Der Beginn einer neuen Etappe
Über fast zwei Monate hinweg haben die französischen ArbeiterInnen zusammen mit der kämpferischen SchülerInnen- und Studierendenbewegung eine imposante soziale Mobilisierung gegen das Projekt zur Rentenreform des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy angeführt. Acht mächtige Streikbewegungen, an denen Millionen DemonstrantInnen teilnahmen, unbefristete Streiks in strategischen Branchen, wie den Raffinerien und Häfen neben dem Streik der Bahnbeschäftigten, unzählige Blockaden von Unternehmen und öffentlichen Plätzen sowie Erdöllagern, angeführt von ArbeiterInnen und solidarischen AktivistInnen mit Unterstützung der SchülerInnen und einer kleinen universitären Avantgarde, erschütterten Frankreich.
Dieser außerordentliche Kampf, der sich auf eine sehr breite Unterstützung in mehr als 70% der Bevölkerung stützte, konnte letztendlich nicht die Verabschiedung der Reform, die am 9.11 von Sarkozy erlassen wurde, durch die Nationalversammlung und den Senat verhindern. Von jetzt an werden die Arbeiter erst zwischen dem 62 und 67 Lebensjahr Zugang zur Rente haben (anstatt ab dem 60 und 65 Lebensjahr). Mit dieser Maßnahme will Sarkozy ein Zeichen an die Märkte und die Bourgeoisie senden, damit die französischen Schuldverschreibungen nicht gesenkt werden und die Regierung nicht als nachgiebig gegenüber den Gewerkschaften angesehen wird. Doch alles weist darauf hin, dass die Regierung trotz der Verabschiedung des Gesetzes, ernsthafte Schwierigkeiten dabei haben wird, dies in einen ersten Schritt eines allgemeinen Angriffes auf andere Errungenschaften der Arbeiterklasse zu verwandeln, denn es ist mit starkem Widerstand zu rechnen.
Die Zermürbungsstrategie der Bürokratie
Ein Hauptfaktor (neben der Härte, mit der Sarkozy auftrat) für die Niederlage waren die reformistischen Führungen der Gewerkschaftsverbände. Die zwei zentralen Gewerkschaften CFDT und CGT haben zu keinem Zeitpunkt gefordert, das Gesetz zur Rentenreform zurückzuziehen. Sie gaben sich damit zufrieden, von der Regierung Verhandlungen einzufordern. Die Gewerkschaftsverbände CFDT und CGT schlossen sich mit anderen Organisationen (Solidaires, CFTC-CFE/CGC-UNSA-FSU, FO) zu einem Bund zusammen, der mit seiner Zermürbungsstrategie vereinzelte, isolierte Aktionen anführte, die ganz zufällig in dem Momenten stärkerer Radikalisierung der Proteste noch weiter auseinander gezogen wurden, was zur Isolierung der verschiedenen Sektoren im Streik und auch zum Zusammenbruch desselben führte. So verloren die Massenmobilisierungen an Kraft und Rückhalt, wie die letzte Streikwelle am 6.11 zeigte. Der Aufruf zu einer erneuten Demonstration für den 23.11, nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, reiht sich in dieselbe Strategie ein. So schafften sie es, Bestrebungen zu einem Generalstreik, die in einigen verlängerbaren Streiks (die ,Grèves reconductibles‘, d.h., 24stündige Streiks, die verlängerbar und nicht von vornherein befristet sind) von Sektoren der Arbeiterschaft vorangetrieben wurden, abzublocken und erlaubten so außerdem, dass Sarkozy (trotz seiner Schwäche und der großen Unbeliebtheit seiner Regierung) das Gesetz verabschieden konnte.
Erste Anzeichen von Selbstorganisation
Neben den Blockaden und verlängerbaren Streiks, die von zentralen Sektoren der Arbeiterschaft, wie an den Raffinerien, auch ohne Streikaufrufe der Gewerkschaftsführungen geführt wurden, war ein weiteres wichtiges Element, dass das Potenzial dieses Kampfes ausmachte, die entstandene Tendenz zur Selbstorganisation, die wenn auch verspätet, sich im Laufe des Protestes entwickelte. Dieses Bestreben zeigte sich in den berufs- und branchenübergreifenden Zusammenschlüssen (Interprofessionelle) die je nach Region und Stadt stark in ihren Eigenschaften variierten. In diesen interprofessionellen Versammlungen kamen die besten Aktivisten verschiedener sich im Streik befindender Branchen zusammen, oftmals gemeinsam mit SchülerInnen und der universitären Avantgarde, um gemeinsam lokale Aktionen zu diskutieren und eine regionale oder gar nationale Koordinierung der interprofessionellen Versammlungen zu schaffen, die in der Versammlung vom 6.11 in Tours mündeten, an der 22 Delegationen aus ganz Frankreich teilnahmen. Die fortschrittlichste Delegation kam aus der Hafenstadt Le Havre, die auf dem Höhepunkt des Protestes durchaus Elemente einer Koordinierungsfunktion der Komitees und Streikposten übernahm, die mit Mandaten in die Interprofessionelle kamen, die bis zum 5.November 17 Streikschriften veröffentlichte und fast 20.000 Euro für die Streikkasse sammeln konnte.
Wenn diese Tendenzen auch sehr beschränkt waren (jedoch ausgedehnter als in der Streikwelle von 1995) und nicht die Zersplitterung der gewerkschaftlichen Vertretungen insgesamt überwinden konnte oder eine Alternative zu der falschen „gewerkschaftlichen Einheit“ mit der der Kampf verraten wurde, aufzeigen konnte, so stellen diese Tendenzen zur Selbstorganisation doch eine sehr wichtige Erfahrung für die Organisierung der kommenden Kämpfe dar.
Ein tiefgreifender Prozess
Obgleich der erlittenen Niederlage, wird die Verabschiedung des Gesetzes zur Rentenreform kaum ausreichen um den tiefgreifenden Prozess zu beenden, der durch diesen Kampf zum Vorschein trat: Auf eindrucksvolle Art und Weise betraten ArbeiterInnen der Privatwirtschaft in Schlüsselpositionen die politische Arena. Dabei spielte auch eine radikalisierte Jugend eine beachtliche Rolle. Es kam eben zu einem Zusammenspiel, welches die Regierung, die Bourgeoisie und sogar die Gewerkschaftsführungen erschrecken ließ.
Auch wenn die Gewerkschaftsführungen die Rückkehr zur Arbeit an Schlüsselpositionen der Wirtschaft wie den Raffinerien oder der Müllabfuhr durchsetzten konnten, so fiel ihnen diese Aufgabe gar nicht leicht. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Hafenarbeiter von Fos-Lavera (bei Marseille) waren 33 Tage im Streik und sie stimmten erst am 27.10für die Wiederaufnahme der Arbeit. In der Raffinerie Donge von der TOTAL Gruppe musste die Gewerkschaftsführung die geheime Wahl durchsetzten um den Streik am 28.10 aufzuheben, genauso wie in anderen Raffinerien. Eine ähnliche Reaktion zeigten die Arbeiter der Müllabfuhr von Marseille, die widerwillig die Anweisung des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes FO akzeptierten, durch den streikbrecherischen Druck der „heiligen Einheit“ bestehend aus Rechten und der Sozialdemokratie (PS), den Streik aufzulösen, der die sanitäre Lage der Stadt ernsthaft verschlimmert hatte.
Unter den RaffineriearbeiterInnen, bei deren Versammlungen die Zustimmung für eine Aufrechterhaltung des Streiks ausgesprochen hoch war, verbreitet sich rasant die Wut. Wie in einem Artikel der Zeitung Le Monde zum Ausdruck gebracht wird, „wollen sich die Arbeiter, durch ihre neu gewonnene Solidarität gestärkt, trotz der Rückkehr zur Arbeit, nicht geschlagen geben“ (s. Le Monde 29.10.2010).
Insgesamt lässt sich auch im privatwirtschaftlichen Sektor großer und kleinerer Betriebe, die in ihrer Mehrheit nicht gestreikt haben, beobachten, dass die gesamte Bewegung auch hier neue Anstöße und neuen Mut hervorgebracht hat. Dadurch können harte Kämpfe um Lohnerhöhungen und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen sowie gegen Umstrukturierungen (also Werksschließungen und Entlassungen) angestoßen werden, wie es schon Teile der Bourgeoisie befürchten. Wie die Forscherin Evelyne Perrin meint: „was radikal neu ist, ist das Auftreten der Arbeiter aus dem privatwirtschaftlichen Bereich auf der politischen Arena, das erste mal so massiv und eben dort wo sie die Macht zur Blockade der Ökonomie hatten und sie führten dies mit einer einzigartigen Entschlossenheit und Dauer aus (…) Diese Entscheidungskraft über eine Blockade ist neu und hat eine neue Vorstellung mit sich gebracht“ Dieser starke Anstoß hat in einigen Punkten brancheninterne Forderungen durchsetzen können und hat jetzt sogar, trotz der neuen Etappe, dazu geführt, dass Arbeiter des öffentlichen Dienstes wie die Beschäftigten der französischen Agentur für Arbeit Pôle Emploi einen Streik durchführten, wie auch die Leiharbeiter im Dienstleistungssektor an der Eliteschule ENS im Herzen Paris ihre direkte Anstellung und Lohnerhöhungen mit Unterstützung der Schüler fordern, ein Konflikt bei dem die Studierenden und Ehemaligen der CTR (Kollektiv für eine Revolutionäre Strömung) in der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) eine zentrale Rolle spielen.
Die Bereitschaft unter der Mehrheit der Beschäftigten und der Jugend „Schluss damit!“ zu fordern, und die Rentenreform (eine erste Reform einer Reihe von Angriffen, die einen eindeutigen Schritt zur Verschlechterung der Lebensbedingungen bedeuten) nicht durchkommen zu lassen, hat das soziale Klima dieser Tage verändert. Dieser Wandel ist tiefgründig und ist schwerlich durch die aktuelle Etappe, in der Sarkozy sich als vorübergehender Gewinner darstellen kann, aufzuheben.
Die extreme Linke war keine Alternative zur Gewerkschaftsbürokratie
Die „radikale Linke“ Frankreichs zeigte angesichts einer so starken sozialen Bewegung und des politischen Drucks und Reformismus der Gewerkschaftsführungen keine Alternative auf. Die Partei Lutte Ouvrière (LO) weigerte sich, die Losung eines Generalstreiks aufzunehmen und verfolgte während des ganzen Konfliktes eine absolute Nachtrabpolitik, die sich den Gewerkschaftsführungen anbiederte. In ihrem Leitartikel vom 8. November erklärte die LO-Führung unter Arlette Laguiller immer noch, dass „Die Gewerkschaftsverbände durch ihre aufeinanderfolgenden Mobilisierungsaufrufe die Entstehung der Protestbewegung ermöglicht haben“. Die Bilanz, die sie zieht, geht nicht davon aus, dass das Ergebnis auf die Politik der reformistischen Führungen zurückzuführen ist, sondern, dass diese außerordentliche Mobilisierung in einem Moment ungünstiger Kräfteverhältnisse zu Lasten der Arbeiter stattfand, auch wenn sich die Situation langsam ändere. Die LO hält daran fest, obwohl die Sarkozy Regierung unbeliebt und von politischer Schwäche geprägt ist und die Protestbewegung, die Frankreich gerade erschütterte, so mächtig war.
Auch bei der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), obgleich viele ihrer Mitglieder in den ersten Reihen der Blockaden standen und die offizielle Position sich gegen das Rentengesetz und für das Abdanken Sarkozys richtete, war ihre zentrale Ausrichtung nicht auf den Aufruf zum Generalstreik ausgelegt, und in der Praxis gab es letztendlich keine einheitliche politische Ausrichtung.
Die Wortführer der NPA, Olivier Besancenot und Alain Krivine, übten nicht die geringste öffentliche Kritik an der Politik der reformistischen Gewerkschaftsführungen. Auch eine aktive Unterstützung der Bewegung von interprofessionellen Versammlungen wurde mit einigen Ausnahmen nicht von der NPA-Führung angestrebt.
Wir vom Kollektiv für eine Revolutionäre Strömung (CTR) in der NPA haben mit all unseren Kräften an diesem Prozess teilgenommen und immer klar die Notwendigkeit eines Aufrufes zum Generalstreik angeführt um gegen die Reform und die Sarkozy Regierung zu kämpfen. Genauso treten wir für die die Notwendigkeit ein, die Selbstorganisation der Arbeiter durch Vollversammlungen, Streikkomitees und die interprofessionellen Generalversammlungen mit Mandaten auszuweiten, sowie die Einheit zwischen ArbeiterInnen und der Jugend zu fördern. Diese Ziele sind Teil einer Ausrichtung, die die strategischen Spaltungen und den Druck durch die offiziellen Führungen überwinden kann. Sie sind Teil unseres Kampfes um in Richtung einer revolutionären NPA voran zu schreiten, die in der Arbeiterklasse und Jugend verankert ist.
Übersetzung: Antje Berlinger, FT-CI