Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

07.02.2012, Lesezeit 6 Min.
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Wir erleben gerade den dritten Versuch des deutschen Imperialismus in den letzten 100 Jahren, die eigene Herrschaft über ganz Europa durchzusetzen.

Nachdem zwei Weltkriege – und die dadurch verursachte Barbarei – für das deutsche Kapital ungünstig ausgegangen sind, befinden wir uns nun am vorläufigen Höhepunkt eines langfristigen wirtschaftlichen und politischen Prozesses zur Etablierung einer Europäischen Union unter deutscher Führung oder, anders ausgedrückt, einer deutschen Hegemonie in Europa. Dieser Prozess ist jedoch riesigen Widersprüchen ausgesetzt.

Diese Widersprüche sieht man im Ausland: Auf Plakaten in Athen wird Merkel mit Hitler verglichen, und auch wenn es keine PartisanInnen im griechischen Gebirge gibt, machen die ArbeiterInnen und Jugendlichen mit massenhaften Streiks und Steuerboykottkampagnen die von der Troika (EU, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) diktierten Sparpläne schwer umsetzbar. Auch andere imperialistische Mächte unterwerfen sich der deutschen Führung nur, wenn keine andere Alternative zum völligen Zusammenbruch des Euros in Aussicht ist – und selbst dann sind Episoden wie der NATO-Krieg gegen Libyen, als die europäischen Großmächte Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien entgegengesetzte Politik betrieben, unvermeidlich.

Diese Widersprüche gibt es aber im geringeren Ausmaß auch im eigenen Land: Es war die ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die mit sinkenden Reallöhnen sowie zunehmender Prekarisierung diesen Prozess und den Aufstieg des „Exportweltmeisters“ finanzierte. Es wird die ArbeiterInnenklasse sein, die ausgequetscht wird, um die ungeheuren Summen für die Rettung des Euros aufzutreiben. Unsicherheit über deren Widerstand ist auch eine Ursache für anhaltende Wirbel innerhalb der politischen Elite – seien es die Reibungen in der schwarz-gelben Koalition oder die Skandale um einen Bundespräsidenten nach dem anderen.

Schließlich existiert auch noch die Gefahr, dass dieser Plan scheitert und Deutschland die Europäische Union damit in den Abgrund reißt. Doch egal wie dieser Drang der deutschen Bourgeoisie nach europäischer Vorherrschaft auch ausgehen sollte, die Konsequenzen werden die Lohnabhängigen in Deutschland und europaweit tragen müssen.

Diese Widersprüche in Europa sind nichts Neues. Sie basieren letztendlich auf dem Widerspruch zwischen Nationalstaaten mit ihren engen Grenzen einerseits und einer Wirtschaftsordnung, die längst über diese Grenzen hinausgewachsen ist, andererseits. Bereits während des Ersten Weltkrieges propagierten revolutionäre MarxistInnen angesichts der Unfähigkeit der KapitalistInnen, Europa zu vereinigen, die Notwendigkeit einer sozialistischen Föderation. Nach 100 Jahren militärischer und (zumindest offiziell) friedlicher Versuche ist die Unfähigkeit der KapitalistInnen nur noch deutlicher geworden, womit die Losungen von damals aktueller denn je sind: Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!

Als zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine chauvinistische Welle über Europa hereinstürzte, stellte der Internationalist Karl Liebknecht 1915 in einem Flugblatt die Losung auf: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“[1] Heute erleben wir erste Ansätze einer solchen Welle, vor allem in Form der Hetze gegen die „faulen GriechInnen“ und andere Formen von Rassismus und Xenophobie. In Deutschland gehen wichtige – vor allem privilegierte – Teile der ArbeiterInnenklasse davon aus, dass eine Fressorgie des „eigenen“ Imperialismus in Südeuropa zumindest einige fette Krümel hinterlassen wird. Das ist auch seit jeher das Programm der Gewerkschaftsbürokratie mit ihrer Standortlogik.

Doch ein starker deutscher Imperialismus wird gerade zu Hause Löhne und Arbeitsbedingungen beim ersten Anlass angreifen. Nur ein konsequenter Antiimperialismus sowie eine bedingungslose Solidarität mit den ArbeiterInnen in Griechenland, Portugal, Irland usw. wird die Rechte der ArbeiterInnen hierzulande verteidigen können.

Auch im „Herzen der Bestie“ sehen wir einige Ansätze für Widerstand, so vor allem die prekarisierten Beschäftigten im beispielhaften Streik an der Chartié Facility Management (CFM) in Berlin, oder auch – in geringerem Maße – die Studierenden im bundesweiten Bildungsstreik.

Wir verstehen es als unsere Aufgabe als RevolutionärInnen, nicht nur diese Ansätze für Widerstand zusammenzuführen, sondern sie auch für ein klares revolutionäres Programm zu gewinnen. Bewegungen wie „Occupy“, deren Ruf in wenigen Monaten um die Welt ging, sind an einem Punkt angekommen, wo die Frage der programmatischen Weiterentwicklung eine existenzielle Bedeutung gewinnt. Und die aktuellen Ereignisse in der arabischen Welt – insbesondere in Ägypten – zeigen uns auch, in welche Richtung dies geschehen muss: Die ArbeiterInnenklasse betritt die politische Bühne und deutet mit anhaltenden Streiks den Beginn einer stürmischen Epoche an.

Vorstellungen, dass die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ohne strukturierte Organisationsformen, Gewerkschaften und revolutionäre Parteien fundamental geändert werden könnten, werden angesichts der verschärften Klassenauseinandersetzungen und der beginnenden Intervention der ArbeiterInnenklasse als Eintagsfliegen in die Geschichtsbücher eingehen. Stattdessen müssen wir gerade jetzt die Lehren der marxistischen Tradition wieder aktualisieren.

Denn die Aufgaben sind ähnlich wie zur Zeit der letzten großen kapitalistischen Krise. Schon 1929 schrieb der russische Revolutionär Leo Trotzki: „In der Person der [Linken] Opposition warnt die Avantgarde des europäischen Proletariats ihre aktuellen Herrscher: Um Europa zu vereinen, müssen wir zuerst die Macht aus euren Händen reißen. Wir werden das tun. Wir werden Europa vereinen. Wir werden es gegen die feindliche kapitalistische Welt vereinen. Wir werden es in ein mächtiges Trainingslager des militanten Sozialismus verwandeln. Wir werden es zum Grundpfeiler der Sozialistischen Weltföderation machen.“[2]

Mit dieser Zeitschrift wollen wir dazu beitragen, genau dieses Programm aufzugreifen und damit die fortschrittlichsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse und der Jugend in Deutschland auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen in dieser neuen Epoche vorbereiten. Die neuen Bewegungen müssen mit dem alten „Gespenst“ (wie Marx einst den Kommunismus nannte) vereint werden.

Fußnoten

[1]. Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! (Mai 1915).

[2]. Leo Trotzki: Disarmament and the United States of Europe. (Eigene Übersetzung.)

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