird voraussichtlich vollständig von der Inflation aufgefressen werden. Die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung werden minimal gesenkt. Das Rentenniveau soll bis 2025 stabil bei 48 Prozent bleiben – soll heißen, die Renten werden sich nicht verschlechtern, aber eine Rentenerhöhung zum Schutz vor Altersarmut gibt es nicht. Die Grundrente gilt auch im neuen Koalitionsvertrag nicht für alle, sondern nur für Menschen, die 35 Beitragsjahre aufweisen können. So werden weiterhin Hunderttausende aus dem Raster fallen und zur Aufbesserung ihrer Mini-Rente Flaschensammeln gehen müssen.
Im Gesundheitsbereich sollen gesetzlich Versicherte zwar wieder stärker den Privatversicherten angeglichen werden, doch die von der SPD geforderte einheitlichen Versicherung für alle wird es nicht geben. Die 8.000 neuen Pflegestellen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts der über 160.000 fehlenden Pflegekräften im Land. Angesichts der Ernennung des Pharmalobbyisten Jens Spahn zum Gesundheitsminister ist leicht zu erkennen, wen die Gesundheitspolitik der kommenden Jahre fördern wird – Beschäftigte und Patient*innen sicherlich nicht.
Die sachgrundlosen Befristungen werden nicht abgeschafft, wie die SPD im Wahlkampf gefordert hatte. Sie werden nur leicht eingeschränkt auf 18 statt bisher 24 Monate, und es gelten künftig stärkere Einschränkungen, wann Unternehmen sachgrundlos befristen dürfen. Doch das Problem sind nicht nur sachgrundlose Befristungen: Gerade im öffentlichen Dienst werden fast 60 Prozent aller Neueinstellungen „mit Sachgrund“ befristet, mit Hinweis auf die Befristung von Haushaltsgeldern. Die neue Regelung kommt in diesem Fall überhaupt nicht zur Anwendung. Ähnlich sieht es in der Privatwirtschaft aus: Als Sachgrund gilt zum Beispiel die Erstanstellung nach dem Ende der Ausbildung oder des Studiums. Im Ergebnis sind über 40 Prozent aller unter 20-Jährigen und 27,4 Prozent aller 20-25-Jährigen befristet beschäftigt, wobei Auszubildende nicht berücksichtigt werden. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des DGB aus dem vergangenen Jahr. Die Einschränkung der sachgrundlosen Befristung ist somit zwar ein richtiger Schritt, aber letztlich nur ein sehr kleiner. Auch das Rückkehrrecht von der Teilzeit in die Vollzeit soll nur unter bestimmten Bedingungen gelten – die Mehrheit der Beschäftigten wird die Regelung gar nicht nutzen können.
Die Mietpreisbremse, die im letzten Koalitionsvertrag als große Errungenschaft gefeiert wurde, dann aber ihre Nutzlosigkeit erwiesen hat, soll verschärft werden. Ob sie dadurch wirksamer wird, ist völlig offen.
… und großer Peitsche
Im Gegenzug zu diesem sozialen Touch schreibt der neue Koalitionsvertrag „Sicherheit“, „Verantwortung“ und Repression ganz groß. 15.000 neue Polizist*innen, 6.000 neue Justizbeamt*innen, der Ausbau von Videoüberwachung und schärfere Regelungen für „Gefährder“ – möglicherweise nach dem Vorbild der „Unendlichkeitshaft“ aus Bayern – so sieht die Handschrift des neuen Innenministeriums aus. Es ist zu erwarten, dass unter der Führung von Horst Seehofer (CSU) auch weitere Befugnisse für Polizist*innen geschaffen werden, wie ebenfalls kürzlich erst in Bayern geschehen. Auch „Extremismuspräventionsprogramme“ sollen ausgebaut werden, was zur noch größeren Einschränkung demokratischer Rechte führen könnte.
Und mit „harter Hand“ wird Seehofer auch gegen Migrant*innen vorgehen. Vor wenigen Tagen stellte er einen „Masterplan“ für mehr Abschiebungen und härtere Asylgesetzgebung vor. Obwohl die SPD sich gegen den Begriff der „Obergrenze“ gewehrt hat, ist im Koalitionsvertrag eine solche vorgesehen: Höchstens 220.000 Asylbewerber*innen sollen pro Jahr nach Deutschland einreisen dürfen. Auch der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz bleibt bis Ende Juli weiter ausgesetzt, danach gilt ebenfalls eine Obergrenze. Asylverfahren sollen künftig in „zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ stattfinden – die Bewegungsfreiheit von Asylbewerber*innen wird also noch weiter eingeschränkt als bisher schon.
Dafür will die Bundesregierung stärker aufrüsten. Die Bundeswehrtruppen in Afghanistan und Mali sollen aufgestockt werden, und der Etat für Verteidigung soll steigen.
Dennoch bleibt das Ziel der „Schwarzen Null“ bestehen, d.h. weiterhin sollen keine neuen Schulden gemacht werden. Doch wenn der Verteidigungshaushalt steigt, wo soll das Geld dann herkommen? Eigentlich gibt es nur eine logische Antwort: Entweder aus anderen Bereichen wie durch Streichung von Sozialleistungen oder durch neue Privatisierungen, die Geld in die Staatskassen spülen. Denn Steuererhöhungen soll es nicht geben. Das Ergebnis ist klar. Die Armen und die Arbeiter*innenklasse werden für die neuen Großmachtansprüche des deutschen Kapitals zahlen müssen.