Der Fall von Raqqa: Kein Ende des syrischen Bürger*innenkriegs in Sicht

19.10.2017, Lesezeit 5 Min.
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Die Demokratischen Kräfte Syriens haben offiziell den Fall von Raqqa verkündet. Was sind die politischen und militärischen Bedeutungen dieses Ereignisses für den syrischen Bürger*innenkrieg und die Situation in der Region?

Diesen Dienstag haben die Demokratischen Kräfte Syriens offiziell den Fall von Raqqa verkündet, der Hauptstadt des vom Islamischen Staats (IS) 2014 ausgerufenen Kalifats. Die Eroberung von Raqqa hat vor allem für den Kampf der USA gegen den IS einen propagandistischen Wert. Die militärische Bedeutung dahinter ist jedoch begrenzt und reicht nicht aus, um dem blutigen syrischen Bürger*innenkrieg ein Ende zu setzen, der nun schon sieben Jahre andauert.

Die Stadt besteht nach der viermonatigen brutalen Schlacht, in der tausende Zivilist*innen durch die Bombardements der USA starben, nur noch aus Schutt und Asche. Sie war einst das Horrorsymbol des IS, wo er Enthauptungen und Erschießungen mit großer öffentlicher Wirkung durchführte.

Der Islamische Staat gewann im März 2013 die Kontrolle von Raqqa und vertrieb und übernahm so verschiedene Fraktionen der „Rebellen“ der Freien Syrischen Armee und der Al-Nusra-Front, die in Verbindung mit Al-Qaida steht. Diese hatten in der ersten Etappe des Bürger*innenkriegs die Regierungstruppen von Bashar al Assad besiegen können.

Die Proklamation des Kalifats war gleichzeitig der Höhepunkt der militärischen Offensive des IS und zog Zehntausende Kämpfer in ihre Reihen, die aus 84 Ländern kamen. Ungefähr 3.000 Menschen kamen alleine aus Europa.

Doch seit Beginn 2015 trat der IS in einen Niedergang, von dem er sich nicht erholen konnte. Dies lässt sich auf die doppelte Offensive der Allianz zwischen Moskau, Iran und dem syrischen Regime von Assad einerseits und der US-Verbündeten andererseits zurückführen. Unter den Alliierten der USA vor Ort lassen sich die radikalen kurdischen Milizen der YPG hervorheben, die nach dem Sieg gegen den IS in Kobanê ihre taktische Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Seite vertieften.

Vor der Niederlage in Raqqa wurde der IS schon aus Mossul nach einer blutigen Schlacht von der irakischen Armee vertrieben. Damit hat das Kalifat praktisch aufgehört zu existieren. Man schätzt, dass die Milizen des IS weiterhin die Kontrolle über kleine Bereiche an der irakisch-syrischen Grenze und einigen Zonen im Süden in der Provinz Deir al-Zour haben, die unter der Kontrolle des syrischen Regimes mit Unterstützung von Russland und dem Iran steht.

Die Schwächung des IS beendet jedoch den Konflikt nicht, sondern könnte eine neue Etappe in dem vielschichtigen syrischen Bürger*innenkrieg eröffnen, der durch wechselnde und widersprüchliche Allianzen und die Einmischung von Regionalmächten bestimmt wird, die ihre Rivalitäten durch lokale Milizen austragen.

Die aktuelle Situation deutet darauf hin, dass die Diktatur von Assad fürs erste ihr Überleben mit Hilfe von Russland, dem Iran und den Hizbollah-Milizen gesichert hat. Doch ihre Kraft reicht noch nicht aus, um die Bedingungen für eine mögliche Nachkriegs-Verhandlung zu stellen.

Donald Trump hat trotz seines provokativen persönlichen Stils die Grundlinie von Obama beibehalten: die Niederlage des IS in den Vordergrund stellen, die Arbeitsteilung von Russland-Iran hinzunehmen, mit Luftschlägen zu intervenieren und am Boden die taktische Allianz mit den kurdischen Milizen aufrecht erhalten.

Doch die Analyse der möglichen Perspektiven, die aus dieser Situation erwachsen, ist weitaus komplizierter. Irak hat der Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistans den Krieg erklärt. In einem Referendum, das am 25. September abgehalten wurde und von der regierenden Demokratischen Partei Kurdistans angetrieben wurde, stimmten mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit.

Mehrere Akteur*innen stellen sich gegen die mögliche Gründung eines unabhängigen kurdischen Staats, obwohl sie sich an anderen Fronten gegenüberstehen. Zu ihnen gehört die Patriotische Union Kurdistans, die andere kurdische Partei im Irak, die Regierung in Bagdad, der Iran, die Türkei und die USA. Während die YPG-Milizen den Sieg in Raqqa feierten, marschierte die irakische Armee in Kirkuk ein, dem Zentrum der kurdischen Gebiete im Irak und eine der ölreichsten Zonen im Land.

In Syrien, aber hauptsächlich im Irak, nährten sich radikale Milizen wie der IS aus der sunnitischen Bevölkerung, die von der Macht ausgeschlossen war, auch wenn das Ziel dahinter nur die Bekämpfung der eigenen Feind*innen war. Zahlreiche Analysen zeigen, dass viele Offiziere der ehemaligen Armee von Saddam Hussein dem IS beitraten. Heute sind wieder keine Sunnit*innen unter den Gruppen, die Mossul und Raqqa kontrollieren: die schiitische irakische Armee und die Kurd*innen.

Die Situation, die der reaktionäre syrische Bürger*innenkrieg hinterlassen hat, ist katastrophal: mindestens 400.000 Tote, zwölf Millionen Vertriebene und eine nie dagewesene Zerstörung, die den Gewinner*innen paradoxerweise Gewinne in Höhe von 226 Milliarden US-Dollar bescheren könnte. Dazu kommt das Erbe des Terrors, der bis ins Herz Westeuropas in Form von terroristischen Attentaten vordringen konnte. Diese verstärkten eine Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und die migrant*innenfeindlichen Gesetze der rechten und rechtsextremen Parteien Europas.

Daraus lässt sich schließen, dass die Bedingungen, die zum Aufstieg des IS geführt haben, fortbestehen und sich verschärft haben. Die US-amerikanische Intervention Irak und ihre Politik des „Regime change“ haben den inner-islamischen Konflikt zwischen Schiit*innen und Sunnit*innen zugespitzt und diesen Zusammenstoß für sich genutzt. Trump hat die alten Verbindungen zur saudischen Monarchie und Israel wiederbelebt. Trumps Versuch, das Atomabkommen mit dem Iran abzuwerten oder sogar auszutreten, ist Teil dieser strategischen Optionen, in deren Zentrum ein aufkommender Militarismus steht, um den Verfall der US-amerikanischen Hegemonie zu beenden.

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