Demokratie und Faschismus

08.05.2020, Lesezeit 20 Min.
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Anlässlich des 75. Jahrestages der Niederlage des deutschen Faschismus veröffentlichen wir diesen Text von Leo Trotzki. In dieser Schrift bewertet Trotzki die Strategien der Arbeiterparteien zur Bekämpfung des aufsteigenden Nationalsozialismus.

Das XI. EKKI-Plenum fand sich bemüßigt, mit jenen fehlerhaften Auffassungen Schluß zu machen, die sich auf die „liberale Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie, wie auch zwischen den parlamentarischen Formen der bürgerlichen Diktatur und den offen faschistischen Formen …“ stützen. Der Wesenskern dieser Stalinschen Philosophie ist sehr einfach: aus der marxistischen Verneinung eines absoluten Gegensatzes leitet sie die Verneinung des Gegensatzes überhaupt ab, und sei er auch relativ. Das ist der typische Fehler des Vulgärradikalismus. Wenn aber zwischen Demokratie und Faschismus keinerlei Gegensatz besteht, nicht einmal auf dem Gebiet der bürgerlichen Herrschaftsformen, müssen beide Regimes einfach zusammenfallen. Die Schlußfolgerung: Sozialdemokratie = Faschismus. Aus irgendeinem Grunde bezeichnet man indes die Sozialdemokratie als Sozial-Faschismus. Was in diesem Zusammenhang sozial eigentlich bedeutet, hat man uns bis jetzt noch nicht erklärt. 1

Allein die Natur der Dinge wechselt nicht mit den Beschlüssen des EKKI-Plenums. Zwischen Demokratie und Faschismus besteht ein Gegensatz. Er ist durchaus nicht „absolut“ oder, in der Sprache des Marxismus zu reden, bezeichnet durchaus nicht die Herrschaft zweier unversöhnlicher Klassen. Aber es kennzeichnet verschiedene Herrschaftssysteme ein und derselben Klasse. Diese beiden Systeme, das parlamentarisch-demokratische und das faschistische, stützen sich auf verschiedene Kombinationen der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen und geraten unvermeidlich in schroffe Zusammenstöße miteinander.

Die Sozialdemokratie, die heutige Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlichen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeiter-Massenorganisationen keinen Einfluß ausüben. Der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen. Hauptarena der Sozialdemokratie ist das Parlament. Das System des Faschismus fußt auf der Vernichtung des Parlamentarismus. Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen. Doch für die Sozialdemokratie wie für den Faschismus ist die Wahl des einen oder des andern Werkzeugs von selbständiger Bedeutung, mehr noch, die Frage ihres politischen Lebens oder Todes.

Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die „normalen“ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der Gesellschaft nicht mehr ausreichen. durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat. Vom Faschismus fordert die Bourgeoisie ganze Arbeit: hat sie einmal die Methoden des Bürgerkriegs zugelassen, will sie für lange Jahre Ruhe haben. Und die faschistische Agentur, die das Kleinbürgertum als Prellbock benutzt und alle Hemmnisse aus dem Wege räumt, leistet diese Arbeit bis zum Ende. Der Sieg des Faschismus führt dazu, daß das Finanzkapital sich direkt und unmittelbar aller Organe und Einrichtungen der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung bemächtigt: Staatsapparat und Armee, Gemeindeverwaltungen, Universitäten, Schulen, Presse, Gewerkschaften, Genossenschaften. Die Faschisierung des Staates bedeutet nicht nur die Mussolinisierung der Verwaltungsformen und -verfahren – auf diesem Gebiet sind die Veränderungen letzten Endes zweitrangig – sondern vor allem und hauptsächlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes.

Dem Gesagten widerspricht in keiner Weise die Tatsache, daß sich zwischen demokratischem und faschistischem Regime während einer gewissen Periode ein Übergangsregime herausbildet, das Züge des einen und des anderen in sich vereinigt: das ist allgemeine Regel bei der Ablösung zweier sozialer Regimes, selbst wenn sie unversöhnlich miteinander verfeindet sind. Es gibt Augenblicke, wo sich die Bourgeoisie sowohl auf die Sozialdemokratie wie auf den Faschismus stützt, d.h. sich zu gleicher Zeit ihrer versöhnlerischen und ihrer terroristischen Agentur bedient. So in gewissem Sinne die Kerenski-Regierung während der letzten Monate ihrer Existenz: halb stützte sie sich auf die Sowjets, und gleichzeitig verließ sie sich auf die Verschwörung mit Kornilow. [1] So auch die Brüning-Regierung, die auf einem Seile zwischen den beiden unversöhnlichen Lagern tanzt, den Stab der Notverordnungen in den Händen. Doch ein solcher Zustand von Staat und Regierung hat provisorischen Charakter. Er ist Ausdruck der Übergangsperiode, wo die Sozialdemokratie ihre Mission schon beinahe erfüllt hat, während gleichzeitig weder Kommunismus noch Faschismus schon für die Machteroberung bereit sind.

Die italienischen Kommunisten, die sich schön längst mit der Frage des Faschismus hatten beschäftigen müssen, protestierten mehr als einmal gegen den so verbreiteten Mißbrauch mit diesem Begriff. In der Epoche des 6. Kongresses der Komintern entwickelte Ercoli [2] immer noch Ansichten zur Frage des Faschismus, die jetzt als „trotzkistisch“ angesehen werden. Nachdem er den Faschismus als konsequentestes und bis zu Ende geführtes System der Reaktion definiert hatte erläuterte Ercoli: „Diese Feststellung stützt sich nicht auf die unmenschlichen Terrorakte, nicht auf die große Zahl ermordeter Arbeiter und Bauern, nicht auf die Grausamkeit der in großem Maßstab angewandten Foltermethoden, nicht auf die Härte der Urteile, sie gründet sich auf die systematische und totale Unterdrückung jeglicher unabhängiger Organisation der Massen.“ Ercoli hat hier völlig recht: Wesen und Bestimmung des Faschismus bestehen in der vollständigen Beseitigung der Arbeiterorganisationen und in der Verhinderung ihres Wiederentstehens. In den entwickelten Kapitalistischen Gesellschaft ist dieses Ziel durch bloße Polizeimaßnahmen nicht zu erreichen. Der einzige Weg dazu ist, dem Druck des Proletariats – im Augenblick seiner Schwächung – den Druck der verzweifelten kleinbürgerlichen Massen gegenüberzustellen. Eben dieses besondere System kapitalistischer Reaktion ist in die Geschichte unter dem Namen Faschismus eingegangen.

„Die Frage der Beziehungen zwischen dem Faschismus und der Sozialdemokratie“, schreibt Ercoli, „liegt auf derselben Ebene (der Unversöhnlichkeit zwischen Faschismus und Arbeiterorganisationen). „In diesem Punkt unterscheidet sich der Faschismus eindeutig von allen reaktionären Regimes, die sich bis heute in der modernen kapitalistischen Welt durchgesetzt haben. Er weist jeglichen Kompromiß mit der Sozialdemokratie zurück, hat sie hartnäckig verfolgt, hat ihr jede Möglichkeit einer legalen Existenz entzogen und sie zur Emigration gezwungen.“

So lautete ein im leitenden Organ der Komintern abgedruckter Artikel! Danach hat Manuilski Molotow [3] die große Idee der „dritten Periode“ eingegeben. Frankreich, Deutschland und Polen wurden in die „erste Reihe der revolutionären Offensive“ abkommandiert, die Machteroberung zur unmittelbaren Aufgabe erklärt. Da aber vor dem Antlitz des proletarischen Aufstands alle Parteien außer kommunistischen konterrevolutionär sind, bestand keine Notwendigkeit mehr, zwischen Faschismus und Sozialdemokratie zu unterscheiden. Die Theorie vom Sozialfaschismus wurde eingeführt. Die Kominternbeamten rüsteten um. Ercoli eilte zu beweisen, daß ihm die Wahrheit teuer sei, Molotow aber noch teurer, und … er schrieb ein Referat zur Verteidigung der Theorie des Sozialfaschismus. „Die italienische Sozialdemokratie“ erklärte er im Februar 1930, „faschisiert sich äußerst leicht“. Aber ach, noch leichter servilisieren sich die Beamten des offiziellen Kommunismus …

Unsere Kritik an Theorie und Praxis der „dritten Periode“ erklärt man natürlich für konterrevolutionär. die grausame Erfahrung, die das Proletariat teuer zu stehen kam, erzwang allerdings auf diesem Gebiet eine Wendung. Die „dritte Periode“ ward in Ruhestand versetzt, wie Molotow selbst aus der Komintern entlassen wurde. Die Theorie des Sozialfaschismus aber blieb als einzige reife Frucht der dritten Periode. Hier kann es keine Abänderungen geben: mit der dritten Periode hat Molotow sich engagiert; in den Sozialfaschismus ist Stalin selbst verwickelt.

Als Leitmotiv für ihre Forschungen über den Sozialfaschismus hat Die Rote Fahne Stalins Worte erkoren: „Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus.“ Wie bei Stalin üblich, sobald er zu verallgemeinern versucht, widerspricht der erste Satz dem zweiten. Daß die Bourgeoisie sich auf die Sozialdemokratie stützt und der Faschismus eine Kampforganisation der Bourgeoisie darstellt, ist völlig unbestreitbar und schon längst ausgesprochen. Doch daraus erhellt nur, daß Sozialdemokratie wie Faschismus Werkzeuge der Großbourgeoisie sind. Wie dabei die Sozialdemokratie überdies noch den „Flügel“ des Faschismus bildet, ist nicht zu verstehen. Auch die zweite Feststellung des gleichen Autors ist nicht viel tiefsinniger: Faschismus und Sozialdemokratie sind nicht Gegner, sondern Zwillinge. Zwillinge können erbitterte Gegner sein; andererseits müssen Verbündete keinesfalls am gleichen Tag von einer gemeinsamen Mutter geboren sein. Stalins Konstruktion gebricht es sogar an formaler Logik, von Dialektik nicht zu reden. Die Kraft dieser Konstruktion besteht darin, daß niemand ihr widersprechen darf.

Zwischen Demokratie und Faschismus besteht kein Unterschied im „Klasseninhalt“ lehrt nach Stalin Werner Hirsch [4] (Die Internationale, Januar 1932). Der Übergang von Demokratie zu Faschismus kann den Charakter eines „organischen Prozesses“ annehmen, d.h. „allmählich und auf kaltem Wege“ sich vollziehen. diese Erwägung würde verblüffend klingen, hätten uns die Epigonen das Staunen nicht abgewöhnt.

Zwischen Demokratie und Faschismus besteht kein „Klassenunterschied“. Das soll offenbar bedeuten, daß die Demokratie, wie der Faschismus bürgerlichen Charakters ist. Das haben wir auch vor dem Januar 1932 gewußt! Aber die herrschende Klasse lebt nicht im luftleeren Raum. Sie steht in bestimmten Beziehungen zu den übrigen Klassen. Im „demokratischen“ Regime der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft stützt sich die Bourgeoisie vor allem auf die von den Reformisten im Zaume gehaltene Arbeiterklasse. Am vollendetsten kommt dieses System in England zum Ausdruck, bei der labouristischen wie bei der konservativen Regierung. Im faschistischen Regime stützt sich das Kapital, zumindest im ersten Stadium, auf das Kleinbürgertum, das die Organisationen des Proletariats vernichtet. Das ist das italienische Beispiel! Besteht ein Unterschied im „Klasseninhalt“ dieser beiden Regimes? Stellt man lediglich die Frage nach der herrschenden Klasse, so ist kein Unterschied vorhanden. Nimmt man Lage und Wechselbeziehungen aller Klassen, so zeigt sich – vom Standpunkt des Proletariats – ein beträchtlicher Unterschied.

Im Laufe vieler Jahrzehnte haben die Arbeiter innerhalb der bürgerlichen Demokratie, unter deren Ausnutzung und im Kampf mit ihr, eigene Festungen, eigene Grundlagen, eigene Zentren der proletarischen Demokratie geschaffen: Gewerkschaften, Parteien, Bildungsklubs, Sportorganisationen, Genossenschaften usw. Das Proletariat kann nicht im formellen Rahmen der bürgerlichen Demokratie an die Macht kommen, sondern nur auf revolutionärem Wege; das ist durch Theorie und Praxis gleichermaßen erwiesen. Aber gerade für den revolutionären Weg braucht es die Stützpunkte der Arbeiterdemokratie innerhalb des bürgerlichen Staates. Auf die Schaffung solcher Basen lief ja die Arbeit der Zweiten Internationale in jener Epoche hinaus, als sie noch eine progressive historische Arbeit versah.

Der Faschismus hat zur grundlegenden und einzigen Bestimmung, bis aufs Fundament alle Einrichtungen der proletarischen Demokratie zu zerstören. Hat dies für das Proletariat einen „Klassensinn“ oder nicht? Mögen die hohen Theoretiker darüber nachdenken. Während er das Regime bürgerlich nennt – was unbestreitbar ist – vergißt Hirsch gleich seinen Lehrmeistern eine Kleinigkeit: den Platz des Proletariats in diesem Regime. den historischen Prozeß ersetzen sie durch eine nackte soziologische Abstraktion. Doch der Klassenkampf wird auf dem Erdboden der Geschichte geführt und nicht in der Stratosphäre der Soziologie. Ausgangspunkt für den Kampf mit dem Faschismus ist nicht die Abstraktion des demokratischen Staates, sondern sind die lebendigen Organisationen des Proletariats selbst, in denen seine ganze Erfahrung konzentriert ist und die seine Zukunft vorbereiten.

Daß der Übergang von Demokratie zu Faschismus „organischen“ und „allmählichen“ Charakter haben, bedeutet offenbar nichts anderes, als daß man dem Proletariat nicht nur alle materiellen Eroberungen, d.h. seine Organisationen, ohne Erschütterungen und ohne Kampf abnehmen kann. Unter Übergang zum Faschismus „auf kaltem Wege“ wird somit die schrecklichste politische Kapitulation des Proletariats verstanden, die man sich überhaupt vorstellen vermag.

Die theoretischen Erwägungen Werner Hirschs sind nicht zufällig: während sie Stalins theoretische Orakel weiterentwickeln, verallgemeinern sie gleichzeitig die gesamte gegenwärtige Agitation der Kommunistischen Partei. Deren Hauptanstrengung ist ja jetzt darauf gerichtet, zu beweisen, daß zwischen Brüning-Regime und Hitler-Regime kein Unterschied besteht. Darin sehen augenblicklich Thälmann und Remmele die Quintessenz der bolschewistischen Politik.

Die Sache beschränkt sich nicht bloß auf Deutschland. Die Idee, der Sieg des Faschismus werde nichts Neues bringen, wird jetzt eifrig in allen Sektionen der Komintern propagiert. Im Januarheft der französischen Zeitschrift Cahiers du Bolchévisme lesen wir: „Die Trotzkisten, die in der Praxis wie Breitscheid [5] handeln, übernehmen jetzt die berühmte Theorie der Sozialdemokratie vom kleineren Übel, nach der Brüning nicht so schlecht sei wie Hitler, nach der unter Brüning Hungers zu sterben weniger unangenehm sei als unter Hitler und unendlich vorteilhafter, von Groener erschossen zu werden als von Frick.“ Dieses Zitat ist nicht das dümmste, obwohl – um gerecht zu sein – dumm genug. Doch leider kommt darin das Wesen der politischen Philosophie der Kominternführer zum Ausdruck.

Die Stalinisten vergleichen die beiden Regimes unter dem Gesichtswinkel der Vulgärdemokratie. In der Tat, geht man an das Brüning-Regime mit formal-“demokratischen“ Kriterien heran, ergibt sich der unwiderlegbare Schluß: von der stolzen Weimarer Verfassung sind nichts als Haut und Knochen geblieben. Doch für uns entscheidet das die Frage noch nicht. Man muß sie vom Standpunkt der proletarischen Demokratie betrachten. Dies ist das einzig verläßliche Kriterium auch für die Frage, wo und wann die „normale“ Polizeireaktion des verfaulenden Kapitalismus durch das faschistische Regime ersetzt wird.

Ob Brüning besser ist als Hitler (etwa sympathischer?), diese Frage interessiert uns, wie wir gestehen müssen, wenig. Es genügt aber, die Liste der Arbeiterorganisationen anzusehen, um zu sagen: in Deutschland hat der Faschismus noch nicht gesiegt. Noch stehen gigantische Hindernisse und Kräfte seinem Sieg im Wege.

Das gegenwärtige Brüning-Regime ist das Regime einer bürokratischen Diktatur, besser: der mit militärisch-polizeilichen Mitteln verwirklichten Diktatur der Bourgeoisie. Das faschistische Kleinbürgertum und die proletarische Avantgarde halten einander gleichsam die Waage. Wären die Arbeiterorganisationen in Räteorganisationen vereinigt, würden die Betriebsräte um Produktionskontrolle kämpfen, so könnte man von Doppelherrschaft sprechen. Durch die Zerstückelung des Proletariats und die taktische Hilflosigkeit seiner Avantgarde sind wir noch nicht soweit. Doch die bloße Tatsache des Vorhandenseins machtvoller Arbeiterorganisationen, die unter bestimmten Bedingungen dem Faschismus vernichtenden Widerstand leisten können, hält Hitler von der Macht ab und verleiht dem bürokratischen Apparat eine gewisse „Unabhängigkeit“.

Die Brüning-Diktatur ist eine Karikatur auf den Bonapartismus. Diese Diktatur ist unbeständig, unsicher, kurzlebig. Sie bedeutet nicht den Beginn eines neuen sozialen Gleichgewichts, sondern kündigt den Zusammenbruch des alten an. Unmittelbar auf eine kleine bürgerliche Minderheit gestützt, von der Sozialdemokratie gegen den Willen der Arbeiter toleriert, bedroht vom Faschismus, ist Brüning zu Verordnungsdonnern fähig, nicht aber zu realeren. Das Parlament mit dessen eigener Zustimmung aufzulösen, einige Verordnungen gegen die Arbeiter zu erlassen, den Weihnachts-Burgfrieden zu dekretieren, um unter dessen Hülle einige Bescherungen vorzunehmen, hundert Versammlungen aufzulösen, ein Dutzend Zeitungen einzustellen, mit Hitler Briefe, würdig eines Provinzapothekers, zu wechseln – das ist alles, was Brüning kann. Weiter reicht sein Arm nicht.

Brüning muß die Existenz der Arbeiterorganisationen tolerieren, sofern er nicht heute schon Hitler die Macht übergeben will und sofern er nicht über eigene Kräfte zu deren Liquidierung verfügt. Brüning muß die Faschisten dulden und begünstigen, sofern er den Sieg der Arbeiter auf den Tod fürchtet. Das Brüning-Regime ist ein Übergangsregime, ein Regime von kurzer Dauer, das der Katastrophe vorausgeht. Die gegenwärtige Regierung kann sich nur deshalb halten, weil es zwischen den Hauptlagern noch zu keinem Kräftemessen gekommen ist. Der richtige Kampf hat noch nicht begonnen. Er steht noch bevor. Die Pause bis zum Kampf, bis zum offenen Kräftemessen, füllt die Diktatur der bürokratischen Ohnmacht aus.

Die Weisen, die sich dessen rühmen, daß sie keinen Unterschied „zwischen Brüning und Hitler“ kennen, sagen in Wirklichkeit: ob unsere Organisationen noch bestehen oder ob sie zertrümmert sind, ist ohne Bedeutung. Hinter dieser scheinradikalen Phraseologie versteckt sich die niederträchtigste Passivität: einer Niederlage können wir nicht entgehen! Man lese nur aufmerksam das Zitat aus der Zeitschrift der französischen Stalinisten: das ganze Problem läuft darauf hinaus, unter wem es sich besser hungern läßt, unter Brüning oder unter Hitler. Wir aber stellen die Frage nicht so: wie und unter welchen Bedingungen läßt sich besser sterben, sondern: wie müssen wir kämpfen und siegen? Unsere Schlußfolgerung ist: die Hauptschlacht muß geliefert werden, ehe Brünings bürokratische Diktatur vom faschistischen Regime abgelöst wird, das heißt, bevor die Arbeiterorganisationen vernichtet sind. Auf die Hauptschlacht muß man sich vorbereiten durch Weitertreiben, Verbreitern und Verschärfen der Teilkämpfe. Dazu braucht man eine richtige Perspektive und darf vor allem nicht den Feind zum Sieger erklären, der vom Siege noch weit entfernt ist.

Das ist der Kern der Frage, hier ist der strategische Schlüssel zur Lage, hier ist der Ausgangspunkt für den Kampf. Jeder denkende Arbeiter und um so mehr jeder Kommunist ist verpflichtet, sich Rechenschaft abzulegen über die ganze Leere, die ganze Nichtigkeit des faulen Geredes der Stalinschen Bürokratie, Brüning und Hitler seien dasselbe. Das heißt die Dinge verwirren!, antworten wir ihnen. Schändlich verwirren aus Angst vor den Schwierigkeiten, aus Angst vor den großen Aufgaben. Ihr kapituliert, ohne den Kampf aufgenommen zu haben, ihr erklärt, wir hätten bereits eine Niederlage erlitten. Ihr lügt! Die Arbeiterklasse ist gespalten, geschwächt durch die Reformisten, desorientiert durch die Schwankungen der eigenen Avantgarde, aber noch nicht geschlagen, ihre Kräfte sind nicht erschöpft. Nein, Deutschlands Proletariat ist mächtig. Die optimistischsten Berechnungen werden beträchtlich überboten werden, wenn seine revolutionäre Energie sich den Weg zur Arena der Aktion bahnt.

Brünings Regime ist ein Regime der Vorbereitung. Wofür? Entweder für den Sieg des Faschismus oder für den Sieg des Proletariats. Es ist ein Vorbereitungsregime, weil beide Lager sich auf den entscheidenden Kampf erst vorbereiten. Brüning mit Hitler zu identifizieren bedeutet, die Situation vor dem Kampfe mit der Situation nach der Niederlage zu identifizieren; bedeutet, im voraus die Niederlage als unvermeidlich zu betrachten; bedeutet die Aufforderung, kampflos zu kapitulieren.

Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter, besonders der Kommunisten, will das nicht. Auch die Stalinsche Bürokratie will es natürlich nicht. Doch man muß nicht von den guten Absichten ausgehen, mit denen Hitler die Straßen zu seiner Hölle pflastern wird, sondern von der objektiven Bedeutung der Politik, ihrer Richtung und ihrer Tendenzen. Es ist nötig, den passiven, ängstlich abwartenden, kapitulationsbereiten, deklamatorischen Charakter der Politik Stalin-Manuilski-Thälmann-Remmeles zu entlarven! Die revolutionären Arbeiter müssen es begreifen: der Schlüssel zur Situation liegt bei der Kommunistischen Partei; aber die Stalinsche Bürokratie versucht, mit diesem Schlüssel das Tor zur revolutionären Tat zu verschließen.

Fußnote

1. Metaphysiker (antidialektisch denkende Menschen) haben für ein und dieselbe Abstraktion zwei, drei und mehr, einander oft vollständig widersprechende Bestimmungen. „Demokratie“ überhaupt und „Faschismus“ überhaupt unterscheiden sich, wie wir gehört haben, durch nichts voneinander. Dafür muß es aber auf der Welt noch eine „Diktatur der Arbeiter und Bauern“ (für China, Indien, Spanien) geben. Eine proletarische Diktatur? Nein! Eine kapitalistische Diktatur? Nein! Also welcher Art? Demokratisch! Es zeigt sich, daß noch eine reine, über den Klassen stehende Demokratie auf der Welt besteht. aber das XI. EKKI-Plenum hat doch erklärt, daß sich Demokratie und Faschismus voneinander nicht unterscheiden. Unterscheidet sich also die „demokratische Diktatur“ von … faschistischer Diktatur.

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