Der Gigant in der Krise

17.11.2015, Lesezeit 8 Min.
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BRASILIEN: Die einstige Hoffnungsträgerin der Schwellenländer befindet sich in einer scharfen wirtschaftlichen und politischen Krise. Während die Regierung immer stärker gegen die Arbeiter*innen vorgeht, mobilisiert die rechte Opposition auf den Straßen gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Welche Antwort muss die revolutionäre Linke geben?

Massendemonstrationen für und gegen die Regierung der „Arbeiter*innenpartei“ (PT). Warnungen vor einem Militärputsch. Rufe nach impeachment (Amtsenthebung) der Präsidentin.

Die Stimmung im lateinamerikanischen Giganten Brasilien war in den letzten Monaten extrem aufgeheizt. Die vor knapp einem Jahr wiedergewählte Präsidentin Dilma Rousseff wurde in kurzer Zeit zur unbeliebtesten Präsidentin der Geschichte des Landes. Das liegt vor allem an dem Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Öl- und Gaskonzern Petrobras, in den vor allem die PT, aber auch ihr Koalitionspartner PDMB und die neoliberale Oppositionspartei PSDB, sowie die Spitzen der größten Bauunternehmen verwickelt sind. Diese politische Krise wird begleitet von der schärfsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten.

Denn der einstige Wirtschaftsmotor Lateinamerikas wird heute vom Ende des Booms der Rohstoffpreise, sowie vom verlangsamten Wachstum der chinesischen Wirtschaft hart getroffen. Für dieses Jahr erwarten Expert*innen einen Rückgang des BIPs von 2,3 Prozent. Damit verlangsamt sich die brasilianische Ökonomie im fünften Jahr in Folge. Alleine die Petrobras-Affäre soll die Wirtschaft um einen Prozentpunkt verlangsamt und zu 50.000 Entlassungen in der Bauindustrie geführt haben.

Seit Jahresbeginn wurde eine Million Arbeiter*innen gefeuert, die Inflation schießt in die Höhe und die brasilianische Währung Real verlor über 40 Prozent ihres Wertes im Vergleich zum Dollar. Und die Regierung setzt mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie Kurzarbeit in der Autoindustrie durch, die die Konzerne für Lohnkürzungen belohnt. All diese Entwicklungen treffen die Arbeiter*innenklasse hart.

Scharfe Regierungskrise

Daraus entsteht die schärfste Krise, die die PT-Regierung seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2003 erlebt hat. Die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage hat allerdings einen widersprüchlichen Einfluss auf die Situation: Die großen Kapitalist*innen, die hinter der rechten Opposition stehen, suchen die Einheit mit der Regierung für ein Programm von Sparmaßnahmen und Kürzungen, um diese Krise auf die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen abzuwälzen.

Die rechte Opposition und die bürgerlichen Medien wollten die Regierungskrise für ihre Zwecke ausnutzen und schürten deshalb eine Kampagne für ein Amtsenthebungsverfahren. Im Frühjahr brachten sie so über eine Million Menschen gegen die Regierung auf die Straße. Manche Stimmen forderten sogar einen Militärputsch. Aktuell besteht jedoch ein fragiles Gleichgewicht zwischen der Opposition und der Regierung, getragen von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Antwort der Bourgeoisie auf die Wirtschaftskrise.

Von unten wird dieses fragile Gleichgewicht bedroht von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die jederzeit neuen Widerstand der Massen gegen die Maßnahmen der Regierung hervorbringen kann. Damit bleibt die im Juni 2013 eröffnete Etappe – das Ende des Zyklus der „progressiven“ PT-Regierung – weiterhin bestehen. Der wichtigste Vermittlungs- und Stabilitätsfaktor des brasilianischen Regimes, nämlich die „Arbeiter*innenpartei“, wankt.

Kampfprozesse im ganzen Land sorgen für eine breite Politisierung, dennoch ist der Klassenkampf nicht auf der Höhe der Krise. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass die regierungstreue Gewerkschaftsbürokratie der CUT und anderer Gewerkschaften weiterhin die Kontrolle behalten. Gleichzeitig zeigen aktuelle Streikbewegungen wie die der Arbeiter*innen von Petrobras für mehr Lohn und gegen die Privatisierung, dass die Situation explosiv werden könnte.

Links von der Regierung

Angesichts der Krise der PT entsteht links von der Regierung ein breiter Raum für Politisierung. Deshalb erließ die Regierung gemeinsam mit der Opposition eine restriktive Reform des politischen Systems, mit der Parteien der Arbeiter*innen die Teilnahme an Wahlen enorm erschwert wird. Vieles sprach in den letzten Monaten dafür, dass die PSOL („Partei Sozialismus und Freiheit“), ein reformistisches Wahlbündnis, von der Krise der PT profitieren könnte. In der Tat versuchen ihre führenden Sektoren sich jedoch immer stärker von links an die PT anzubiedern und mit ihr ein klassenversöhnlerisches Programm durchzusetzen.

So baut die PSOL-Mehrheit nun eine gemeinsame Front mit Regierungssektoren auf: die „Front des Volkes ohne Angst“ („Frente Povo Sem Medo“, FPSM) unter Führung der Gewerkschaftsbürokratie der CUT. Bei ihrer ersten Sitzung Ende Oktober beschloss die FPSM eine Kampagne gegen den erzkonservativen Präsidenten des Abgeordnetenhauses Eduardo Cunha von der PDMB, der stark in den Petrobras-Skandal verwickelt ist. Gleichzeitig reden sie aber überhaupt nicht mehr von der PT und Dilma Rousseff, die Sparmaßnahmen und antidemokratische Reformen durchsetzt.

Wenn die PSOL weiterhin in der FSPM bleibt, entscheidet sie sich für einen Pakt mit der PT. Damit verliert die PSOL immer mehr ihre Eigenschaft, eine klar abgegrenzte Strömung links von der Regierung zu sein. Die PSOL muss deshalb schnellstmöglich mit dieser Politik brechen und sich aus der FPSM zurückziehen.

Die zweite große Gruppe links von der Regierung ist die „Vereinigte Sozialistische Arbeiter*innenpartei“ (PSTU), die die größte regierungskritische Gewerkschaft CSP Conlutas anführt. Sie wird zwar als unabhängig von der Regierung und verbunden mit den Kämpfen angesehen. Doch beschränkt sie sich auf eine syndikalistische Ausrichtung und kann die Anti-PT-Stimmung deshalb auf der politischen Ebene genauso wenig kanalisieren.

Welche Antwort auf die Krise?

Demgegenüber ist es dringend notwendig, einen klassenkämpferischen Pol aufzubauen und auf der Straße und in den Betrieben der PT-Regierung entgegenzutreten. Anstatt vor dem vermeintlich „geringen Übel“ zu kapitulieren und sich Pro-Regierungs-Sektoren wie der CUT-Bürokratie anzubiedern, gilt es, eine von der Regierung und den Rechten unabhängige politische Kraft der Arbeiter*innen aufzubauen. Ein solcher alternativer Pol könnte zu unabhängigen Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen aufrufen und die CUT-Gewerkschaften dazu auffordern, mit der Regierung zu brechen und einen Kampfplan gegen die Kürzungen aufzustellen.

Angesichts der Korruptionsskandale und des Vertrauensverlustes in die politische Kaste sind auch radikaldemokratische Forderungen zentral, wie die Begrenzung der Löhne aller politischen Funktionär*innen auf den durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn, die ständige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionär*innen, die Ersetzung des Zweikammersystems durch ein einheitliches Parlament, die Abschaffung des Präsidentenamts und die Forderung nach einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung. Diese Forderungen ermöglichen den Massen, eine Erfahrung mit der bürgerlichen Demokratie zu machen und beinhalten gleichzeitig Grundlagen einer alternativen Staatsmacht der Arbeiter*innen, wenn sie mit einer Perspektive der Machtübernahme der mobilisierten Arbeiter*innenklasse verbunden werden.

Eine revolutionäre Alternative

Unsere brasilianische Schwesterorganisation, die „Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen“ (MRT), tritt für diese Perspektive ein. Eine neue Generation von kämpferischen Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und LGBT*-Menschen hat in und mit der MRT in der letzten Periode wichtige Erfahrungen machen können.

Sie intervenierten bei zentralen Arbeitskämpfen wie dem langen Streik der nicht-akademischen Beschäftigten der Universität São Paulo, bei Volkswagen, General Motors oder den Lehrer*innen von São Paulo und Paraná. Gleichzeitig organisieren sie die klassenkämpferische feministische Gruppierung Pão e Rosas, die kürzlich bei einem Treffen über 400 Frauen und LGBT*-Menschen zusammenbrachte. Ihre digitale Tageszeitung Esquerda Diário (Teil des lateinamerikanischen Netzwerkes von linken Tageszeitungen La Izquierda Diario) wurde innerhalb von wenigen Monaten zur größten Website der brasilianischen Linken und verwandelte die MRT zu einem landesweiten Bezugspunkt innerhalb der Avantgarde der Arbeiter*innen und Linken.

Um einen weiteren Schritt zur Beeinflussung einer sich politisierenden und radikalisierenden Avantgarde zu gehen, hatten die Delegierten des MRT-Kongresses vor einigen Monaten beschlossen, mit einem Programm für einen revolutionären Pol in die PSOL einzutreten. Da sich die PSOL als eine breite Wahlfront definiert, die offiziell offen für alle sozialistischen Tendenzen ist, sahen die Genoss*innen der MRT eine Möglichkeit, für die eigene strategische und programmatische Perspektive zu kämpfen und die landesweite Bekanntheit der PSOL auszunutzen, um neue Arbeiter*innen und Jugendliche zu erreichen.

Der aktuelle Pro-Regierungs-Kurs der PSOL macht diese Perspektive jedoch zunichte. Nachdem die MRT ihr Eintrittsgesuch stellte, hatte sich eine große Welle der Unterstützung von zahlreichen Intellektuellen, gewerkschaftlichen Aktivist*innen, Abgeordneten, politischen Strömungen und hunderten Basisaktivist*innen entwickelt. Die PSOL-Leitung verwehrte der MRT jedoch den Eintritt als Organisation, während sie gleichzeitig kein Problem damit hat, Mitglieder bürgerlicher Parteien in ihre Reihen aufzunehmen. Sie entlarvt damit einerseits ihre eigene klassenversöhnlerische Politik und zeigt andererseits, wie sehr sie sich vor einer wirklichen revolutionären Alternative fürchtet.

Diese kann jedoch nur darin bestehen, das Ende des Zyklus‘ der PT konsequent mit einer Politik des Klassenkampfs und des Aufbaus einer unabhängigen Kraft der Arbeiter*innen und der revolutionären Jugend gegen die falsche Wahl zwischen Regierung und rechter Opposition zu beantworten.

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