Der Bildungsstreik

24.06.2010, Lesezeit 65 Min.
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// Hintergründe, Bilanz und Perspektiven der bundesweiten Proteste von SchülerInnen, Studierenden und Azubis – Broschüre von der FT-CI und RIO (Broschüre Nr. 8) //

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Am 9. Juni 2010 gingen laut Angaben des Bildungsstreikbündnisses in ganz Deutschland wieder mehr als 80.000 SchülerInnen, Studierende und Azubis auf die Straße, um ihrem Unmut über das herrschende Bildungssystem Ausdruck zu verleihen[1]. Aber schon die Vorbereitungen für diesen Tag liefen – besonders an den Unis – schlechter als bei den letzten Bildungsstreiks, und so ist es denn auch kein Wunder, dass dies in vielen Städten und auch insgesamt der kleinste der bisherigen Bildungsstreiks war.

Wir, AktivistInnen der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI) und der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), wollen uns genauer mit dieser Bewegung von Studierenden, SchülerInnen und Auszubil- denden auseinandersetzen (insbesondere dem Höhepunkt im letzten Winter) und aufzeigen, welche Gründe es für die bisherige Entwicklung gab, welche Richtung die Proteste in den nächsten Monaten nehmen sollten und welche Strategie wir für notwendig halten, um der Bewegung mehr Stärke und Durch- setzungskraft zu verleihen. Denn ganz offensichtlich hat sich bisher nicht viel getan, was die Umsetzung der Forderungen der Protestierenden angeht. Doch bevor wir genauer auf die Stärken, Schwächen und notwendigen nächsten Schritte der Bildungsstreikbewegung eingehen, wollen wir kurz nachzeichnen, was in den letzten Monaten und Jahren überhaupt passiert ist.

Hintergründe und Chronik der Ereignisse

Die aktuelle Bildungsstreikbewegung begann im Sommer 2006 in Berlin, als sich einige SchülerInnen zusammensetzten, um etwas gegen die katastrophalen Zustände an den Berliner Schulen zu unternehmen. Neben der Unterfinanzierung der Schulen war der Hauptkritikpunkt der SchülerInnen die soziale Auslese, die durch das gegliederte Schulsystem stattfindet. Schon im Alter von 10 oder 12 Jahren werden die Kinder auf ihren späteren Lebensweg festgelegt, indem sie bestimmten Schultypen zugewiesen werden. Dabei ist vorgeblich nur die eigene Leistung entscheidend (was die SchülerInnen schon früh auf den harten Konkurrenzkampf auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt vorbereiten soll). Besonders auffällig ist dabei jedoch, dass beispielsweise Kinder aus ArbeiterInnenfamilien eine durchschnittlich 13,9 Mal schlechtere Chance haben, das Gymnasium zu besuchen als AkademikerInnenkinder. Selbst bei „gleicher“ Leistung kommen AkademikerInnenkinder 4,5 Mal häufiger auf das Gymnasium [2].

Diese Zahlen zeigen eindrücklich, dass der Zugang zu höherer Bildung vor allem von der Klassenzugehörigkeit abhängt. Daneben zeigen sich weitere massive Diskriminierungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die so durch die Schule hervorgebrachte soziale Selektion setzt sich auf der Uni durch weitere Zugangsbeschränkungen wie Numerus Clausus, Studiengebühren, Einschränkungen für Nicht-Deutsche und die Bachelor/Master-Hürde weiter fort [3].

Der erste Schulstreik in Berlin, der am 13. September 2006 stattfand, war mit bis zu 10.000 TeilnehmerInnen ein für alle Beteiligten völlig überraschender Erfolg. In den folgenden drei Jahren fanden sechs Schulstreiks in Berlin sowie ähnliche Aktionen in Städten wie Dresden oder Potsdam statt. Im Mai/Juni 2008 kam es zum ersten bundesweiten Schulstreik mit rund 30.000 DemonstrantInnen – beim zweiten im November des gleichen Jahres waren es bereits 100.0000. Fortwährend gab es Bemühungen, Studierende in die Aktionen einzubeziehen (der Begriff „Bildungsstreik“ entstand schon Mitte 2008), was aber erst im Sommer 2009 massenhaft gelungen ist [4].

Im Juni 2009 gingen in ganz Deutschland mehr als 250.000 SchülerInnen, Studierende und Auszubildende auf die Straße, um gegen die desaströse Situation im Bildungssystem zu protestieren. Die Hauptforderungen richteten sich gegen das Bachelor/Master-System, gegen Studiengebühren und sonstige Gebühren für Bildung, gegen immer weiter wachsenden Leistungsdruck und für eine Ausfinanzierung des Bildungssystems. Vereinzelt wurde auch die Frage der sozialen Selektion im Bildungssystem thematisiert [5].

Diese Proteste wurden trotz ihrer Größe von den Herrschenden weitgehend ignoriert oder ihnen bestenfalls die Legitimität abgesprochen. Die Protestierenden ließen sich dadurch jedoch nicht entmutigen und gingen am 17. November 2009 wieder massiv auf die Straße. Wenn diesen Protesten mit 90.000 Jugendlichen auch wesentlich weniger als im Juni zuvor folgten, so waren sie den Juni-Protesten in ihrer internen Dynamik dennoch überlegen [6].

Im Gegensatz zu vergangenen Protesten, bei denen politische Gruppierungen weitgehende Vorbereitungskampagnen durchführten, gingen den Novemberprotesten spontane Besetzungen von Fakultäten und Hörsälen voraus. Die Welle an Kämpfen begann Mitte Oktober im beschaulichen Wien und breitete sich sodann wie ein Lauffeuer zunächst über Österreich aus, bis schließlich der Funke auch auf Deutschland übersprang. Am Höhepunkt der Bewegung waren hierzulande bis zu 70 Fakultäten und Hörsäle besetzt.

Das Beispiel Freie Universität Berlin

Beispielhaft für die Bildungsstreikbewegung wollen wir beschreiben, wie die Proteste an der Freien Universität (FU) Berlin verlaufen sind, da wir von RIO die Geschehnisse v.a. dort „live“ mitverfolgen und teilweise mitgestalten konnten und somit größeren Einblick in die Dynamik der Ereignisse hatten als anderswo – das bedeutet natürlich auch, dass dies nur ein Ausschnitt aus einer breiteren Vielfalt an Protesten ist, aber aufgrund vieler ähnlicher Berichte aus anderen Städten glauben wir, dass die Berliner Erfahrung ein Stück weit verallgemeinerbar ist.

Wie viele andere Universitäten in Deutschland und Europa wurde die FU am 11. November ohne große Vorbereitung besetzt – ausschlaggebend waren dabei eher die Besetzungen in Österreich als die laufenden Bildungsstreikvorbereitungen, die es auch gab [7]. Dies zeigte einerseits, wie akut die Probleme des Bildungssystems waren (und sind), führte aber andererseits dazu, dass es keine abgestimmten Forderungs- und Aktionspläne gab, an die die Besetzenden sich halten konnten. Hier und da wurde zwar auf die Forderungen vom Juni zurückgegriffen (die weiterhin den Tenor des Protestes darstellten), aber oftmals wurden völlig neue, riesige Forderungskataloge erstellt, die – wie im Falle der FU – mehr als 100 Forderungen enthielten und von Detail-Forderungen wie längeren Öffnungszeiten für einzelne Bibliotheken bis zur Abschaffung des Bachelor/Master-Systems reichten. Bezeichnenderweise wurde allerdings nicht die Abschaffung des Numerus Clausus gefordert, der eine der größten Hürden gegen breiteren Zugang zu höherer Bildung darstellt. Forderungen, die über die Universität hinaus gingen, gab es kaum – geschweige denn solche, die über das Bildungssystem als Ganzes hinaus gingen.

Dies war kein Versehen, wie man meinen könnte, sondern von einem Großteil der Besetzenden beabsichtigt: In dem Versuch, die Proteste so breit und so offen wie möglich zu gestalten, um so viele Studierende wie möglich für die Besetzung zu gewinnen, wurde ein Minimalkonsens zur Grundlage der Aktionen gemacht, der explizit nicht über den Bildungsrahmen hinausgehen sollte. Im Zuge dessen wurde verschiedenen politischen Gruppen, darunter auch RIO, die Verteilung ihres Materials zuerst im Hörsaal, dann später auch in Sichtweite des Hörsaals untersagt, damit ja kein Eindruck aufkomme, dass diese Gruppen den Protest „für sich vereinnahmen“ würden. Ebenso sollte es keine politische Werbung geben, die sich nicht auf den Bildungsstreik bezieht oder den Namen von bestimmten Gruppen trägt. Auf den Vollversammlungen war es zwar durch Redebeiträge noch möglich, Forderungen zu erheben, die den Minimalkonsens überschritten, aber der Großteil solcher Forderungen wurde immer wieder mit der Bemerkung quittiert, dass es ja „nur um die Bildung“ ginge und wir „nicht zu radikal sein“ dürften, weil wir sonst andere Studierende „abschrecken“ würden.

Dies soll nicht heißen, dass es überhaupt nicht möglich war, weitergehende politische Perspektiven aufzuzeigen – hin und wieder gab es politische Veranstaltungen im besetzten Hörsaal (u.a. von uns), die andere Perspektiven ansprachen; ebenso gab es Arbeitsgruppen (AGs), die sich um die Verbindung von Bildungsprotesten mit anderen sozialen Protesten sorgten (wie z.B. die AG Arbeitskämpfe, in der RIO mitarbeitet und die immer noch existiert [8]). Dennoch war im Kontext der Bildungsproteste an der FU eine antikapitalistische Perspektive keine Selbstverständlichkeit, sondern eher die Ausnahme.

Zu Beginn der Besetzung gab es wöchentliche Vollversammlungen und täglich mehrere Besetzungsplena, aber die Bereitschaft zur Teilnahme an beiden sank im Laufe der Zeit rapide, so dass es schlussendlich nur noch einen kleinen Kern von BesetzerInnen gab. Dies hatte unseres Erachtens mehrere Gründe: Zunächst gab es von Anfang an keine klare Perspektive, wie die Ziele des Bildungsstreiks zu erreichen seien, sodass sich immer wieder von neuem die Frage stellte, wie weit die Proteste gehen dürften, und viele Diskussionen wurden hundertfach wiederholt, was die Entschlossenheit der Protestierenden schwächte – sowohl der ständigen wie auch derjenigen, die nur sporadisch vorbeischauten. Zudem war der strategische Sinn der Aufrechterhaltung der Hörsaalbesetzung eher schleierhaft: Schließlich entstanden für die Unileitung kaum Unannehmlichkeiten, und die wenigen Vorlesungen, die in den ersten Tagen durch die Besetzung ausfielen, konnten schnell verlegt werden.

Die Perspektive der Besetzung war von Anfang an eher darauf ausgelegt, eine Verhandlungslösung mit dem Uni-Präsidium zu finden, was sich vor allem daran zeigte, dass der ständig schrumpfende Kern der Bildungsstreikenden mehr und mehr dazu überging, die wenigen Kräfte auf die Abhaltung von Runden Tischen zur Erörterung von Minimalforderungen zu konzentrieren, statt die Proteste anderweitig auszudehnen.

Es gab einige Ansätze für eine Ausweitung der Bildungsstreikbewegung auf die ArbeiterInnenbewegung. BesetzerInnen an der Uni Stuttgart solidarisierten sich mit den Beschäftigten von Daimler in Sindelfingen, bedroht von der Verlagerung der Produktion. Sie schrieben in einer Resolution: ihr kämpft für die „Arbeitsplätze für die Beschäftigten von morgen, also für die SchülerInnen und Studierenden von heute“ [9]. Solche Ansätze gab es auch an der FU mit der Unterstützung des Streiks der GebäudereinigerInnen und mit der Teilnahme am Warnstreik der Mensa-Beschäftigten. So konnte an einem Tag die größte Mensa der FU vollständig blockiert werden, wodurch ein enormer Schaden für die Geschäftsführung entstand [10]. Die AG Arbeitskämpfe, die diese Proteste mitorganisiert hat, entschied sich im Anschluss an die Blockade der Mensa für eine kontinuierliche Basisarbeit unter den Beschäftigten und interveniert seitdem regelmäßig mit Betriebsflugblättern und versucht, die Selbstorganisierung der Mensa-Beschäftigten voranzutreiben.

Diese Ansätze blieben aber vereinzelt, und so wurde der Bildungsstreik auch außerhalb des besetzten Hörsaals kaum wahrgenommen. Am Morgen des 14. Februar 2010 wurde der besetzte Hörsaal der FU schlussendlich geräumt [11].

Nach dem langsamen Auslaufen der Bildungsstreikproteste an der FU und auch bundesweit durch Erschöpfung und eine fehlende Perspektive waren im Vorfeld der jüngsten Bildungsstreikdemos am 9. Juni 2010 zumindest in Berlin kaum Mobilisierungsanstrengungen gemacht worden, sodass bis wenige Tage vor der Demo nicht ein einziges Mobilisierungsplakat o.Ä. zu sehen war. Dies erklärt auch, warum die Demo am 9. Juni vor allem durch SchülerInnen, die eher kurzfristig mobilisierbar sind, getragen wurde, und kaum Studierende auf der Demo anwesend waren.

Selektion im deutschen Schulsystem

Selektion findet bereits im Kindesalter statt, in vielen Bundesländern nach der 4. Grundschulklasse, in einigen nach einer „Erprobungsstufe“ nach dem 6. Schuljahr. Obgleich die Auslese laut BildungspolitikerInnen und BefürworterInnen des Systems auf Intelligenz und Leistung beruht und sie angeblich eine gezielte Förderung sowie Hinführung auf das spätere Beruf- bzw. Studienleben ermöglicht, spiegelt sie in der Wirklichkeit die Klassenzugehörigkeit vieler SchülerInnen wider und garantiert ihre Reproduktion: nach wie vor sind ArbeiterInnenkinder sowie die Söhne und Töchter von MigrantInnen an deutschen Gymnasien stark unterrepräsentiert. ArbeiterInnenkinder haben es bei gleicher Intelligenz und Leistung fast fünfmal so schwer, von Lehrenden für Gymnasien empfohlen zu werden, wie Kinder der Oberschichten.

Die institutionelle Diskriminierung gegenüber Kindern aus ArbeiterInnenfamilien verstärkt sich, wenn diese einen sogenannten Migrationshintergrund haben: Im Kindergarten werden „tendenziell (…) mehr Kinder mit Migrationshintergrund zurückgestellt. (…) Auch beim Übergang nach der vierten Klasse wird das Herkunftsmilieu für eine Nichtempfehlung für das Gymnasium herangezogen. Insgesamt verweisen die Lehrkräfte auf ungünstige häusliche Lernbedingungen, auf ein Zuwenig an Mitarbeit der Eltern sowie auf sprachliche Defizite.“ [1]

Dabei ist die Definition von Migrant-Sein sehr dehnbar. Nach der im Mikrozensus, der amtlichen Repräsentativstatistik in Deutschland, angewandten Definition „umfasst die Bevölkerung mit Migrationshintergrund sowohl ausländische als auch deutsche Staatsbürger. Darunter sind etwa zugewanderte und in Deutschland geborene Ausländer, Spätaussiedler, Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung sowie deren Kinder, die selbst keine unmittelbare Migrationserfahrung aufweisen. Personen mit Migrationshintergrund sind entweder selbst zugewandert oder gehören der zweiten bzw. dritten Generation an.“ [2] Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit „Migrationshintergrund“ (15 Millionen EinwohnerInnen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund) besucht Haupt- und Gesamtschulen, die v.a. in städtischen Ballungszentren ihrer v.a. berufsqualifizierenden Funktion nicht mehr nachkommen können und vielmehr zu bloßen Verwahranstalten geworden sind.

Strukturprobleme in Schulen

Schwindende SchülerInnenzahlen und das nicht mehr zu vertuschende Scheitern v.a. der Hauptschulen führt in einigen Bundesländern zu einer Zusammenfassung von Haupt- und Realschulen. Es ist jedoch zweifelhaft, dass diese Versuche zur ansatzweisen Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems, hinter denen sich zudem häufig der Wille zu weiteren Einsparungen verbirgt, zu erhöhtem schulischen Erfolg und zu besserer Vorbereitung auf das Berufsleben führen werden und die zunehmende emotionale und soziale Verwahrlosung vieler SchülerInnen aufhalten können. „Trotz der allgemeinen zehn-jährigen Schulpflicht und dem sehr differenzierten Bildungssystem in Deutschland verlassen 8% der Schüler die Schule ohne Abschluss – das waren im Jahr 2006 etwa 75.000 Schülerinnen und Schüler.“ [3] Davon gelingt es etwa einem Fünftel eine Ausbildung anzuschließen. „Etwa ein Viertel schafft es noch nicht einmal eine Erwerbstätigkeit zu finden. Die Arbeitslosenquote in dieser Gruppe ist mit etwa 25% die höchste in ganz Deutschland.“ [4]

Trotz der vollmundigen Versprechungen, in das Bildungssystem zu investieren, liegen die Klassengrößen auch in „Problemschulen“ bei über 30 SchülerInnen; „individuelle Förderung“ – hierbei handelt es sich um eines der Schlagwörter in der aktuellen, von den MinisterialbürokratInnen vorangetriebenen Bildungsdebatten – ist unter diesen Bedingungen nur schwer möglich. PsychologInnen und SozialpädagogInnen, die bei Lernschwierigkeiten und familiären bzw. persönlichen Problemen unterstützen könnten, sind nach wie vor nur an wenigen Schulen in unzureichender Anzahl vorhanden.

Während somit die Mehrheit der SchülerInnen von vorneherein in ihren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten stark eingeschränkt ist – die Unterschiedlichkeit der Lernweise sowie die sehr verschiedenen lehrplanmäßigen Anforderungen an den verschiedenen Schulformen erschweren einen Schulformwechsel, d.h. die Durchlässigkeit des Systems nach oben hin ist kaum vorhanden.

Leistungsdruck als Keule zwischen SchülerInnen und Lehrenden

Durch das so genannte Turboabitur (Abitur nach 8 Jahren), die beinahe flächendeckende Einführung des Zentralabiturs, vergleichende Abschlussarbeiten, vorgegebene Raster zur Bewertung von Lernleistungen usw. werden das Lerntempo und der zu bewältigende Stoff komprimiert und normiert. Raum, den besonderen Interessen und Neigungen sowohl von SchülerInnen als auch von Lehrkräften nachzukommen, bleibt spätestens nach Eintritt in das Gymnasium nicht mehr.

Unter dem Vorwand, das Niveau zu erhöhen, europäische Standards zu erfüllen und Objektivität im Vergleich von Leistungen zu erzielen, werden zudem Lernkanons erstellt, die zunehmend für alle Jahrgangsstufen aller Gymnasien eines Bundeslandes verbindlich sind. Als Grundlage der Bewertung von Lernleistungen dienen dabei immer häufiger Punkteverfahren, die auch in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern lediglich bereits Vorgegebenes positiv bewerten; kreatives und kritisches Denken werden kaum noch gefördert, Interpretationsspielräume abgeschafft. Neben den von den Bürokratien vorgegebenen, zu bewältigenden Pensen werden jedoch auch Erfolgsquoten vorgegeben. Auch die allgemeine Verkürzung der Schulzeit auf 12 Jahre bei gleich bleibendem Lernpensum erhöht den Druck auf Lehrende und Lernende, wobei jeder individuelle Ansatz nur unter großem persönlichem Einsatz auf beiden Seiten (auf Seiten der LehrerInnen zusätzliche, nicht bezahlte Arbeitszeit) zum Erfolg führen kann.

Um die Umsetzung der von den Ministerialbürokraten vorgegebenen Pensen, Abläufe und Erfolgsquoten zu garantieren, individuelle Förderung, Kooperation unter KollegInnen (für die keine zusätzliche Arbeitszeit in Form von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung oder Fachsitzungen vorgesehen ist) und die Integration moderner, meist jedoch zeitaufwendiger Unterrichtsmethoden zu gewährleisten, bedient sich zumindest das Schulministerium NRW dem Mittel der so genannten „Qualitätsanalyse“, d.h. von sporadischen Inspektionen an den schulische Institutionen. Als Instrument der Verbesserung von schulischen Abläufen verkauft, empfinden viele Lehrkräfte die Qualitätsanalyse ebenso wie die oben beschriebenen Veränderungen als Gängelung und eine weitere Zunahme nicht bezahlter Arbeitszeit.

Der zunehmende Leistungsdruck, der auf Lehrende und Schüler­Innen aufgebaut wird, hat bisher jedoch nur vereinzelt zu Solidarisierung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen oder sogar gemeinsamem Widerstand geführt. Vielmehr führen die sog. „Kopfnoten“ in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, also Kriterien, nach denen LehrerInnen in mehreren Kategorien das Arbeits- und Sozialverhalten ihrer SchülerInnen dokumentieren sollen [5], zu einer weiteren Entfremdung zwischen den SchülerInnen und dem Lehrpersonal. Kopfnoten sind nichts weiter als ein Zensurmechanismus, der darauf abzielt MusterschülerInnen hervorzubringen, die ins System passen. Was sich letztendlich dahinter verbirgt, ist der Versuch, Individuen mittels Noten in Schubladen stecken zu wollen. Es handelt sich also um ein weiteres Druckmittel zur Disziplinierung von „schwierigen“ und kritischen Jugendlichen, um sie abstrafen zu können.

Der Widerstand gegen diesen Leistungsdruck hat sich im Bildungsstreik formiert, wobei jedoch sowohl die Einheit zwischen Lehrenden und SchülerInnen als auch Studierenden kaum hergestellt werden konnte und auch die generelle Selektion im Interesse der herrschenden Klasse kaum angegriffen wurde. Die Suche nach dieser Einheit ist auch deshalb vonnöten, um konservative Kräfte wie beispielsweise die Hamburger Eltern der Klein- und Großbourgeosie, die sich gerade für die weiterschreitende Eltisierung des Schulsystems einsetzten, bekämpfen zu können.

Fußnoten

1. Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.

2. Deutschland: Erster Bildungsbericht.

3. Arbeitsgemeinschaft Bildung für Deutschland: Bildung in Deutschland – von einer Stufe zur nächsten.

4. Arbeitsgemeinschaft Bildung für Deutschland: Ohne Abschluss – nix los.

5. Die Kriterien sind folgende: a) Arbeitsverhalten: darunter fallen die Leistungsbereitschaft, die Zuverlässigkeit/Sorgfalt und die Selbstständigkeit. b) Sozialverhalten: darunter fallen die Verantwortungsbereitschaft, das Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit.

Reaktionen der Herrschenden

Sowohl von Seite der Landesregierungen als auch der Universitätsleitungen wurde im Herbst und Winter – anders als im Juni 2009 – in den meisten Fällen die Taktik angewandt, die DemonstrantInnen mit offenen Armen zu empfangen. Die Regierung versteht die DemonstrantInnen – SchulleiterInnen ebenso, – und ProfessorInnen schwören, dass sie keine Verantwortung für die gegenwärtige Situation tragen. Auch VertreterInnen des Kapitals wie der Personalchef der Deutschen Telekom sagten: „Die Studierenden gehen auf die Straße, weil sie sich zu Lernautomaten degradiert fühlen. Ich habe große Sympathie für sie und hätte auch mit demonstriert.“ [12] Mit dieser Kampagne versuchten Regierungen und RektorInnen offenbar, den Konflikt zu schwächen, um die Proteste auf die Ebene des Verhandelns in den undemokratischen Universitätsorganen zu verschieben und dort über „Korrekturen“ und „Verbesserungen“ zu diskutieren (was ihnen auch vorzüglich gelungen ist).

Dies ist ein Strategiewechsel der herrschenden Klasse: Während die DemonstrantInnen beim Aufkeimen der Proteste im Juni 2009 als „ewig Gestrige“ bezeichnet wurden, versuchte man später, den Kampf zu vereinnahmen, die Dynamik zu schwächen und die Studis mit Almosen zu beruhigen. Man versuchte sie zur Räson zu bringen, indem man an ein verantwortungsbewusstes Handeln appellierte. Aber auch wenn viele PolitikerInnen und Medien ihre Sympathie mit den Studierenden bekunden, ist aus bürgerlicher Sicht der Bologna-Prozess [13] unumkehrbar. „Korrekturen sind beschlossen und werden umgesetzt, aber eine Generalrevision wird es nicht geben“, sagte Bildungsministerin Schavan. „Korrekturen“ wie die „Flexibilisierung“ der Regelstudienzeiten (6 bis 8 Semester für den Bachelor) [14], die Verringerung der Anzahl an Prüfungen, und andere kosmetische Veränderungen wurden diskutiert. Gleichzeitig verlangte man von den protestierenden StudentInnen, doch ihre Proteste niederzulegen, da sie erreicht hätten, was sie wollten.

Das Ziel dieser widersprüchlichen Signale ist die Integration der Proteste in das kapitalistische System: Selbst die zartesten Versuche, dem Bildungsstreik eine antikapitalistische Stoßrichtung zu geben, könnten in der momentanen Wirtschaftskrise zu einem Auslöser für weitere soziale Proteste werden – darum können es die Herrschenden nicht zulassen, dass sich die Bildungsstreikbewegung radikalisiert und müssen Widersprüche gegen das Bildungssystem als Ganzes und seine Funktion im kapitalistischen System unterdrücken; das alles jedoch, ohne die Proteste komplett zu ersticken – denn einerseits sehen selbst viele KapitalistInnen, dass die Ausgestaltung des Bachelor-/Master-Systems ihren Interessen eher schadet als nutzt, und andererseits braucht „[d]as Kapital (…) ein bisschen von diesem jugendlich-rebellischen Geist, um eine Elite von kreativen ErfinderInnen und dynamischen ManagerInnen zu bilden.“ Denn es ist „unheimlich schwierig, Blumen des kreativen Schaffens im Sumpf von Prime-Time-Fernsehen wachsen zu lassen. Kreativität entstammt in der Regel den Protestbewegungen – den großen gesellschaftlichen Umbrüchen.“ [15]

Von diesem fundamentalen Widerspruch ist die Antwort der herrschenden Klasse und ihrer Medien auf die Bildungsproteste geprägt – doch wie wir oben exemplarisch gesehen haben, fällt die Bildungsstreikbewegung momentan sogar auf diese Antwort herein, und wo sie es nicht tut, wird dennoch bisher kein großer Druck aufgebaut, die Proteste in eine andere Richtung zu bewegen.

Charakter der Bildungsstreikbewegung

Die Besetzungen in Österreich und Deutschland (trotz ihrer Unterschiede zwei Länder mit sehr schwachen Arbeitskämpfen und wenig ausgeprägten politischen Konflikten, vor allem in Österreich) waren ein Ausdruck dafür, dass die Studierenden die hohen Studiengebühren und die zunehmend zu Entfremdung führenden Studienbedingungen und Rhythmen, die soziale Auslese sowie den Mangel an beruflichen Perspektiven und miserable Löhne nicht mehr hinnehmen wollen. Studierende aus Österreich und Deutschland beginnen, mit offensichtlichen Unterschieden sowohl in zeitlicher als auch methodologischer Hinsicht, den „Rückstand“ zu ihresgleichen in Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland aufzuholen, da die Probleme der Jugend in Europa überall gleich sind [16].

Doch obwohl die Proteste ein Ausdruck der Unzufriedenheit sind, war die Dynamik des Protestes bisher wenig zielgerichtet. So nahmen an den Protesten die unterschiedlichsten politischen Kräfte teil: von vorgeblich unpolitischen, über autonome, bis hin zu sozialistischen Kräften. Dominiert wurden sie jedoch von reformistischen, unorganisierten Studierenden, oft von den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten [17]. Wie das Beispiel Berlin zeigt, sind die Studierenden (und SchülerInnen, bei denen – nebenbei gesagt – die Studierenden es fast völlig versäumt haben, sie politisch in die Proteste zu integrieren) kaum über das hinausgekommen, was von den Unileitungen und der Regierung achselzuckend akzeptiert wird. Durch die Teilnahme an runden Tischen und sonstigen Verhandlungsrunden über Detailfragen wurde sich auf die Argumentationslinie der Regierung eingelassen, die von kleinen Reformen spricht, aber die Grundstruktur des BA/MA-Systems nicht antasten will.

Dies ist auch der wahre Kern der populären Forderung nach „mehr Geld“ für das Bildungssystem: während es sicherlich richtig ist, zu fordern, dass der Staat mehr Geld für Bildung ausgibt, bewirkt eine Beschränkung auf diese Forderung, wie sie beispielsweise Linke.SDS (Studierendenverband der Linkspartei) vertritt, nicht mehr als einen Verzicht auf die Mobilisierung anderer Teile der Bevölkerung – ArbeiterInnen und andere unterdrückte Gruppen – für einen gemeinsamen Kampf gegen die Auswirkungen der weltweiten kapitalistischen Wirtschaftskrise. Dies zeigt sich insbesondere jetzt, nach der Ankündigung der massiven Sparvorhaben der deutschen Bundesregierung, die zum Ziel haben, die Kosten der Krise auf die ArbeiterInnenklasse – zunächst vor allem auf prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Frauen und Kinder, AusländerInnen – abzuwälzen. Wenn sich die Bildungsstreikbewegung auf die „Mehr Geld“-Forderung beschränkt, fällt sie effektiv auf den Trick der Bundesregierung, die Bildungsausgaben gegen Kürzungen im sozialen Bereich auszuspielen, herein.

Zudem besitzt die Bildungsstreikbewegung strukturelle Probleme, die einer weitergehenden Perspektive im Wege stehen. Ein Großteil der BildungsstreikaktivistInnen vertrat die Hoffnung, durch einen Minimalkonsens an Forderungen eine möglichst breite Masse an Studierenden zu erreichen. Die Fokussierung auf diesen Minimalkonsens ließ es nicht oder nur in sehr geringem Maße zu, politische Vorstellungen, die über die Bildungsthematik hinausgingen, zu thematisieren. Man verstand sich explizit als „unpolitisch“ – als ob die Besetzung eines Hörsaals unpolitisch sei – als ob die Ablehnung politischer Alternativen nicht die Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse bedeutet!

Jedenfalls drückte sich diese Sehnsucht nach einem „unpolitischen“ Bildungsprotest auch in der weitverbreiteten Ablehnung jeglicher politischer Organisierung aus. Die Herausbildung demokratisch legitimierter bundesweiter Strukturen wurde immer wieder torpediert, genauso wie die Teilnahme politischer Zusammenschlüsse als politische Gruppen am Bildungsstreik. Stattdessen praktizierten die Bildungsstreikenden reine Konsensverfahren. Diese sind in mehrerer Hinsicht problematisch: Einerseits können einzelne Personen den Willen der übergroßen Mehrheit faktisch außer Kraft setzen, sodass eine Radikalisierung der Proteste praktisch unmöglich wird. Andererseits bedeutet der Zwang zur Konsensfindung, dass die Teilnahme an Entscheidungen durch Zeitressourcen noch weiter beschränkt wird als ohnehin schon durch das BA/MA-System. Denn anstatt jedem/r die Möglichkeit zur Partizipation zu geben, wie dies von VerfechterInnen eines reinen Konsensprinzips immer wieder behauptet wird, entscheiden letztlich immer diejenigen, die am meisten Zeit haben, endlose Diskussionen über sich ergehen zu lassen. Wenn diejenigen, die anderer Meinung sind, nicht die Möglichkeit haben, durch Mehrheitsabstimmungen ihre Meinung kundzutun, entscheiden am Ende die, die nach ewigen Diskussionen immer noch da sind. So bildet sich letztlich eine kleine elitäre Gruppe, die über die große Mehrheit, die weniger Zeit hat, bestimmen kann. Damit wird die Einstiegsschwelle zur politischen Teilhabe schlussendlich nicht verringert, sondern massiv erhöht. Stattdessen hätte ein von der Vollversammlung gewähltes und ihr jederzeit rechenschaftspflichtiges Streikkomitee eine viel breitere demokratische Teilhabe ermöglicht (wie wir im Ausblick am Ende diesen Dokuments genauer darstellen).

Überspitzt gesagt könnte behauptet werden, dass es (zumindest für einen Teil der Protestierenden) eher um die Verbesserung der eigenen, eh schon herausgehobenen Position ging als darum, die Voraussetzungen für „freie Bildung für alle“ zu schaffen [18]. Dies zeigt sich auch daran, dass wenig unternommen wurde, Lohnabhängige in den Protest zu integrieren: Zwar gab es an der FU und in ganz Berlin studentische Unterstützung für die Reinigungskräfte und die Mensa-Beschäftigten, die in den Streik getreten waren – aber der Anstoß für solche Aktionen kam von einer verschwindend kleinen Minderheit, in erster Linie AktivistInnen von trotzkistischen Organisationen (wie Marx21, SAV und RIO) und wurde nur so weit unterstützt, wie es wenig Aufwand gab – die vielgerühmte Vollversammlung in der Mensa kam hauptsächlich aufgrund eines glücklichen Zufalls zustande, und weitergehende Arbeit mit den Beschäftigten fand (außerhalb der AG Arbeitskämpfe) nicht statt.

Die wenigen Fälle von Verbindung mit ArbeiterInnenkämpfen, die es gab, entwickelten sich nicht von alleine. Auch an der FU Berlin, wo ein Arbeitskampf der Studentenwerks-Beschäftigten wörtlich direkt vor der Tür stattfand, war Solidarität keine Selbstverständlichkeit: Bei einer studentischen Vollversammlung stimmten rund ein Drittel der 500 TeilnehmerInnen für die Nicht-Behandlung der vorgeschlagenen Solidaritätserklärung. Nur die monatelange Überzeugungsarbeit der „AG Arbeitskämpfe“, die von AktivistInnen von RIO angeführt wurde, machte es möglich, beide Kämpfe zusammenzuführen: Im Rahmen eines Warnstreiks beim Studentenwerk konnte die größte Unimensa der Stadt komplett lahmgelegt werden. An einer Vollversammlung in der besetzten Mensa nahmen dann 600 Studierende und auch 100 Beschäftigte teil, die mit stehenden Ovationen begrüßt wurden [19].

Die Haltung der meisten BesetzerInnen war, das Solidarität wünschenswert wäre, solange man nichts dafür machen muss. So z.B. ein Interview mit einem Streikaktivisten aus der jungen Welt: Er wird gefragt: „Wie stellen Sie sich eine Vernetzung mit anderen sozialen Protestbewegungen vor?“ und antwortet: „Das ist natürlich wünschenswert. Die Voraussetzung ist für uns allerdings immer, daß sich diese anderen Gruppen auch für freie und selbstbestimmte, also emanzipatorische Bildung einsetzen. Da muß man schon gucken, wo die Schnittmengen liegen.“ [20] Etwas platt zusammengefasst: „Andere Leute sollten unsere Forderungen aufgreifen, aber wir denken nicht daran, für Forderungen von anderen zu kämpfen.“ Und tatsächlich war in den wenigsten Forderungskatalogen der besetzten Hörsäle – auch wenn sie 100 Punkte umfassten – etwas über das dreigliedrige Schulsystem, Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen oder einen Stopp von Massenentlassungen zu lesen – selbst die Frage von prekären Arbeitsverhältnissen an der eigenen Uni tauchte eher selten auf.

Die (Un-)Bildung des Bologna-Plans

Während in Deutschland die Debatte über die Lebensfähigkeit des gesamten Bildungssystems nicht neu ist und viele sich kritisch mit dem Bildungssystem als selektiv und elitär auseinandersetzen, herrschte in den Mittelschichten stets ein Konsens, der die Hochschulbildung als Ort der „intellektuellen Debatte“ und der „Selbsterkenntnis“ idealisierte. Die schreckliche Zerstörung der Produktivkräfte nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiederaufbau des kapitalistischen Marktes in den Jahren danach führten zur Notwendigkeit, einen großen Pool von hoch qualifizierten ArbeiterInnen, TechnikerInnen und Verwaltungsangestellten auszubilden. Das war der Hintergrund der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre in der BRD. Heute geht diese Art der Universität für größere Massen nicht mehr überein mit den Interessen der Unternehmen: Es werden zwar hochspezialisierte Elitemenschen gebraucht, aber eben nicht mehr in der Masse. Die Universitäten erschaffen eine Anzahl an AbsolventInnen, die der Arbeitsmarkt einfach nicht mehr aufnehmen kann. Deshalb ist es aus Sicht der Bourgeoisie notwendig, die Spielregeln der (Un-)Bildung neu zu definieren.

„Der Diskurs über die Förderung des kulturellen Austauschs zwischen den jeweiligen Ländern der Europäischen Union, der durch die Mobilität von Studierenden an europäischen Hochschulen gefördert werden solle, verdeckt die Realität. Obwohl immer noch ein Teil der Befugnisse im Bildungssektor auf nationaler [oder gar, wie im Falle Deutschlands, auf Landesebene liegt – hierbei liegt die Bildungspolitik in der Verantwortung eines jeden Bundeslandes, AdÜ] ist die Bildungs- und Ausbildungspolitik ein Schlüssel der unternehmerInnenfreundlichen Politik der EU, um die Reform des Arbeitsmarktes voranzutreiben und qualifizierte Arbeitskräfte auszubilden, deren Wettbewerbsfähigkeit die anderer imperialistischer Pole übersteigt. Dementsprechend formulierte Mario Monti, [ehemaliger, AdÜ.] europäischer Kommissar für den Wettbewerb, dass ‚die Wichtigkeit des Humankapitals, der Bildung und Forschung immer offensichtlicher wird‘.

Die Worte Janez Potocniks, [ehemaliger, AdÜ.] europäischer Kommissar für Forschung, lassen keinen Grund zu zweifeln: ‚Die Schaffung von Wissen durch Forschung, seine Verbreitung durch Innovation, seine Vermittlung durch Bildung müssen von jetzt an die drei Pfeiler sein, auf die wir uns stützen müssen, um Europa sowohl kurz- als auch langfristig in eine dynamische und wettbewerbsfähige Gesellschaft und Wirtschaft zu verwandeln‘. Die Bildungspolitik ist eine zentrale Variante der strukturellen Reformen, die von der EU gefordert und von den verschiedenen nationalen Regierungen umgesetzt werden.

Die als Bologna-Prozess (Vereinheitlichung der Hochschulreformen von LMD (Lyzeum, Master und Doktorat)) und Brügge-Kopenhagen-Prozess (Vereinheitlichung des Sektors der beruflichen Bildung) bekannten Reformen sind eng mit der Lissabon-Agenda und der ‚europäischen Beschäftigungsstrategie‘ verbunden, die in Amsterdam im Jahre 1997 definiert wurden. Diese sind Bildungsreformen, die im Zuge der verschiedenen EU-Regierungen Bildung zunehmend ‚privatisieren‘ und die Erhöhung der Studiengebühren einfordern, während elitäre Bildungszentren aufgebaut werden, die durch ein Netz von Primär- und Sekundärbildung begleitet werden, das zunehmend an den Bedürfnissen nationaler Bourgeoisien ausgerichtet ist. Neben dem offiziellen Diskurs, der die EU durch Bildungs- und Kulturaustausch zunehmend ‚zu europäisieren‘ versucht, ist das Ziel der Bologna- und Brügge-Kopenhagen-Prozesse jedoch eigentlich die Koordinierung der Bildungs- und Ausbildungspolitik für eine bessere Verknüpfung dieser mit den Bedürfnissen der Reformen des europäischen Arbeitsmarktes. Somit zielt man auf eine Erhöhung der Mobilität der Arbeitskraft durch eine stetige Weiterbildung der Lohnabhängigen entsprechend den wechselnden Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes, welcher sich wiederum in einer fortwährenden Flexibilisierung befindet.“ [1]

Die Aus- und Weiterbildung sowie die Arbeitsmarktpolitik mit den Bedürfnissen der Wirtschaft auf europäischer Ebene zu verbinden, war notwendig, um den Hindernissen, die mit nationalen Vorschriften verbunden sein könnten, ein Ende zu setzen. So wurden Dienstleistungsliberalisierungen vereinbart, um Verordnungen, die den Handel mit diesen Waren behindern, zu beseitigen. Diese Liberalisierungen sind im „Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen“ (GATS, General Agreement on Trade in Services) und im Vertrag der „Welthandelsorganisation“ (WTO, World Trade Organization) festgelegt.

„Im Jahr 2000 begann die Neuverhandlung des GATS. Neben der grenzüberschreitenden Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen im privaten Sektor erstrecken sich die Vollmachten mittlerweile auf Dienstleistungen, die bis vor kurzem noch Staatseigentum waren, wie Gesundheit und Bildung. Nach dem Grundsatz der ‚offenen Märkte‘ sind die BildungsanbieterInnen dafür verantwortlich, ihre Dienstleistungen ohne Barrieren jeder Art anzubieten, Gründung von Firmen und Niederlassungen in anderen Ländern eingeschlossen. Den Unternehmen, sowohl inländischen als auch ausländischen, werden die gleichen Rechte gewährt, so dass staatliche Zuschüsse nur gestattet sind, wenn sie für alle AnbieterInnen angeboten werden, unabhängig davon, ob es sich um ein transnationales Bildungsunternehmen oder eine Dorfschule handelt. Es wird kaum noch Bildungseinrichtungen geben, die nicht nach Profit handeln, während diese Unternehmen nur ihrem eigenen Gewinn und nicht einem sozialen Nutzen verpflichtet sind.“ [2]

So wird dies die soziale Auslese im Bildungssystem verstärken, was bedeutet: ein Minimum an Schulunterricht für Kinder der (ausländischen) ArbeiterInnen auf der einen Seite und die Förderung von Elite-Kindern der Bourgeoisie und der wohlhabenden Mittelschicht auf der anderen Seite.

In diesem Sinne bedeutet die Vereinheitlichung der akademischen Qualifikationen letztendlich den ersten Schritt für die Entstehung eines europäischen Bildungsmarktes, in dem auch andere imperialistische Mächte wie die USA mit ihren Produkten beteiligt werden können. So wird auch versucht, den direkten Zugang von (Groß-)Unternehmen zum Bildungswesen zu gewährleisten – mit anderen Worten, es zu einem Objekt der Kapitalverwertung zu machen. Kein Wunder, dass es in den letzten Jahren einen regelrechten Boom im privaten Bildungssektor gab: Elite-Kindergärten, Frühförderung, Elite-Internate, Privatschulen und -universitäten usw. Und da wo die Marktlogik herrscht, müssen die Lohnabhängigen für die Zeche zahlen. So sind an deutschen Hochschulen befristete Arbeitsverträge für die meisten nicht-professoralen WissenschaftlerInnen die Regel. Die überwältigende Mehrheit der Stellen an Universitäten wird auf Teilzeit- bzw. Honorarvertragsbasis beschäftigt. Dabei besteht logischerweise kein Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder auf Urlaub. Den bei Festanstellungen üblichen Anteil an der Sozialversicherung seitens des Unternehmens (bzw. der Universität) gibt es für sie nicht. Honorarkräfte müssen außerdem eine unentgeltliche Vorbereitung von Seminaren, Korrekturen von Hausarbeiten, Beratungsgespräche mit StudentInnen, organisatorische Arbeiten und sogar Prüfungen ableisten. Mit anderen Worten, rund die Hälfte der Arbeitszeit wird nicht bezahlt.

Auch das Schulwesen muss sich der Verwertungslogik unterwerfen: „Seit 1996 ist die Zahl privater Schulen unter den allgemein bildenden Schulen von 2.200 auf über 3.000 gestiegen. An ihnen werden jetzt fünf Prozent der Schüler unterrichtet, eine Zunahme um 40 Prozent verglichen mit einem Rückgang um neun Prozent an den öffentlichen Schulen. Zu den privaten Schulen zählen sowohl konfessionell gebundene Gymnasien, die in diesem Bereich den Großteil der Privatschüler aufnehmen, als auch gemeinnützige Einrichtungen wie die Waldorfschulen. In den letzten Jahren sind dann zunehmend (mehr oder minder teure) Internate sowie erstmals auch auf Gewinn ausgerichtete Bildungsinstitutionen wie die PHORMS-Kette dazugekommen.“ [3] Aber auch das Outsourcing von Arbeitsbereichen wie Mensen, Reinigung oder Gebäudeschutz ist zu beobachten. Letzteres hat auch zu globaler Spekulation geführt, wie am Beispiel der Universitäten Stanford, Yale und Harvard, die Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten, deutlich wird, die in der Finanzkrise schwer durch den Verlust von rund einem Drittel ihres Kapitals getroffen wurden. Für die bürgerlichen IdeologInnen und WortführerInnen Deutschlands ist das Problem, dass „deutsche Universitäten (…) sich zu wenig dem Wettbewerb [stellen], zu selten unternehmerisch geführt [werden]. Gegenüber Partnern aus der Wirtschaft gibt es an den deutschen Hochschulen in der Regel noch immer viele Berührungsängste. Selbstverständlich gilt es, Unabhängigkeit und Forschungsfreiheit zu bewahren. Doch würde niemand der Stanford-Universität unterstellen, diese Werte zu gefährden, nur weil die Hochschule Partnerschaften dort eingeht, wo sie sie finden kann.“ [4]

„Dies bedeutet nicht, dass diese Politik der Koordinierung der Bildungsstrategien, der Ausbildung und Forschung nicht mit strukturellen Widersprüchen konfrontiert ist. Die zunehmende Entfremdung der staatlichen Bildungssysteme – und die damit verbundene Verringerung der Zahl der BeamtInnen, LehrerInnen und des Nicht-Lehrpersonals, die Verschlechterung der Bedingungen für die Studierenden, usw. – widerspricht den Empfehlungen der Kommission zu einem stärkeren Engagement in Bezug auf den Staatshaushalt im Bereich der Ausbildung, Forschung und Entwicklung, die wiederum Konflikte mit den Maastricht-Kriterien für öffentliche Defizite bedeuten.

Das Gleiche gilt im Bereich der Wirtschaft bei dem Versuch, hochkonzentrierte Industriezonen mit hoher Konkurrenzfähigkeit zu erschaffen. Die EU-KommissarInnen selbst, HüterInnen der Maastrichter Orthodoxie, merken jedoch, dass es im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung an staatlichen Investitionen fehlt. Dies ist nur einer von vielen Widersprüchen, die in den Ländern der Europäischen Union und ihrer strengen Sparpolitik auftreten, welche die VertreterInnen der Bourgeoisie selbst anprangern, um eine Rückkehr zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik zu fordern.“ [5]

Der Bologna-Plan findet also als Teil eines großangelegten Angriffs des Kapitals gegen die Arbeit zur Senkung von Produktionskosten statt – durch die Ausbildung einer Masse von qualifizierten aber billigen Arbeitskräften (die Bachelor-AbsolventInnen). Studiengebühren und unbezahlte Pflichtpraktika sind in diesem Sinne nur der Anfang. Zusätzlich führt der massive Leistungsdruck auch zu einer Abnahme von politischer Aktivität – wenn auch vielleicht nicht direkt beabsichtigt, ist das zumindest ein nettes Nebenprodukt für die herrschende Klasse. „Durch die Privatisierungswelle offenbart sich die wahre Funktion der Universität im Kapitalismus: ein Ort der sozialen Anhäufung von Wissen, ähnlich wie Unternehmen, die die Akkumulation des gesellschaftlichen Reichtums sind. Dieser Reichtum, auch hinsichtlich der Produktion von Wissen, umfasst nicht diejenigen, die ihn erschaffen, sondern nur eine kleine Minderheit der KapitalistInnen gegen die breite Masse der ArbeiterInnen oder Studierenden. Dies bedeutet, dass das, was an den Universitäten gelehrt wird, nicht im Interesse der Studierenden gelernt und zur Verfügung gestellt wird, und auch nicht im Interesse derer, die die Gesellschaft erhalten, der ArbeiterInnenklasse.“ [6]

Fußnoten

1. La Unidad de Europa y los marxistas revolucionarios. La lucha por los Estados Unidos Socialistas de Europa. Revista Estrategia Internacional Nr. 22 vom November 2005. S. 141-142. Eigene Übersetzung.

2. Wir zahlen nicht für Eure Krise – Auf zum Bildungstreik 2009! Aufruf der Trotzkistischen Fraktion und unabhängigen Studierenden. 18. Juni 2009.

3. Michael Hartmann: Soziale Spaltung der Gesellschaft wächst. Erziehung und Wissenschaft 7-8/2009.

4. Die innovative Gesellschaft. FAZ-Archiv. 8. Januar 2004.

5. La Unidad de Europa. S. 141-142

6. Ebd.

Bildungsproteste und die Wirtschaftskrise

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise haben die ohnehin schon problematische Lage der Jugend weiter verschlimmert. Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, die weit hinter der des spanischen Staates, Griechenlands oder Italiens zurückliegt, belief sich im Oktober 2009 auf 7,7%. Hierbei handelt es sich offiziell um einen Anstieg seit Beginn der Krise um 12%. In Berlin erreicht die Jugendarbeitslosigkeit 20%, und 28% der Menschen zwischen 16 und 24 Jahren leben in relativer Armut [21]. Die Arbeitslosigkeit trifft vor allem die proletarische Jugend, besonders MigrantInnen mit geringem Bildungsniveau, hängt jedoch auch wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Jugend des Kleinbürgertums. So brachten die Studierendenproteste die Verzweiflung eines Teils des Mittelstandes und Kleinbürgertums zum Ausdruck, die die Aufrechterhaltung ihres sozialen Status und desjenigen ihrer Söhne und Töchter für immer schwieriger halten. Sie stellen eine erste Reaktion der Jugend auf die Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut dar.

Die bürgerliche Romantik, welche die Jugend als „die glücklichste Zeit des Lebens“ ansieht, gilt auch in den reichen imperialistischen Ländern nur den Kindern der Bourgeoisie und des gehobenen Kleinbürgertums. Die Krise offenbart das Versteckte: Die kapitalistische Realität bringt auch Jugendliche aller Klassen zurück auf den Boden der kapitalistischen Verwertungslogik. Heute gibt es im imperialistischen Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, nicht mal genügend Plätze in Kindergärten. Diejenigen, die sich einen Studienplatz ergattern, werden in überfüllte Hörsäle gezwungen, in denen es so gut wie unmöglich ist zu lernen. Bei ArbeiterInnenkindern und Jugendlichen aus EinwandererInnenfamilien zeigt sich ein noch düstereres Bild: „Konnten 1995 noch 51,2 Prozent aller Jugendlichen (inklusive RealschülerInnen und AbiturientInnen), die kein Studium aufnahmen, eine betriebliche Ausbildung antreten, waren es 2005 nur noch 42,8 Prozent. Gleichzeitig schnellte der Anteil derjenigen, die in einer Übergangsmaßnahme landeten, von 31,9 auf 40,3 Prozent hoch. Diese Entwicklung ist fast ausschließlich auf Kosten der Hauptschüler gegangen.“ [22]

Denn „Auch die Berufsbildung wurde, den Leitbildern einer modernen Arbeitsorganisation und einer flexiblen Berufskarriere folgend, umfassend reformiert und zu Grundberufen mit breiter Basisqualifikation zusammengefasst. (…) Die Hauptschulabsolventen, darunter insbesondere Jugendliche aus Einwandererfamilien, konkurrieren mit Absolventen der anderen Schultypen um die knappen Ausbildungsstellen – mit abnehmendem Erfolg. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Auszubildende. Viele Schulabgänger bringen nicht mehr die notwendigen Voraussetzungen zum Erlernen eines Berufs mit sich.“ [23] Die Konkurrenz und Selektion zwischen den SchülerInnen wird dabei maßgeblich vom gegliederten Schulsystem vorangetrieben. Eine Studie des DGB belegt, dass nur ein Drittel der AusbildungsabgängerInnen über Einstellungsaussichten verfügen. Wer eine Arbeit hat und bis in den Ruhestand ohne lange Zeiten der Arbeitslosigkeit durchkommt, wird trotzdem nur noch eine Rente auf der Ebene der Hartz-IV Zuwendungen erhalten [24].

Auch Studierende können sich dieser Situation nicht entziehen. Die Krise, die bis jetzt die ArbeiterInnen betroffen hat, macht auch vor ihnen nicht halt. Die Zahl der Ferienjobs ist seit Beginn der Krise um 75% zurückgegangen. In der Industrie wird kaum noch auf Studierende als LeiharbeiterInnen zurückgegriffen, obwohl diese sich so ihr Studium finanzieren wollen. Ein zentrales Problem ist hierbei die Kurzarbeit, da die Unternehmen weiterhin ihre eigenen ArbeiterInnen bevorzugen, bevor extern Beschäftige zugelassen werden. Das Geld aus Nebenjobs nutzten die jungen Studierenden in der Vergangenheit für Reisen und Urlaub – heutzutage werden sie durch Studiengebühren zusätzlich belastet.

Viele der Studierenden müssen Kredite aufnehmen, um ihr Studium zu finanzieren. Darlehen mit Zinsen zwischen 5,9% und 9,9% in Abhängigkeit von der Kreditlaufzeit haben sich als ein lukratives Geschäft etabliert. Wer diese Möglichkeit nutzt, belastet sich mit Schulden von bis zu 40.000 Euro [25]. Nachdem die universitäre Laufbahn abgeschlossen ist, sind sie gezwungen, ein Praktikum nach dem anderen zu absolvieren, meist ohne Bezahlung, um – wie die herrschende Klasse es nennt – „Fachkompetenz“ zu erwerben. Hierbei handelt es sich letztendlich um eine verdeckte Ausbeutung von Jugendlichen.

Wir sprechen also von einer Generationen junger Menschen, die ihre Zukunft verpfändet sehen, und dazu gezwungen sind, sich zunehmend auf ihre Eltern zu verlassen. Diese jungen Menschen werden in Griechenland als „Generation 700“, in Spanien als „Generation 1.000“ und in Deutschland als „Generation Praktikum“ bezeichnet. Diese Phänomene verdeutlichen, dass der Kapitalismus nur formell „Chancengleichheit“ bietet. Die Realität sieht ganz anders aus, denn die Zukunft der Jugend ist v.a. durch Arbeitslosigkeit und eine elende Existenz bestimmt, oder im besten aller Fälle von ewiger Elternabhängigkeit, wie der allgemeine Trend in den mediterranen Ländern unter Beweis stellt.

Die Sorge der herrschenden Klasse ist, dass die Proteste zu einem großen Resonanzboden für ein tiefes Unbehagen in weiten Teilen der Gesellschaft werden könnten. So könnten sich Studierendenproteste mit ArbeiterInnenprotesten vereinen, beispielsweise mit Protesten in der Automobilindustrie im Rahmen einer Verschlimmerung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Denn die KapitalistInnen haben den Kampf schon aufgenommen: im Dienstleistungssektor, wie im Falle Quelle, in der Automobilbranche, wie im Falle von Opel (die zunächst allein in Deutschland 4.000 der etwa 25.000 Stellen wegstreichen wird) oder in der Metallindustrie (wo laut Gewerkschaftsangaben bis zu 700.000 Arbeitsplätze bis Ende 2012 wegfallen könnten).

Angesichts dieser katastrophalen sozialen Perspektiven für die ArbeiterInnenklasse und die Studierenden ist es auch die Aufgabe revolutionärer Organisationen, auf die Notwendigkeit der Zusammenführung von Studierenden- und ArbeiterInnenkämpfen hinzuweisen. Eine Verbindung von Studierenden- und ArbeiterInnenkämpfen wird insofern notwendig, als dass „Proteste der Studierenden allein nicht ausreichen, um wirkliche Änderungen am Bildungssystem durchzusetzen: Studierende können wenig sozialen Druck aufbauen. Sie können beispielsweise die Infrastruktur eines Landes nicht lahmlegen, was bei Streiks von ArbeiterInnen sehr viel einfacher ist, wie z.B. beim LokführerInnenstreik Ende 2007 besonders deutlich wurde. (…) [N]ur die wenigsten Studierenden werden später leitende Posten übernehmen – die überwiegende Mehrheit wird sich früher oder später in Lohnabhängigkeit begeben müssen, wenn sie es nicht jetzt schon in Nebenjobs tun. Mit den ArbeiterInnen eint uns also nicht nur, dass wir den gleichen kapitalistischen Zwängen unterliegen, sondern auch der Fakt, dass die meisten von uns später selbst ArbeiterInnen sein werden.“ [26]

Zum Klassencharakter der Studierendenschaft

Studierende können aus den unterschiedlichsten Familien kommen, ihre Herkunft kann aus den unterschiedlichsten sozialen Klassen stammen und dementsprechend vertreten sie auch die unterschiedlichsten Interessen: „Studenten stellen keine eigene und einheitliche soziale Klasse dar. Sie sind in verschiedene Gruppen unterteilt, und ihre politische Haltung entspricht genau der derjenigen, die in diesen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Gesellschaft dominiert.“ [1]

Jedoch ist der kleine Teil der Gesamtbevölkerung (in Deutschland etwa 23%), der Zugang zu höherer Bildung erlangt, klar sozial strukturiert. In Deutschland bedeutet das selektive Schulsystem und die elitäre Ausrichtung der Hochschulzugangsberechtigungen, dass die bürgerliche Universität nicht für „alle“ geschaffen ist und Wissen nicht im Sinne der Gesamtgesellschaft produziert wird. Vielmehr ist die Universität Ausbildungsort für einen Ausschnitt der Eliten des Landes, die sich in ihrer universitären Zeit hauptsächlich darauf vorbereiten sollen, wichtige Funktionen für die herrschende Klasse auszuüben oder sogar tragende Rollen der Klassenherrschaft zu übernehmen.

So stammen aktuell in Deutschland nur 10% der Studierendenschaft aus ArbeiterInnenfamilien. Interessant ist dabei, dass studentische MitarbeiterInnen an den Universitäten fast nie (1%) aus ArbeiterInnenfamilien stammen [2]. Ähnlich oder schlimmer noch ist die soziale Auslese, die Jugendliche mit Migrationshintergrund betrifft, denn sie stellen nur 8% der Studierendenschaft [3]. Die meisten Studierenden stammen aus „Beamtenfamilien mit akademischem Abschluss“ und „Selbständigen mit akademischen Abschluss“ [4], also dem gehobenen Kleinbürgertum und der Bourgeoisie.

Doch die Studienzeit ist eine Übergangsphase. Dies bedeutet, dass die Klassenherkunft der Studierendenschaft, also die Klassenzugehörigkeit ihrer Eltern, nicht zwangsläufig identisch mit ihrer Klassenzukunft ausfallen muss. So können, wie es gerade in der BRD des Nachkriegsbooms der Fall war, untere Schichten durch die universitäre Bildung höhere Stellen im gesellschaftlichen System beziehen. Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise, dem Angriff auf die sozialen Systeme des „Wohlfahrtsstaates“ und die drastische Auslese durch den Bologna-Plan ist heutzutage jedoch eher das umgekehrte Szenario Realität: Immer größere Teile der Jugend der Mittelschichten, die Kinder vor allem des gehobenen Kleinbürgertums, sehen sich nach ihrer Ausbildung mit sehr prekären Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. Gerade die Sorge um diesen sozialen Abstieg hatte auch zu der Breite der Bildungsstreikproteste geführt, wie wir in diesem Heft darstellen.

Somit können wir feststellen, dass während dieser Übergangsphase „Studi sein“ sowohl die soziale Situation als auch die Interessenlage sich schwankend zwischen der obersten und untersten Klasse unserer Gesellschaft verortet. Wir sehen die Abwehr gegen die Maßnahmen der Regierungen, die Universität immer weiter im Interesse der Bourgeoisien umzustrukturieren. Auch außerhalb der Bildungsstreikbewegung existieren an den deutschen Universitäten vielfältige Räume der Kritik, die die herrschenden Ideologien teilweise in Frage stellen. Gleichzeitig sehen wir jedoch auch ein großes Bestreben (auch unter denjenigen, die am Protest teilnehmen), die „individuellen Chancen“ zu erhöhen und für sich die bestmögliche Studien- und somit gesellschaftliche Situation zu ergattern. Dieses Schwanken verdeutlicht, dass der Großteil der Studierendenschaft einen kleinbürgerlichen Charakter trägt.

Mit dem Begriff Kleinbürgertum meinen MarxistInnen nicht nur diejenigen, die kleine Mengen an Produktionsmitteln besitzen, sondern alle gesellschaftlichen Schichten, die sich zwischen den beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat befinden. Das Kleinbürgertum verfügt deswegen über keinen festen Klassenstandpunkt, weshalb es sich jedoch oft der herrschenden Klasse anpasst. So ist „in der Epoche von Aufstieg, Wachstum und Blüte des Kapitalismus das Kleinbürgertum trotz heftiger Ausbrüche von Unzufriedenheit im großen und ganzen gehorsam im kapitalistischen Gespann.“ [5] Daraus leiten wir ab, dass in seiner Mehrheit die Studierendenschaft, trotz kritischer Ansätze, weder das Bildungssystem noch die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend in Frage stellt.

Die kleinbürgerlichen Illusionen drücken sich auch gerade auf ideologischer Ebene aus: Im Bildungsstreik, aber auch in anderen kritischen Räumen an den Universitäten, dominiert meist ein individuelles Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung, dass sehr dem Humboldtschen Bildungsideal anhängt. So sollte die „akademische Freiheit“ und die universitäre Unabhängigkeit vom Staat die Selbstbestimmung und vernünftige Mündigkeit der Individuen garantieren. Humboldt spricht jedoch von diesen freien Individuen aus bürgerlich-liberaler Perspektive, d.h. aus der Sicht des privaten Menschen, der auf der Suche nach der Verwirklichung seines persönlichen (und auch finanziellen) Interesses ist. Karl Marx kritisierte zu Recht dieses Ideal der bürgerlichen Bildung, das ohne Berücksichtigung der Schwierigkeiten und Entbehrungen der arbeitenden Mehrheit der Bevölkerung propagiert wird und die oben dargestellte soziale Auslese in Bildungseinrichtungen ignoriert.

Die ideologische Ausrichtung vieler Studierender ist jedoch nicht für alle Zeit festgeschrieben. Da wir uns jedoch heute in einer historischen Krise des Kapitalismus befinden, in der der Unmut unter breiteren Teilen der Studierendenschaft gegenüber den Sparmaßnahmen und Umstrukturierungsplänen ansteigt, setzten wir uns als RevolutionärInnen dafür ein, dass Studierende einen Sprung machen um sich von diesen Illusionen befreien, denn: „Unter den Bedingungen der kapitalistischen Fäulnis und wirtschaftlichen Ausweglosigkeit aber versucht die Kleinbourgeoisie, sich den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft zu entwinden. Sie ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen.“ [6]

In diesem Sinne ist es den Studierenden, gleichwohl dem Kleinbürgertum und den Intellektuellen, durchaus möglich, sich von „den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft“ zu befreien, indem sie als ersten Schritt die Einheit mit Kämpfen der ArbeiterInnen suchen und sich somit dem Proletariat annähern. Wie ein griechischer Student in Berlin erklärte, an jene Mehrheit der Studierenden gerichtet, die später nicht zur Elite gehören werden: „Wir müssen uns als Teil der ArbeiterInnenklasse sehen. Wir müssen jetzt schon versuchen, mit ArbeiterInnen zusammen zu kämpfen und zu streiken.“ [7]

Fußnoten

1. Leo Trotzki: An die Studenten und Intellektuellen. 1932.

2. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks vom Jahr 2009.

3. Frank van Bebber: Stiftungen wollen mehr Migranten an die Unis bringen. ZEIT Online. 18. Februar 2010.

4. Sigrid Beer: Soziale Benachteiligung im Bildungssystem verfestigt sich.

5. Leo Trotzki: Der einzige Weg. Kapitel 2: Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat. 1932.

6. Ebd.

7. Interview mit Dimitrios X.

Eine revolutionäre Perspektive

Heute ist es notwendig, dass Studierende, die die Ökonomisierung der Bildung, den Mangel an Demokratie und das Bachelor-/ Master-System als Ausgangspunkt für ihre Kritik nehmen, zu einer Infragestellung des gesamten Bildungssystems gelangen. Es ist notwendig, die Losungen und Bewertungen der bürgerlichen Presse, progressiver Lehrender und bürgerlicher PolitikerInnen abzulehnen, nach denen nicht das System, sondern seine Umsetzung mangelhaft sei – wonach es reichen würde, die Fehler zu „korrigieren“ und nicht für eine vollkommen neue Alternative zu kämpfen.

Um gegen diese elitäre Haltung und diese Vorurteile angehen zu können, ist es notwendig, die bürgerlichen Ideologien, die aus allen Poren der Gesellschaft, insbesondere des Kleinbürgertums, sickern, zu bekämpfen. In der Praxis bedeutet dies, den Kampf gegen die bürgerlichen Ideale aufzunehmen, und stattdessen für Bildung im Dienste der Ausgebeuteten und Unterdrückten und für eine Universität frei von Einmischung von Seiten der Konzerne oder auch ihrer Staaten einzustehen. Für eine Universität, die den Kindern der ArbeiterInnenklasse und auch arbeitenden Menschen offen steht!

Der Schlüssel für den Erfolg des Kampfes liegt also in der Ausweitung der Proteste bei gleichzeitiger Anbindung an die langsam aufflammenden ArbeiterInnenkämpfe.

Erste spezifische Aktionen in diese Richtung, Aktionen der Solidarität mit ArbeiterInnenkämpfen, wie im Falle der Berliner Mensa-Beschäftigten oder der ReinigerInnen, weisen den Weg. Es ist notwendig, die Perspektive um solche Erfahrungen zu erweitern und mit den Illusionen zu brechen, die der Sozialreformismus der LINKEN oder der Gewerkschaftsbürokratie immer wieder neu erschafft (um nur zwei VertreterInnen von Gewicht zu nennen). Sie fordern die Rückkehr zum alten „Sozialstaat“, d.h. sie geben vor, dass letztlich nicht der Kapitalismus die Ursache für die Bildungsmisere sei, sondern der sogenannte „Raubtierkapitalismus“. Sie behaupten, dass der Kapitalismus auf irgendeine Weise die aktuelle Krise überwinden wird und neue Wachstumszyklen eintreten werden, von denen die Gesellschaft als Ganzes profitieren könnte.

Die Perspektive von Linke.SDS, die sich größtenteils auf die Forderung nach „Mehr Geld“ beschränkt, ist ein Ausdruck dieses Reformismus. Im momentanen Zustand der Bildungsstreikbewegung können wir Linke.SDS indes nicht vorwerfen, eine an sich radikale Bewegung durch reformistische Forderungen zurückzuhalten. Denn die verschiedenen Aspekte der Bildungsstreikbewegung, die wir beleuchtet haben, zeigen deutlich, dass die Bewegung auch ohne Linke.SDS reformistisch ist. Was Linke.SDS aber nicht tut, ist die Proteste voranzutreiben und zu radikalisieren, indem offensiv auf die Verbindung der Bildungsproteste mit den Protesten gegen die Wirtschaftskrise hingearbeitet wird – sie sehen sich ebenfalls verpflichtet, durch die Beschränkung auf den Minimalkonsens vermeintlich für „Breite“ zu sorgen [27]. Unserer Meinung nach müsste ein sozialistischer Studierendenverband grundsätzlich anders agieren.

Wir brauchen eine Perspektive, die mit der bürgerlichen Perspektive bricht, die uns Studierende als unterwürfige Automaten der bürgerlichen Ideologie zu reproduzieren versucht, als zukünftige Fachleute im Dienste des Systems. Unsere Alternative ist es, den Klassencharakter der Universität in Frage zu stellen und neue Säulen der Solidarität und des Klassenbewusstseins aufzubauen. Wir wollen weder Beifall noch Verständnis von den Verantwortlichen für das Elend der Bildung. Als klassenbewusste Studierende wollen wir keine Teilreformen, sondern zielen auf eine Neugründung der Universität ab, die nach einem Plan von Studierenden, Lehrenden und ArbeiterInnen entwickelt werden soll.

Während heute große Teile der Studierendenschaft noch reformistischen Illusionen nachhängen und der revolutionäre Marxismus sich nur auf kleine Gruppierungen ohne großen Einfluss unter der Jugend-Avantgarde beschränkt, so wird doch das Ausmaß der kapitalistischen Krise und die Notwendigkeit der herrschenden Klasse, deren Kosten auf dem Rücken der Lohnabhängigen und auch der Jugend abzuladen, unter wachsenden Sektoren zu einem Misstrauen gegenüber den Maßnahmen der Bourgeoisie führen, die letztlich keine positive Antwort auf die Krise in der Bildung hat.

Die Krise, in der sich dieses selektive Bildungssystem mit Klassencharakter befindet, führt unweigerlich zu einer zunehmenden Infragestellung nicht nur von einigen Aspekten, sondern auch des gesamten Bildungssystems. Auf Bildungsebene bedeutet das die Ablehnung der Bachelor-/Master-Reform, auf ideologischer Ebene insbesondere der neoliberalen Maßnahmen und des Kapitalismus im Allgemeinen. Daher kann die bürgerliche Bildungsmisere nicht unabhängig von der kapitalistischen Krise analysiert werden. Daher müssen wir RevolutionärInnen die Bildungsfrage mit einer vorwärtsgewandten Klassenalternative, einer revolutionär-sozialistischen Perspektive verknüpfen.

So möchten wir von der Revolutionären Internationalistischen Organisation und der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale zusammen mit revolutionären SchülerInnen, Studierenden und Azubis gegen den Bolognaprozess einen gemeinsamen Katalog von Übergangsforderungen entwickeln, die „den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen)“ überwindet [28]. Diese Forderungen sollen also eine Brücke zwischen den unmittelbaren Forderungen, also den Minimalforderungen, und der Notwendigkeit einer sozialen Umwälzung, also den Maximalforderungen, schlagen.

Angesichts der bürgerlichen Bildungsmisere müssen wir als revolutionäre Studierende und SchülerInnen im Verlauf unseres täglichen Kampfes dabei helfen, diese Brücke zwischen den aktuellen Forderungen – gegen Prüfungsstress, Studiengebühren, Turboabi, Lehrermangel, soziale Selektion und Ausgrenzung usw. – und dem Programm der sozialistischen Revolution zu schlagen. Das Ziel muss stets das Gleiche sein: Der Bruch der Studierenden mit den falschen bürgerlichen Vorstellungen von persönlichem sozialem Aufstieg mittels individuellem Einsatz, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass nur in Verbindung mit der Reichtum produzierenden Klasse, also dem Proletariat, Studierende und Jugendliche im allgemeinen eine Zukunft frei von Unterdrückung anstreben können.

Weder Sanierung noch Korrekturen, sondern komplette Rücknahme des Bologna-Plans! Für eine demokratische, von SchülerInnen, Studierenden, LehrerInnen und ArbeiterInnen entwickelte Neuordnung des gesamten Bildungssystems!

Für eine Grunderneuerung des Bildungssystems in Deutschland bedarf es einer starken Protestbewegung. Entgegen der Bestrebungen nach einer „Reform der Reform“, die hinter verschlossenen Türen der Parlamente beschlossen wird, ist es unerlässlich, die Studierendenproteste auszuweiten und die radikalen Tendenzen unter den Studierenden nicht nur zu fördern, sondern eine revolutionäre Perspektive aufzuzeigen.

Wie die Erfahrung aus den vorangegangenen Bildungsstreiks eindrucksvoll gezeigt hat, kann keine Sponti-Bewegung die Durchsetzung weitreichender Forderungen erreichen. Über Basisdemokratie zu reden ist schön – sie zu betreiben ist schwieriger.

Organe der direkten Demokratie in der Universität, die die Kämpfe in Form von Streikkomitees zusammenführen, sollten mit Vollversammlungen für breite Partizipation sorgen – welche auch für alle Organisationen, die den Kampf unterstützen, offen sein müssen. Diese Streikkomitees wiederum können die Verbindung zur ArbeiterInnenklasse suchen, indem sie sich solidarisch an Kämpfen der ArbeiterInnen beteiligen, sowie den Schulterschluss mit den prekarisierten AkademikerInnen und auch mit den Universitätsangestellten suchen. Beispielsweise konnten im Kampf der ArbeiterInnen einer Lebensmittelfabrik des multinationalen Konzerns Kraft Foods in Buenos Aires Studierende mit Straßenblockaden in der Innenstadt helfen, den Arbeitskampf zu einem landesweiten politischen Thema zu machen [29]. Die oben beschriebenen Ansätze für diese Solidarität (Resolution an der Uni Stuttgart usw.) sind also nur erste Schritte in dieser Richtung.

Für eine demokratische Universität! Abschaffung der Uniräte, der Senate und Rektorate!

Die Universität ist entgegen der Beteuerungen von UnipräsidentInnen usw. alles andere als eine demokratische Institution. Die studentischen VertreterInnen sind in den universitären Gremien mit nicht mehr als 25% der Sitze vertreten. ProfessorInnen stellen die absolute Mehrheit. Somit ist es unmöglich, die von den akademischen Verwaltungsorganen getroffenen Entscheidungen zu beeinflussen. Noch weniger können Studierende das System reformieren. Nebenbei ist den studentischen Vertretungen untersagt, sich über „allgemeinpolitische“ Fragen zu äußern, da diese den „hochschulpolitischen“ Rahmen sprengen.

Die im Zuge des Bologna-Prozeßes durchgeführte Umstrukturireung der Universität führt auch zu einer Verstärkung der antidemokratischen Aspekte. Die ohnehin stark eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten für Studierenden werden zunehmend auf andere Gremien verlagert. Es entstehen somit Gremien ohne jegliche Vertretung von Studierenden wie die berüchtigten Hochschulräte bzw. Universitätsräte [30]. Die Einführung dieser Organe war also nichts anderes als ein weiterer Schritt zur Entdemokratisierung des Universitätslebens. Wir halten die jetzige Struktur an den Universitäten als äußerst undemokratisch, deren Ziel letztendlich darin besteht, durch scheinbare Partizipation ein äußerst starres und undemokratisches Institutionsgebilde zu legitimieren.

Deshalb halten wir die Forderung nach Abschaffung der Uniräte für einen ersten wichtigen Schritt in Richtung Demokratisierung der Universität. Senat und Rektorat sollen abgeschafft werden und dafür ein demokratisches Parlament gewählt werden das über alle Entscheidungsgewalt verfügt. Wir fordern keine „Viertelparität“ von ProfessorInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, nicht-wissenschaftlichem Personal und Studierenden (was ohnehin durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 1973 verboten ist) sondern demokratische Verhältnisse mit einer Stimme für jedeN UniversitätsangehörigeN.

Kein Prekariat im Bildungssystem! Wir wollen nicht von unterbezahlten Dozierenden unterrichtet werden! Sofortige Festeinstellung aller Honorarkräfte an Hochschulen und Schulen!

Der Kampf der Studierenden für Freiräume, bessere Studienbedingungen, gegen Prüfungsstress, für eine andere Bildung ohne Zensuren und Repression – also für eine freie Bildung – kann nicht erfolgreich sein, ohne die Ausbeutung vor der eigenen Tür, d.h., an den Unis, anzuprangern und den Schulterschluss mit den prekär Beschäftigten an den Hochschulen zu suchen. Die Infrastruktur der Universitäten wird teils von schlecht bezahlten ArbeiterInnen aufrechterhalten: Das Outsourcing von Aufgaben an billige Dienstleistungsunternehmen ist Lohndrückerei und nicht hinnehmbar. Was die Lehre betrifft, werden immer mehr Lehrtätigkeiten von schlecht bezahlten akademischen FreiberuflerInnen ausgeübt. Minijobs sind heute Gang und Gäbe an deutschen Hochschulen und ohne diese in elenden Verhältnissen arbeitenden Lehrkräfte würde der Lehrbetrieb an vielen Hochschulen zusammenbrechen. Auch an öffentlichen Schulen findet Lohndrückerei statt.

Vom Bildungsstreik zum Generalstreik!

Im Rahmen der Bildungsstreikbewegung sollte Druck auf die Gewerkschaftsführungen ausgeübt werden, um zunächst einen Aufruf zu einem „Generalstreik der Bildung” gegen die schlechten Arbeits- und Lernbedingungen sowie die soziale Selektion in Schulen, Universitäten und Ausbildungszentren zu Stande zu bringen. Die GEW und ver.di sollten den Worten Taten folgen lassen und zu einem Streik im Bildungsbereich aufrufen. Solidaritätsbekundungen für die Streikenden und die öffentliche Anprangerung von „Missständen“ an Schulen und Hochschulen sind nicht ausreichend.

Die beste Solidarität ist die praktische Solidarität. An den Universitäten sollten die Streiks gegen Prekarisierung und Elitisierung, an Schulen gegen soziale Selektion, Ausbildungsplatzmangel und schlechte Löhne stattfinden. Der Kampf um ausreichende Ausbildungsplätze für alle BewerberInnen erlaubt es außerdem, eine Brücke zwischen der Bildungs- und der Arbeitswelt zu schlagen.

Branchenstreiks im Bildungsbereich könnten den Kampf um die Demokratisierung der Gewerkschaften und gegen das alte Paradigma der „Sozialpartnerschaft“ vom DGB beflügeln und der Startpunkt für eine antibürokratische Bewegung in den Betrieben, aber auch außerhalb, sein, die die Gewerkschaftsspitzen zwingt, einen richtigen Generalstreik auszurufen.

Freie Bildung für alle! Weg mit allen Bildungsgebühren, von der KiTa bis zur Universität! Kostenlose Bildung für alle, mit oder ohne Papiere!

Ein wichtiger Moment im Kampf für kostenlose und freie Bildung ist der Einsatz für ein Bildungssystem, das allen Menschen mit oder ohne Papiere die Möglichkeit bietet, zu lernen und zu studieren. Die Gebühren für Betreuungsplätze für Kinder in den KiTas ist eine Verletzung der elementarsten Rechte der arbeitenden Bevölkerung, denn ArbeiterInnen mit geringem Lohn können sich das einfach nicht leisten. Dadurch werden sie gezwungen, zu Hause zu bleiben, um ihre Kinder zu versorgen.

Entgegen der Privatisierungs- und Elitebildungspläne fordern wir ein vollständig öffentliches Bildungssystem, finanziert aus Progressivsteuern, Kapitalsteuern und Erbschaftssteuern, für alle – auch Kinder von MigrantInnen und ArbeiterInnen! Wir fordern auch den Wegfall jeglicher Zugangshürden, die die Aufnahme eines Studiums verhindern, wie beispielsweise den Numerus Clausus. Diese Hürden sind Selektionsmechanismen, die in der Regel Kinder von Lohnabhängigen und MigrantInnen, von alleinerziehenden Elternteilen, von Papierlosen und eben auch Armen trifft, da sie sich teure Nachhilfe nicht leisten können.

Nicht nur ArbeiterInnenkinder haben es schwer an deutschen Schulen. Kinder von MigrantInnen ohne gültigen Aufenthalt können die Schule nicht besuchen, allein weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung bzw. Duldung vorweisen können. Ein wichtiger Teil des Kampfes um eine wirklich freie Bildung ist deshalb auch der Kampf gegen die staatlichen Vorgaben, die den Schulbesuch von Kindern ohne „legalen“ Status verhindern. So müssen auch Kontroll-, Sanktions- und Repressionsmechanismen wie SchülerInnendateien bekämpft werden, und zwar nicht nur von SchülerInnen und ihren Eltern sondern auch von Studierenden.

Wir setzen uns für einen Raum ohne Repression ein – sei sie staatlicher oder auch akademischer Natur – sowohl in Schulen als auch an Universitäten. JedeR, der/die es will, soll die Möglichkeit haben, zu lernen, und zu studieren, unabhängig von sozialem Status, Noten oder Aufenthaltstitel.

Wider die Repression und Unterdrückung des studentischen und sozialen Protestes!

Wir lehnen die repressiven Maßnahmen durch Behörden (Ordnungsämter etc.), Polizei und (Hoch-)Schulleitungen vehement ab. Wir stellen uns gegen die Einsperrung von Schulklassen, gegen restriktive Demoauflagen und Festnahmen von Protestierenden. Das wirkliche Infragestellen der herrschenden Verhältnisse und vor allem der Kampf dagegen wird kriminalisiert und unterdrückt – die Repression richtet sich heute vor allem gegen AktivistInnen aus der radikalen Linken, jedoch zeigt die Erfahrung der gewaltsamen Räumung der Studierenden aus dem Casino-Gebäude der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, die mit Verletzten unter den Studierenden endete, dass die Staatsgewalt es nur sehr beschränkt zulässt, gegen die bestehenden Verhältnisse anzukämpfen.

Die einzige Möglichkeit, die Repressionsmaschinerie zu entschärfen, besteht darin, die Spaltungsversuche der Herrschenden – die stets versuchen, einen Keil zwischen „friedlichen“ und „gewaltbereiten“ DemonstrantInnen zu schieben – entschieden zurückzuweisen. Die Wirtschaftskrise und die Ausweglosigkeit werden viele Studierende und SchülerInnen, aber auch Azubis und arbeitslose Jugendliche dazu zwingen, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen. Der Kampf lohnt sich, wie die Erfahrungen des Kampfes gegen den CPE in Frankreich gezeigt haben: Sogar vom Parlament verabschiedeten Gesetze können zurückgenommen werden, wenn Radikalisierung und Ausbreitung der Proteste auf die ArbeiterInnenschaft droht [31]!

Für eine Universität im Dienste der Ausgebeuteten und Unterdrückten!

Freie Bildung bedeutet auch, entgegen der verschulten Studienpläne und -zeiten, die den Interessen der Bourgeoise entsprechen, für eine Universität zu kämpfen, in der Lerninhalte, Lernzeiten und -formen demokratisch von den Studierenden bestimmt werden, damit sie sich ihr Wissen im Sinne der arbeitenden Bevölkerung aneignen und in Zusammenarbeit mit den ArbeiterInnen und Unterdrückten ihr Wissen zur Verfügung stellen. Ein Beispiel dafür ist die Universidad del Comahue in Neuqúen, Argentinien, die mit den ArbeiterInnen der besetzten Keramikfabrik Zanon zusammenarbeiteten und ihnen Fachkenntnisse zum Weiterbetrieb der Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle vermittelten.

Dabei muss es klar sein, dass eine solche Universität nicht als „Freiraum“ mitten in einer kapitalistischen Gesellschaft existieren kann. Der Kampf gegen die „Klassenbildung“ ist nur ein Teil des Kampfes gegen die Klassengesellschaft. Auch an den Universitäten muss der Kampf für die Enteignung der Produktionsmittel durch die produzierende Klasse geführt werden.

Für eine revolutionär-marxistische Strömung an den Universitäten!

Die wenigen Ansätze, die den Bildungsstreik über das Thema Bildung hinaus voranzutreiben versucht haben, gingen fast ausschliesslich von marxistischen Kräften aus. Diese Kräfte sind jedoch nicht nur marginal sondern unter sich zersplittert. Nötig ist eine starke revolutionär-marxistische Strömung, die an möglichst vielen Universitäten mit praktischen Vorschlägen für eine Verbindung der Studierendenproteste mit Arbeitskämpfen und auch mit internationalen Bewegungen eintritt. Ein marxistischer Studierendenverband ist auch nötig, um die bürgerliche Ideologie zu bekämpfen, die unter Anderem an den Universitäten produziert und reproduziert wird – denn der Klassenkampf findet auch auf ideologischer Ebene statt.

Wir von RIO und der FT-CI sehen diese Analyse als einen Vorschlag zur Schaffung einer solchen Strömung. Wir rufen alle revolutionären Studierenden – ob organisiert oder nicht – dazu auf, mit uns in Kontakt zu treten um gemeinsam den Klassenkampf in die Unis zu tragen!

RIO und FT-CI, 24. Juli 2010

Fußnoten

1. Vgl. http://www.bildungsstreik.net.
2. Tanjev Schultz: Große soziale Kluft an Deutschlands Schulen. Süddeutsche Zeitung. 24. Juni 2010.
3. Zur sozialen Selektion im Schulsystem vgl. auch unseren Extra-Kasten.
4. Für einen Überblick der Proteste zwischen 2006 und 2009 vgl. Der sechste Streik in drei Jahren.
5. Für einen Bericht der Juni-Proteste vgl. Eine Viertel Million Menschen beim Bildungsstreik.
6. Für einen Bericht der November-Proteste vgl. Über 80.000 beim bundesweiten Bildungsstreik.
7. Vgl. Hörsaal an der FU Berlin besetzt.
8. Für Informationen zur AG Arbeitskämpfe vgl. „Unser Werkblatt“.
9. Vgl. Solierklärung mit den Daimler-Beschäftigten.
10. Für einen Bericht vom Warnstreik vgl. Interview mit Stefan Neumann.
11. Vgl. Hörsaal 1A an der FU Berlin geräumt.
12. Spiegel Online: Der Bachelor, eine tote Katze.
13. Vgl. den Info-Kasten zum Bologna-Prozess.
14. Da die Gesamtregelstudienzeit BA und MA allerdings weiterhin auf 10 Semester beschränkt bleibt, kann dies nur auf Kosten des MA-Studiums geschehen.
15. Wladek Flakin: Jugend ohne Charakter?
16. Vgl. den Abschnitt „Bildungsproteste und die Wirtschaftskrise“.
17. Zur generellen Zusammensetzung der Studierendenschaft vgl. den Info-Kasten „Zum Klassencharakter der Studierendenschaft“.
18. Zu dieser Forderung vgl. den Abschnitt zu den Perspektiven des Protestes.
19. Vgl. Interview mit Stefan Neumann.
20. Vgl. junge Welt: Interview mit Michael Dunkler.
21. Vgl. Deutschlands Krisenkinder. Anmerkungen zur sozialen Situation und politischen Perspektiven der Jugend. In: Internationaler Klassenkampf. Nr. 4. November 2009.
22. Michael Hartmann: Ebd.
23. Steffen Lehndorff: Abriss, Umbau, Renovierung? Studien zum Wandel des deutschen Kapitalismusmodells. VSA.Verlag. 2009. S.32.
24. DGB: Hohes Armutsrisiko bei Jugendlichen. 12. Februar 2009.
25. „Wer das Studium vollständig auf Pump finanziert, hat zu Beginn der Berufstätigkeit viel zu tilgen. Beispiel: Ein Student borgt sich ab Oktober zehn Semester lang jeden Monat den Höchstsatz von 650 Euro bei der KfW. Am Ende des Studiums belaufen sich seine Schulden auf 39.000 Euro zuzüglich der bis dahin aufgelaufenen Zinsen.“ Stiftung Warentest: Studienkredite: Günstiges Geld für die Uni.
26. Stellungnahme zu den Unibesetzungen von RIO.
27. Linke.SDS schrieb etwa: „Diese Krise [der hochschulpolitischen Linken] drückt sich auch in Kommentaren aus, die den Bildungsstreik zynisch zum braven und angepassten Event abstempeln und eine nur antikapitalistische Ausrichtung der Proteste einfordern. Letztlich laufen die Vorschläge darauf hinaus, die Bildungsstreikbewegung politisch einzuengen und sich auf bereits Überzeugte zu beschränken. Anstatt die Bewegung in die strategische Isolation zu führen, sollten wir uns unsere Stärke immer wieder bewusst machen: Der Bildungsstreik kann durch bundesweite Koordination lokale Kreativität und Aktionspotentiale befördern und breite Spektren der Studierendenschaft ansprechen und potentiell aktivieren.“ Linke.SDS: Streikagenda 2010.
So wichtig es auch ist, den abstrakten Antikapitalismus der autonomen Linken zu kritisieren, wird mit diesem Kommentar jede antikapitalistische Ausrichtung verworfen. Für uns bedeutet Antikapitalismus aber nicht nur Lesekreise zur Frankfurter Schule, was viele SeminarmarxistInnen als Alpha und Omega antikapitalistischer Politik verstehen, sondern eine praktische Ausrichtung auf die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse, wie wir oben beschreiben. Leider wird beides von Linke.SDS abgelehnt.
28. Trotzki, Leo: Das Übergangsprogramm. Minimalprogramm und Übergangsprogramm. 1938.
29. Für einen Bericht über den Arbeitskampf bei Kraft-Terrabusi vgl. Arbeiterinnen vs. reichster Mann der Welt.
30. Der Universitätsrat ist in einigen Bundesländern neben dem Senat und dem Rektorat das dritte Leitungsgremium einer Universität.
31. Für eine Analyse der Anti-CPE-Bewegung, vgl. Kick it like Frankreich!
32. Für Infos über die besetzte Fabrik Zanon vgl. „Zanon gehört den ArbeiterInnen.“ Broschüre von RIO und der FT-CI. S. 17.

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