Der Kampf für das Rentengesetz in Bolivien

04.06.2013, Lesezeit 10 Min.
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// Unterbrechung der größten Aktion der ArbeiterInnen in den letzten zwanzig Jahren //

Nach 15 Tagen wurde der Generalstreik mit seinen Straßenblockaden am Dienstag, dem 21. Mai durch die Central Obrera Boliviana (COB), den bolivianischen Gewerkschaftsdachverband, für 30 Tage unterbrochen. Grundlage ist das Angebot der Regierung von Evo Morales, das Rentenalter für MinenarbeiterInnen von 35 auf 30 Jahre Arbeitsjahre abzusenken und zudem die Pensionen auf der Grundlage der letzten 24 Lohnzettel zu berechnen. Diese Entscheidung wurde von großen Sektoren heftig in Frage gestellt, wie Föderationen der städtischen LehrerInnen und Gruppen von MinenarbeiterInnen und Beschäftigten im Gesundheitssektor, die diese Entscheidung als einen Verrat ihrer Forderung ansahen, 100% des Lohns weitergezahlt zu bekommen. In den nachfolgenden Absätzen versuchen wir die wichtigsten Lehren des Konflikts herauszuarbeiten, und zugleich den neuen politischen Moment, den dieser Konflikt eröffnet, zu verstehen.

Eine Aktion der ArbeiterInnen ohne Beispiel in den letzten zwei Jahrzehnten

Der Ausgangspunkt jeder ernsthaften Analyse des Konflikts ist es, zu erkennen, das diese zwei Wochen in die Welt als „die Maitage“ der bolivianischen ArbeiterInnenklasse eingehen werden. Nicht, weil die ArbeiterInnen kurz davor wären, die Macht zu übernehmen, auch nicht weil das Resultat des Kampfes ein kräftiger und klarer Sieg über die arbeiterInnenfeindliche-Politik der Regierung von Evo Morales und Garcia Linera sein wird, genauso wenig wegen der Zahl der Toten und Verwundeten, die der Konflikt hinterlässt. „Die Maitage“ werden zum Ausgangspunkt, weil sie einen qualitativen Sprung in der Neuzusammensetzung und der Wiederkehr der bolivianischen ArbeiterInnenklasse markieren. Eine Klasse, die mit dem Beginn des neoliberalen Zyklus Mitte der 1980er Jahre eine große Niederlage erlitt, mit zehntausenden Entlassungen, Arbeitslosigkeit, Jobunsicherheit, dem Verlust von gewerkschaftlichen Rechten, dem Ausstieg aus den Gewerkschaften und der Verweigerung der Gefolgschaft der ArbeiterInnen gegenüber der COB und vielen wichtigen Organisationen.

Beginnend mit dieser extrem großen Niederlage vor etwas mehr als 25 Jahren, hatte der Aktivismus der ArbeiterInnenklasse einen defensiven und partiellen Charakter. Außer der Aktion der Huanuni-MinenarbeiterInnen im landesweiten Aufstand vom Oktober 2003 oder der Rolle der ProduktionsarbeiterInnen-Förderation und der COD von Cochabamba während des Wasserkriegs, haben die ArbeiterInnenorganisationen und in weiterem Sinne die ArbeiterInnen nur aufgelöst in der Volks- und Bauernbewegung gehandelt [und nicht als ArbeiterInnen, A.d.Ü.]. Dahingegen ist dieser jüngste Konflikt nicht nur ein weiterer Schritt der Bestrebungen zum Wiederauferstehen der ArbeiterInnen, die in der Rebellion der ProduktionsarbeiterInnen von 2010, den Lohnkämpfen 2011 und 2012 und den mutigen Widerstand der ArbeiterInnen im Gesundheitssektor gegen die Versuche, den Arbeitstag zu verlängern, ihren Anfang nahmen, sondern eröffnet einen neuen Moment in der ArbeiterInnenklasse und verändert die politische Landkarte Boliviens.

Während der 15 Tage des Kampfes besetzten hunderttausende ArbeiterInnen zwischen 35 und 40 Blockadepunkte auf den Nationalstraßen, es gab massive Mobilisationen in jedem einzelnen Departamento. Die Streiks von LehrerInnen, GesundheitsarbeiterInnen und bei einigen Minenfirmen, wie auch FabrikarbeiterInnen zeigten, dass das soziale Subjekt, das für tot und erledigt erklärt worden ist, am Leben ist und beginnt, eine Kampffähigkeit zurückzuerlangen, die in den zwei Jahrzehnten nicht zu sehen war. LehrerInnen, MinenarbeiterInnen, FabrikarbeiterInnen, Beschäftigte des öffentlichen Gesundheitswesens, öffentliche Angestellte und verschiedene Gruppen marschierten und kämpften zusammen überall im Land, zusätzlich dazu, dass sie an einigen Orten begannen, ihre Maßnahmen zu radikalisieren.

Diese große unabhängige ArbeiterInnenaktion rief die Wut der Regierung von Evo Morales und Gacia Linera hervor und motivierte eine McCarthyistische Attacke gegen die ArbeiterInnen, wie das Verbot von Streiks, die Gefangennahme von mehr als 400 ArbeiterInnen an verschiedenen Orten des Landes, die strafrechtliche Verfolgung von dutzenden GenossInnen, einschließlich des Hausarrests für Vladimir Rodriguez, Exekutivsekretär der COD von Oruro, die Diffamierungskampagne gegen die FührerInnen und gegen den Kampf, mit Verschwörungs- und Putsch-Vorwürfen bis hin zu Verleumdungen und Verdrehungen gegen die sozialistische und revolutionäre Linke, die das Banner des Trotzkismus führt, zeigen. Die Regierung von Evo Morales und Garcia Linera mussten in der Taktik Zuflucht nehmen, die Organisationen der indigenen und Kleinbauern-Bürokratie zu mobilisieren, um gegen die Kraft der ArbeiterInnen vorgehen zu können. Nur in Zeiten einer tiefgehenden nationalen Krise hat die MAS darauf zurückgreifen müssen, die BäuerInnen und Bauern zu manipulieren.

Das Auftauchen der politischen Opposition der ArbeiterInnenklasse

Mit diesem Konflikt wurde die unterstützende Rolle der Regierung von Evo Morales für UnternehmerInnen und die Wirtschaft aufgedeckt. Evo Morales weigerte sich systematisch, den Beitrag der UnternehmerInnen zu den Renten zu erhöhen. Die MAS verhinderte, dass der Beitrag der Regierung erhöht wurde, und erhielt den Kern des neoliberalen Rentensystems, das auf individuellem Beitrag und Kapitalisierung basiert. Für diesen reaktionären Grund nutzte es alle möglichen Mechanismen von Repression, Lügen und Fälschungen bis hin zum Versuch, eine Gruppe der Armen gegen die andere auszuspielen, indem man Gruppen der Landbevölkerung gegen die Bockaden der ArbeiterInnen mobilisiert. In diesem Konflikt ist es die Regierung selbst, die eine ArbeiterInnen-Opposition gegen die Regierung konsolidiert, eine Opposition, die während der letzten Monate einen sozialen und gewerkschaftlichen Charakter hatte, aber nach solch einem Kampf verändert und konsolidiert als politische linke Opposition zur MAS steht.

Wenn die ArbeiterInnen vor ein paar Monaten die Gründung der ArbeiterInnenpartei diskutierten, ist nach diesem jüngsten Kampf klar, dass es nicht nur eine Notwendigkeit sondern von größter Dringlichkeit ist, dass diese neue politische Formation der ArbeiterInnen ein Ausdruck der Tendenzen zur Reorganisation jener ArbeiterInnen ist, die bewiesen haben, dass die Lohnabhängigen und die städtischen und ländlichen Armen nichts von der MAS-Regierung zu erwarten haben.

Einige Lehren des Kampfes: Wenn die KapitalistInnen nicht zahlen, zahlen wir ArbeiterInnen!

Der Konflikt war ein schwieriger, nicht nur weil er gegen eine starke Regierung geführt werden musste, die einen Geldregen genießt, welche einigen Studien zufolge in den letzten 5 Jahren soviel Devisen eingebracht hat, wie die Regierungen in 25 Jahren vor Evo Morales zusammen. Eine Regierung, die es als Ergebnis von formal-demokratischen Zugeständnissen sogar schafft, die Vorherrschaft über weite Teile der Bäuerinnen und Bauern, der GewerkschafterInnen und der städtischen Armen zu behalten und aufzubauen, was ermöglichte, den großen Streik der COB auf die Lohnabhängigen und einige Zeichen allgemeiner, aber passiver Sympathie beschränkt zu halten. Gegenüber dieser Szenerie waren die FührerInnen der von ihnen entfesselten Bewegung nicht gewachsen, waren verängstigt von der Größe der Mobilisierung und versuchten, die Bewegung auf extrem passive Maßnahmen zu begrenzen, wie beispielsweise die „Mahnwachen“, die die Avantgarde der MinenarbeiterInnen erschöpften und zermürbten. Zusätzlich verhinderten sie, all die Kräfte und Energie von tausenden ArbeiterInnen, die täglich in den Konflikt eintraten, zu formieren.

In erster Linie wurde eine Politik benötigt, die aufzeigte, dass die Regierung nicht die Interessen der ärmsten Bevölkerung verteidigte, wie sie öffentlich behauptete, sondern dass sie die Interessen der Konzerne und KapitalistInnen verteidigte. Die Führung der COB beschränkte ihre Forderung auf die Regierungsbeiträge, wobei es notwendig gewesen wäre, klar die Wiedereinführung der UnternehmerInnen-Beiträge zu fordern, die einst von Sánchez de Losada beseitigt worden waren, was Evo Morales übernahm. Zweitens war es nötig, zu zeigen, dass die „Rente der Würde“ in Wirklichkeit eine unwürdige Rente ist, wenn es ums Überleben geht, weil es niemand mit der Summe von 250 Bolivianos [etwa 27,80 €] schaffen kann. Es war notwendig, das gewerkschaftliche eigennützige Verhalten zu überwinden, offen in die politische Arena zu gehen und aufzuzeigen, dass es nötig ist, für eine universelle Rente entsprechend dem Mindestlohn zu kämpfen. Diese Politik hätte hunderttausenden BäuerInnen und Bauern, sowie städtischen Armen gezeigt, das Evo Morales lügt, dass er nicht die ärmsten Menschen verteidigt, sondern die KapitalistInnen, denn eine universelle Rente könnte nur durch klare antikapitalistische Maßnahmen und finanziert von den Reichen garantiert werden. Solch eine Politik hätte geholfen, die Isolation der ArbeiterInnen zu brechen und hätte dem Kampf neue Truppen aus der Bevölkerung zugeführt. Zuletzt und an dritter Stelle hätten diese Maßnahmen und Forderungen nur genutzt, wenn der Kampf Formen demokratischer Organisation angenommen hätte, basierend auf den ArbeiterInnen an der Basis, die diejenigen waren, die alle Maßnahmen des Kampfes ausführten. Es war notwendig, ein Nationales Streikkomitee zu bilden, welches auf der Wahl von Delegierten in den Versammlungen basiert und offen für alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ist. Dies hätte die Führung des Konflikts verbreitern und demokratisieren, die COB stärken und die Politik von Trujillo beschränken können, dessen Herangehensweise auf der Furcht vor Mobilisierungen basiert, auf erschöpfenden Mahnwachen und auf einem Dialog, der niemals im Dienste der ArbeiterInnen stand.

Vorwärts mit der ArbeiterInnenpartei, einer alternativen politischen Organisation der ArbeiterInnenklasse

Das Ergebnis des Konflikts aktiviert eine neue Reflexionsebene der Avantgardesektoren der ArbeiterInnen. Der Schlüssel ist nicht Demoralisierung, sondern Reflexion und Wut gegenüber einer Regierung, der tausende ArbeiterInnen ihr Vertrauen und ihre demokratischen und sozialen Sehnsüchte geschenkt haben. Am kommenden 28. und 29. Juni wird im Departamento Oruro der Zweite Kongress der ArbeiterInnenpartei stattfinden, wo die Dokumente, denen in Huanuni zugestimmt wurde, bestätigt werden sollten, sowohl gegen die Versuche, die am antikapitalistischsten Aspekte der Partei zu verwässern, als auch zu bekräftigen, dass diese Partei der organische Ausdruck der Gewerkschaften und der ArbeiterInnen sein sollte. Während der 15 Tage Streik haben wir darauf bestanden (und schrieben einen Brief an die provisorische Leitung der ArbeiterInnenpartei), dass die Partei in den Konflikt eingreift. Denn wir wollen eine Partei, die neben der Teilnahme an den Wahlen 2014 grundsätzlich eine Klassenkampf-Partei ist, das heißt, eine kämpfende Partei der ArbeiterInnenklasse. Unglücklicherweise unterwarf sich die provisorische Führung der Logik, die gewerkschaftliche Intervention in den Kampf vom notwendigen politischen Kampf zu trennen, was die Verteidigung des Kampfes angesichts der Angriffe der MAS schwächte. Angesichts der zeitlichen Nähe des Kongresses, hat der dargestellte Kampf mit der Notwendigkeit zu tun, das beschränkte eigennützige Verhalten zu überwinden, um ein Programm der ArbeiterInnen aufzustellen, für all die Unterdrückten und Ausgebeuteten des Landes, wie die Pulacayo-Thesen empfahlen.

Ein Programm dass all die Armen ansprechen wird, zum Beispiel durch: eine universelle Rente, die wirklich würdevoll ist, die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der ursprünglichen Völker, wie jene in der TIPNIS, die Vergabe von Land für die Bauern-Bewegung, die sich nach 7 Jahren von Evo Morales‘ Regierung immer noch gezwungen sieht, Ländereien im Osten zu besetzen, weil Evo Morales und Garcia Linera am Großgrundbesitz festhalten. Diese grundlegenden Maßnahmen sollen der ArbeiterInnenklasse ermöglichen, einen Sprung aus ihrer aktuellen Position einer ArbeiterInnen-Opposition zur MAS zur Erlangung der Hegemonie über die gesamte unterdrückte Nation zu vollführen und schließlich die Klasse zu werden, die die Bäuerinnen und Bauern und die Armen anführt. Nur auf dieser Grundlage wird es möglich sein, den Weg frei zu machen für eine tiefgründige soziale Umwälzung, die nur die sozialistische und proletarische Revolution sein kann.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 23. Mai 2013 hier auf Spanisch.

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