Der Genozid an den Armenier:innen
Am 24. April 2023 jährt sich der Völkermord an den ArmenierInnen zum 113. Mal – und wird immer noch geleugnet. Er bildete die Grundlage für die Gründung des türkischen bürgerlichen Nationalstaates und die Entstehung der türkischen Bourgeoisie.
Im Jahr 1915, während des ersten Weltkriegs, wurden 1,5 Millionen ArmenierInnen ermordet. Dieser Völkermord bildete die Basis für die Gründung des türkischen bürgerlichen Nationalstaates. Die blutige Konfiszierung armenischen, pontusgriechischen, assyrerischen und aramäerischen Eigentums diente als Grundlage zur Schaffung der türkischen Bourgeoisie. In den Geschichtsbüchern steht, dass der Völkermord am 24. April 1915 seinen Anfang fand, als Talat Pascha, der Innenminister und Führer der JungtürkInnen1, in Istanbul die Verhaftung der führenden VertreterInnen der ArmenierInnen anordnete. Dabei geschah der Völkermord nicht plötzlich, sondern vor dem Hintergrund einer Regimekrise mit systematischen Massakern an den ArmenierInnen.
Die Politik der Osmanen in der Periode des Niedergangs
Als Abdülhamid ΙΙ. im Jahr 1876 den Thron bestieg, befand sich das Osmanische Reich aufgrund zahlreicher Aufstände und ineffektiver Freihandelsabkommen mit den europäischen Staaten in einer ökonomischen und politischen Krise. Ein Jahr nach seiner Machtübernahme gerieten die Osmanen in einen Krieg mit dem zaristischen Russland. Der Krieg endete mit der Niederlage für die Osmanen, wodurch sie durch den Friedensvertrag von San Stefano 1878 de facto den gesamten europäischen Raum an Russland verloren.
Die britischen und französischen ImperialistInnen aber waren mit der neuen Machtkonstellation im Balkan unzufrieden. Sie versuchten die Zersetzung des Osmanischen Reiches zu beschleunigen und schlossen im Jahr 1878 in Berlin einen Vertrag, der ihren Einfluss auf die Region verstärkte. Er enthielt den Artikel 61 über die Minderheitenfrage, der Reformen und Autonomie für die ArmenierInnen versprach, welche allerdings nie erfüllt wurden. Vor dem Hintergrund einer dauerhaften ökonomischen und politischen Krisensituation organisierten sich die ArmenierInnen in Istanbul und Ostanatolien, inspiriert von den sozialrevolutionären Narodniki in Russland. Sie versuchten ihre Befreiung mit individuellen Terroraktionen durchzusetzen.
Erste Massaker an den ArmenierInnen fanden von 1894 bis 1896 statt, als bis zu 300.000 ArmenierInnen mit Hilfe von kurdisch, turkmenisch und yörükisch geprägten Hamidije-Truppen ermordet wurden. Das eigentliche Ziel von Sultan Abdülhamid ΙΙ. war die Beendigung der Aufstände und die Bewahrung seiner Macht. Selbstverständlich wurden die Hamidije-Truppen für den blutigen Dienst von dem Sultan belohnt. Sie plünderten das Eigentum der ArmenierInnen, vergewaltigten, folterten und mordeten. Daher bekam Abdülhamid ΙΙ. den Namen „roter Sultan“, vom vergossenen Blut der ArmenierInnen.
Leo Trotzki analysierte die Lage wie folgt: „Auf dem Berliner Kongress widmete Europa Mazedonien den Paragraphen 23 und Armenien den Paragraphen 61, die beiden Ländern Reformen versprachen. Und obwohl sich Europa das Recht vorbehielt, die Einführung dieser Reformen zu überwachen, verschlechterte sich die Lage in den genannten Gebieten mit jedem Jahr mehr und führte sogar mehrmals zu blutigen Aufständen, da die Durchsetzung der Reformen der Türkei selbst überlassen blieb. […] Anstelle der weitreichenden Reformen, die dieses Memorandum den Armenien versprochen hatte, ergossen sich über die Armenier die Greuel einer neuen Welle von Massenvernichtungen.“2
Die bürgerliche Revolution von 1908
Die Jungtürken, nationalistisch gesinnte Militäroffiziere, organisierten sich im Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF) als Opposition gegen die Zerstückelung des Reiches durch die imperialistischen Mächte und das feudale Regime des Sultans, das sich als unfähig erwies, das Land aus der ökonomischen und politischen Krise herauszuholen. Eine Zeit lang waren die in der II. Internationale organisierten armenischen Daschnaken Teil der jungtürkischen Bewegung. Sie schlossen sich im Jahr 1907 gegen Sultan Abdülhamid ΙΙ. dem KEF an. Die Aufstände gegen den Sultan endeten im Jahr 1908 mit der bürgerlichen konstitutionellen Revolution.
Die bürgerliche Revolution wurde zunächst von nichtmuslimischen Minderheiten begrüßt, da sie die Erfüllung bürgerlich-demokratischer Forderungen versprach. Die Jungtürken zielten in der Außenpolitik auf die Zurückeroberung türkischer Gebiete ab, um sich von dem Druck der imperialistischen Mächte zu befreien. Nach den landesweiten Wahlen eroberten sie die Macht und entmachteten de facto den Sultan, auch wenn sie ihn nicht absetzten und offiziell die konstitutionelle Monarchie vertraten.
Die Daschnaken forderten nach der bürgerlichen Revolution unter anderem die Auflösung der Hamidije, Bewegungsfreiheit in den armenischen Gebieten, den Rückzug aller Dekrete von 1894 bis 1908, die gegen ArmenierInnen erlassen worden waren, und die Freilassung aller armenischer Gefangenen. Das KEF akzeptierte alle Forderungen der Daschnaken und die ArmenierInnen erhielten sogar im Jahr 1909 einige von den Hamidije besetzte Grundstücke zurück.
Doch die bürgerliche Revolution allein konnte keine Antwort auf die Instabilität des Regimes, den Einfluss der Imperialismen, die Ausbeutung und die Unterdrückung finden. Trotzki analysierte 1909 die Phase der bürgerlichen Revolution: „Die Jungtürken haben den Zenit ihres Einflusses erreicht. Im Parlament besitzen sie die Mehrheit. Ein Jungtürke ist Vorsitzender. […] Ihre Aufgaben nach (wirtschaftliche Selbstständigkeit, national-staatliche Einheit und politische Einheit) ist die türkische Revolution die Selbstbestimmung der bürgerlichen Nation und knüpft in diesem Sinne an die Traditionen von 1789-1848 an. Das ausführende Organ der Nation war jedoch die Armee, die von Offizierskorps geführt wurde, – und das verlieh den Ereignissen sofort den planmäßigen Charakter von militärischen Manövern. […] Alle lange unterdrückten sozialen Leidenschaften treten nunmehr offen zutage, da das Parlament für sie ein Zentrum geschaffen hat. Bitter enttäuscht werden diejenige sein, die denken, die türkische Revolution sei zu Ende. Und zu den enttäuschten wird nicht nur Abdul-Hamid gehören, sondern offenbar auch die Partei der Jungtürken.“3
Das Land befand sich in einer tiefgehenden Regimekrise und daraus entstanden politische Differenzen innerhalb der Jungtürken, die Spaltungen und weitere Massaker verursachten. Die Unruhe gegenüber der nationalistischen Außenpolitik der Regierung auf dem Balkan nahm zu, Korruption und fraktionelle Kämpfe (zwischen AnhängerInnen des deutschen und britischen Imperialismus) verschärften sich. In der Periode von 1911 bis 1913 brachen im Parlament mehrfach Konflikte zwischen dem KEF und der liberalen Freiheits- und Einigkeitspartei aus. Da das KEF unter der Führung von Said Pascha nicht mehr regierungsfähig war und nur mittels Gewalt und Korruption die Wahlen gewann, bildete sich in der Armee eine kräftige Gruppe, die die Regierung des KEF von der Macht entfernte.
Das Triumvirat als Hauptakteur
Die bürgerliche Revolution von 1908 verlor trotz einiger progressiver Elemente sehr schnell ihre Errungenschaften, da kein politischer Akteur über die kulturell-ethnischen Dimensionen hinaus ein demokratisches Programm aufstellte, das die Interessen der ArbeiterInnen und der Bauernschaft unbefleckt von nationalistischem Gift vertrat, auch nicht die ArmenierInnen. Die Fraktionen innerhalb des KEF verfolgten einen nationalistischen und zentralistischen Kurs, ohne dabei mit dem Imperialismus zu brechen, während die armenischen Daschnaken entweder mit individuellen Terroraktionen oder Aufrufen an die Imperialismen die Befreiung Armeniens erreichen wollten.
Da die türkische Regierung in den Balkankriegen eine massive Niederlage erlitt und die armenischen Gruppen aufgrund der Abrechnung mit dem KEF nur noch einen nationalistischen Kurs fuhren, nutzte das KEF die aufgeheizte Atmosphäre des Landes zugunsten seiner nationalistischen Interessen und übernahm die Macht mit einem Militärputsch im Jahr 1913. Der Hauptakteur dieses Putsches war ein Triumvirat bestehend aus Enver Pascha, Talat Pascha und Cemal Pascha, die einen pan-türkischen und pan-islamischen Kurs verfolgten und keine Lebenschance für die ethnischen und religiösen Minderheiten gewährleisteten.
Die Autonomie-Forderungen der Daschnaken wurde in dieser Phase als Separatismus bewertet und mit Verrat gleichgesetzt. Das Triumvirat entwickelte gute Beziehungen zum deutschen Imperialismus, der dadurch seinen Einfluss auf das Land vergrößerte. So wurden türkische Offiziere von den Deutschen ausgebildet und der Generalfeldmarschall „Goltz-Pascha“ forcierte unter Absprache mit Kriegsminister Enver Pascha die Aufrüstung der Armee durch deutsche Rüstungsexporte. Sowohl in Istanbul als auch im Osten spielte der deutsche Imperialismus eine entscheidende Rolle in der türkischen Armee und der Regierung. Die TürkInnen beteiligten sich am ersten Weltkrieg an der Seite des deutschen Reichs gegen das zaristische Russland.
Die Niederlage gegen Russland bei der Schlacht von Sarikamis im Januar 1915 brachte große Verluste auf der osmanischen Seite mit sich. Da armenische Gruppen auf der Seite Russlands am Krieg beteiligt waren, begann das Triumvirat gezielte Aktionen gegen die ArmenierInnen durchzuführen. Am 24. April wurden hunderte armenische KünstlerInnen, PolitikerInnen und Intellektuelle zur Deportation nach Ankara festgenommen und zu Tode gefoltert. Die Regierung vertrieb landesweit mindestens zwei Millionen ArmenierInnen aus ihren Häusern und zwang sie zu langen Fußmärschen nach Syrien. Währenddessen wurden sie gefoltert, vergewaltigt, an MuslimInnen verkauft und ermordet. Viele verhungerten oder erkrankten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Am 27. Mai 1915 verabschiedete die türkische Nationalversammlung ein Deportationsgesetz, das die Konfiszierung des Eigentums der ArmenierInnen beinhaltete, worauf sich die türkische Bourgeoisie stützt. Mindestens 1,5 Millionen ArmenierInnen fanden innerhalb von kurzer Zeit den Tod.
Fußnoten
1. Die Jungtürken organisierten sich im Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihad ve Terraki).
2. Leo Trotzki: Die Zersetzung der Türkei und die armenische Frage. In: Die Balkankriege 1912-13. Essen 1996. S. 275-276.
3. Leo Trotzki: Die neue Türkei. In: Ebd.. S. 27-29.