Der Chauvinismus der Jungle World zur katalanischen Unabhängigkeit
Die Zeitung Jungle World lehnt die katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ab und versucht, sie bloßzustellen. Warum das eine chauvinistische Haltung ist, die bekämpft werden muss.
Durch die lang andauernde Wirtschaftskrise und die Spardiktate aus Berlin, Brüssel und Madrid, die von der Regionalregierung in Barcelona mitgetragen wurden, erhält die Frage der Unabhängigkeit eine soziale Dimension. Gewiss hat die katalanische Regierung die Unabhängigkeitsbewegung auch mitgetragen, um von ihrer eigenen Rolle bei der Durchsetzung der Austerität abzulenken. Und hier liegt der Knackpunkt für die Jungle World: Der katalanische Nationalismus, in dem Arbeiter*innen und bürgerliche Führung vermeintlich gemeinsam Madrid gegenüberstünden, könne wohl nicht progressiv sein.
Die „antideutsche“ Ablehnung des Nationalismus
Gaston Kirsche stellt in der Jungle World, dem ideologischen Organ der pro-israelischen „Antideutschen“, fest, dass das heutige spanische Regime aus der Diktatur Francos erwachsen ist. Daraus schlussfolgert er aber nicht, dass der katalanische Nationalismus eine fortschrittliche Rolle einnehmen könnte. Er beißt sich am Begriff des Volkes, den er im katalanischen Fall durch die Einschlusskriterien Arbeitswilligkeit und Patriotismus definiert. Folglich dürften sich Linke im Kampf gegen die spanische Zentralregierung nicht der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung anschließen:
Romantisierung des katalanischen Unabhängigkeitsstrebens ist also nicht gerechtfertigt; stattdessen sollten Linke auf eine Umwälzung der Machtverhältnisse in ganz Spanien hinarbeiten. Nicht der Separatismus ist links, sondern der gesamtspanische Kampf gegen den zentralistischen spanischen Nationalismus. Oder wie es der Sprecher der linksalternativen Partei Podemos, Pablo Iglesias, ausdrückte: für den Bruch mit dem Regime von 1978!
Der Autor der Jungle World beruft sich ausgerechnet auf Iglesias, der die einseitige Unabhängigkeitserklärung als „illegal“ und zuletzt die aufgezwungenen Neuwahlen in Katalonien durch die spanische Zentralregierung als „demokratische Lösung“ bezeichnet hatte. Tatsächlich strebt Iglesias keinen Bruch mit dem Regime von 78 an, sondern eine Erneuerung unter vermeintlich progressiven Vorzeichen.
Der Kampf gegen das spanische Regime und die europäische Austerität kann nicht auf katalanischem Boden gewonnen werden. Vielmehr müssen die Arbeiter*innen im gesamten spanischen Staat gegen ihre Regierung aufstehen, unterstützt von der internationalen Arbeiter*innenklasse. Doch dem katalanischen Nationalismus eine progressive Rolle abzusprechen, bedeutet, die dialektische Entwicklungen von Krisen und revolutionären Erhebungen zu ignorieren und letztlich sich an der Seite der Unterdrückenden zu positionieren.
Gewiss ging es der bürgerlichen Führung um Carles Puigdemont mit der Aufnahme der Forderung nach Unabhängigkeit vor allem darum, Verhandlungsspielraum gegenüber der Zentralregierung in Madrid zu gewinnen. Aber dieses bürgerliche Projekt erklärt keineswegs die Begeisterung der Massen, die sich in andauernden Mobilisierungen, einem Generalstreik am 3. Oktober und der Gründung von Versammlungen in Vierteln, Schulen und Universitäten zeigte. Die Massen sind mit ihren Forderungen längst über die bürgerliche Führung hinausgegangen, was sich in der Flucht von Puigdemont nach Belgien und seiner Weigerung zeigt, den Prozess mit Mobilisierungen weiterzuführen.
Gaston Kirsche steht mit seiner Kritik am katalanischen Nationalismus exemplarisch für eine ganze Richtung der (anti-)deutschen Linken. Statt konkrete Phänomene des Klassenkampfes wie die katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen, stellt er Abstraktionen von Staat und Kapital auf:
Eine moderne linke Subversion kann nicht mehr auf die Eroberung der Staatsmacht oder nationbuilding in einem abzuspaltenden Nationalterritorium abzielen, sondern nur noch auf die Zersetzung des Staates und des Kapitalverhältnisses.
Aber der Klassenkampf ist nicht immer eine offenen Auseinandersetzung von Kapital und Arbeit. Durch die ungleiche Entwicklung auf internationalem Terrain, durch den Verrat von reformistischen und bürgerlichen Führungen und die Spaltungen der Arbeiter*innen in ihrem Bewusstsein und der Organisierung, nimmt der Klassenkampf Umwege, die sich im Falle Kataloniens im Aufflammen der nationalen Frage ausdrücken.
Nationale Frage und revolutionäre Dialektik
Der Klassenkampf in Katalonien hat mit der Platzbesetzungsbewegung und den Kampagnen gegen Zwangsräumungen im Widerstand gegen die Spardiktate ab 2011 große Mobilisierungen erlebt. Nachdem die Arbeiter*innenklasse sich nicht an die Spitze dieser Bewegungen stellen konnte und sie von reformistischen Parteien in die Institutionen des bürgerlichen Staates kanalisiert wurde, ebbten die Mobilisierungen ab. Doch damit waren die grundsätzlichen sozialen Fragen nicht gelöst. Auch unter Barcelonas neuer Bürger*innenmeisterin, der Mieter*innenaktivistin Ada Colau von der Wahlplattform Barcelona en Comú, gingen Polizeirepression und Zwangsräumungen weiter.
Die Aktualität der Unabhängigkeitsbewegung ist Ausdruck der Krise des spanischen Staates und des europäischen Austerität-Regimes. Die katalanischen Massen suchen nach einem Ausweg aus der Krise. Nur ist das Proletariat ohne revolutionäre Partei unorganisiert und aktuell nicht in der Lage die Führung im sozialen Kampf zu übernehmen. Die Lösung der sozialen und demokratischen Aufgaben blieb in den Händen der kleinbürgerlichen Führung, die mittels des Referendums Druck für Verhandlungen mit der EU und der Zentralregierung machen wollte. Die fortgeschrittensten Sektoren in Katalonien wissen genau, dass die Versprechungen des Ausgleichs zwischen katalanischer und spanischer Regierung keine Früchte tragen werden. Doch unter den fortwährenden Angriffen der Zentralregierung erkennen sie, dass sie das Heft in die eigene Hand nehmen müssen, um ihr demokratischen Recht zu verteidigen, nicht vom postfaschistischen Regime von 78 ausgebeutet und unterdrückt zu werden.
So haben sich zum Beispiel zwei Organisationen von Geflüchteten geäußert, die die Unabhängigkeit unterstützen, um sie von unten mit aufzubauen und dabei keinerlei Illusionen in die bürgerliche Führung von Puigdemont haben:
Deshalb wollen wir klar stellen, dass wir ein Gedächtnis haben und wir vergessen nicht, das wir weder die spanische Regierung noch die Generalität unterstützen werden, weil sie für uns zwar zwei Regierungen sind, die das gleiche Gesicht haben, die darum konkurrieren, wer mehr Migranten jagt, einsperrt oder ausweist.
Hier zeigt sich der dialektische Charakter der nationalen Frage: Das Selbstbestimmungsrecht beabsichtigt die Überwindung der politischen Ungleichheit unter den Nationen. Allerdings versucht das Selbstbestimmungsrecht nicht, die ökonomische Ungleichheit zu lösen, was im Rahmen des Kapitalismus sowieso unmöglich ist. Doch die marxistische Anleitung bedeutet nicht auf den Sozialismus zu warten und bis dahin die Aufgaben zu verlagern. Im Gegenteil: Die Nationen und Nationalstaaten sind untrennbare Bestandteile des Kapitalismus und wir glauben, dass jede unterdrückte Nation das Recht auf politische Gleichheit hat. Denn das nicht zu tun, bedeutet in der Praxis, von der Unterdrückung zu schweigen und in den Sozialchauvinismus zu fallen.
Das Selbstbestimmungsrecht also ist eine Kunst des Internationalismus, die zeigt, dass die Arbeiter*innen und Revolutionär*innen, die der unterdrückenden Nation angehören, in der Praxis gegenüber den Unterdrückten beweisen können, dass sie nichts mit dem unterdrücken Staat und der unterdrückenden Bourgeoisie gemeinsames vertreten. Die Losung „die Arbeiter*innen haben kein Vaterland“ konkretisiert sich in der Praxis, wenn die Arbeiter*innen der unterdrückenden Nation das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation verteidigen, also dem eigenen Staat und der Bourgeoisie den Kampf erklären. Dieser Kampf bereitet dem geschwisterlichen Zusammenleben der Völker unter der Voraussetzung des gemeinsamen Kampfes gegen den Kapitalismus und Imperialismus den Boden.
Die nationale Frage ist immer konkret: Dort, wo die Unabhängigkeitsbestrebung den Ausgebeuteten und Unterdrückten die Möglichkeit eröffnet, den Kampf gegen ihr Joch aufzunehmen, stehen wir ihr das uneingeschränkte Recht zu, ohne Vorbedingung über den künftigen Charakter eines neuen Staates, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Dort, wo sich die Bewegung in einen sozialen und demokratischen Kampf gegen die Regierung verwandelt, stehen wir hinter ihr, als ein Pol, der für die Interessen der Arbeiter*innen und Unterdrückten kämpft. Da die Bürgerlichen um Puigdemont geflohen sind, ist die Arbeiter*innenklasse die einzige Kraft, die nicht nur die Unabhängigkeit verteidigen kann, sondern auch in der Lage ist, eine mögliche katalanische Republik mit sozialen und demokratischen Errungenschaften zu erkämpfen.
Der Chauvinismus spielt der spanischen Zentralregierung in die Hände
Um diesen Weg wirklich zu gehen, ist die Arbeiter*innenklasse im restlichen spanischen Staat und Europa aktuell zu passiv. Auch wenn es in vielen Städten Solidaritätskundgebungen gab, so gibt es keine Schritte, die Repressionsmaschine des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy aufzuhalten. Sollte die Zentralregierung den Widerstand in Katalonien brechen, drohen weitreichende reaktionäre Maßnahmen.
Allein schon deswegen ist es notwendig, die Legitimität der Unabhängigkeitserklärung nicht nur anzuerkennen, sondern die Bewegung aktiv zu unterstützen. Die Kräfte der Linken im spanischen Staat wie Podemos, Izquierda Unida oder die bürokratischen Spitzen der Gewerkschaftsverbände CCOO und UGT, die eine einseitige Unabhängigkeit nicht anerkennen, stellen sich damit auf die Seite Rajoys. Im Falle einer Niederlage der katalanischen Bewegung wird ihr Chauvinismus mit dafür verantwortlich sein, dass Rajoy auch die Arbeiter*innen im restlichen spanischen Staat stärker unterdrücken kann.
Die ablehnende Haltung geht in eine ähnliche Richtung. Eine fortschrittliche Verhandlungslösung unter Vermittlung der EU, die voll auf der Seite Rajoys steht, ist genauso utopisch, wie die Berufung auf die spanische Verfassung oder das Völkerrecht, die letztlich nur im Interesse der spanischen Zentralregierung angewendet werden. In dem Moment, in dem die katalanischen Massen von der bürgerlichen Führung im Stich gelassen wurden, brauchen sie mehr denn je die Unterstützung der Linken und der internationalen Arbeiter*innenklasse. Eine Berufung darauf, dass die Begriffe Volk oder Nation reaktionär seien und die Unabhängigkeitsbewegung deswegen nicht unterstützt werden solle, zeigt die Ignoranz der „Antinationalen“ , die sich weigern, die konkrete Unterdrückung durch den spanischen Staat anzuerkennen.