Debatte um Kindergrundsicherung: Lindner wendet den Konflikt rassistisch

23.08.2023, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: Heide Pinkall / Shutterstock.com

In dem andauernden Konflikt innerhalb der Bundesregierung über die Höhe der geplanten Kindergrundsicherung sorgt Finanzminister Christian Lindner für Schlagzeilen, indem er die Debatte rassistisch verdreht.

Es wird bereits seit Monaten in der Ampelregierung gestritten. Eigentlich hatte sich die Koalition in ihrem Vertrag auf die Einführung einer Kindergrundsicherung geeinigt, die bisherige Leistungen zusammenfassen, entbürokratisieren und erhöhen soll. Doch die Versuche der Umsetzung gestalten sich bisher konfliktreich. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) forderte in ihrem ersten Entwurf für die Finanzierung dieser Grundsicherung mindestens zwölf Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt. Bereits im Juli hatte sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) bei dieser Summe aber quer gestellt und höchstens zwei Milliarden Euro zugesichert. Nach Vermittlungen durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) korrigierte Paus die Summe in ihrem 90-seitigen Entwurf vom 11. August bereits drastisch nach unten, auf nur noch 3,5 Milliarden Euro pro Jahr. Auch dies ist dem Finanzminister noch zu viel. Er will an seinem Sparkurs festhalten, der bereits für andere Sozialleistungen, Krankenhäuser, Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen große negative Auswirkungen hat. Als Reaktion auf die Blockade des Finanzministers blockierte die Familienministerin ihrerseits in der Kabinettssitzung am vergangenen Mittwoch eines von Lindners Herzensprojekten: das sogenannte „Wachstumschancengesetz“, welches mittels Steuersenkungen für Unternehmen die schwächelnde Konjunktur ankurbeln soll. Olaf Scholz ist sichtlich unzufrieden mit den öffentlich ausgetragenen Konflikt in seiner Regierung und ruft die Parteien zur Zurückhaltung auf: „Vielleicht gewöhnt sich der eine oder andere dann daran, erst dann zu reden, wenn die Verständigungen gelungen sind.“ Am Samstag signalisierte Scholz aber, dass sich die Regierung jetzt „sehr schnell“ einigen werde.

Doch am selben Wochenende setzte Lindner noch einen drauf. Er halte es „vielleicht mindestens für diskussionswürdig“, doch eher darüber nachzudenken, ob man nicht stärker in die Integration und Sprachförderung und die Finanzierung von Kitas und Schulen investieren sollte, „damit die Kinder aufholen können, was die Eltern nicht leisten können.“ Er sei sich nicht sicher, fügte er hinzu, ob „mehr Geld an die Eltern zu geben, zwingend die Chancen von Kindern und Jugendlichen verbessert.“

Für diese Aussage, die Kinderarmut mit Migrationshintergrund und der fehlenden „Leistungsfähigkeit“ von Migrant:innen verknüpft, erntete er in den vergangenen Tagen bereits viel Kritik. Der Chef des paritätischen Gesamtverbands Ulrich Schneider hält Lindners Äußerungen für „unsäglich“ und nennt sie einen „Affront gegen Kinder“, er spiele damit die Kinder unnötig gegeneinander aus. Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang wies darauf hin, dass Kinderarmut bereits vor der vermehrten Ankunft von Geflüchteten 2015 ein Problem war. Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Clara Anne Bünger sagte: „Die Debatte um die Kindergrundsicherung mit rassistischen Narrativen aufzuladen, ist gefährlich und verantwortungslos.“ Doreen Siebernik, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), hält Lindners Aussagen für eine „Nebelkerzendiskussion“ und fordert eine möglichst ausfinanzierte Kindergrundsicherung.

Die Verteidiger:innen von Lindners Aussage verweisen auf statistisches Material der Bundesagentur für Arbeit, nach welchen es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Kinderarmut gibt und diese in den letzten Jahren auch zugenommen hat. Während die Zahl migrantischer Kinder, die Hartz IV bzw. Bürgergeld erhalten, im Dezember 2010 bei rund 305.000 lag, waren es im Dezember 2022 schon rund 884.000. Die größte Gruppe unter ihnen bilden ukrainische Geflüchtete mit rund 275.500. Sie können aufgrund ihres besseren rechtlichen Status gegenüber Geflüchteten aus anderen Kriegs- und Krisengebieten direkt Bürgergeld beziehen. Die zweitgrößte Gruppe bilden syrische Geflüchtete. Lindner sagt nun auf der Grundlage dieser Daten, dass es einen „ganz klaren Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut gibt.“ Er möchte dabei suggerieren, dass es irgendwie an den Zugewanderten liege, dass ihre Kinder arm seien. Dies versucht er mit ihrer angeblich verminderten „Leistungsfähigkeit“ zu begründen. Auch traut er es den Eltern offenbar nicht zu, sich besser um ihre Kinder zu kümmern, wenn sie mehr Geld vom Staat erhalten würden. Hier suggeriert er, dass migrantische Eltern das Geld lieber für sich behalten würden, anstatt damit ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Um den Eltern also den „richtigen“ Umgang mit Geld und mit ihren Kindern beizubringen, fordert er statt höherer Sozialleistungen Sprachkurse und Bildung.

Lindner lügt

Die Argumentation des Finanzministers verlässt bereits bei seiner Ausgangsprämisse den Rahmen einer rationalen Debatte und begibt sich ganz eindeutig auf das Feld rassistischer Hetze. Seine Argumentation unterscheidet sich hier nicht von derjenigen der AfD. Geflüchtete werden für die Armut, die sie häufig in Deutschland leiden müssen, selbst verantwortlich gemacht. So wird versucht, die Arbeiter:innenklasse zu spalten, und verschiedene Sektoren werden bewusst aufeinander gehetzt, um sie damit von ihren gemeinsamen Interessen abzulenken. Zwar stimmt es, dass migrantische Familien häufiger arm sind, aber das liegt nicht etwa an ihrer vermeintlichen Faulheit, sondern an einem System, welches rassistische Stereotype und eine diskriminierende Gesetzgebung ganz bewusst zum Lohndumping einsetzt, indem es ganze Sektoren künstlich „migrantisiert“. So werden etwa migrantische Menschen durch die Nichtanerkennung ihrer im Ausland erworbenen Abschlüsse aus besser bezahlten Berufen ferngehalten. Migrantische Menschen haben aufgrund von rassistischen Ressentiments, auch wenn sie hohe Bildungsabschlüsse haben, viel größere Schwierigkeiten, in Deutschland hochbezahlte Jobs zu bekommen. Noch schlimmer steht es um Asylbewerber:innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Sie haben keinen Zugang zu den vollen Sozialleistungen und ihnen wird häufig gleichzeitig die Arbeitserlaubnis verweigert oder sie werden durch die ständige Gefahr der Abschiebung für Unternehmen zu unsicheren Jobkandidat:innen und erfahren damit noch mehr Nachteile auf dem Arbeitsmarkt.

Ein Staat, der auf diese rechtliche, politische und ökonomische Weise migrantische Menschen davon abhält, gleichberechtigt Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten, wird also ganz automatisch solche Statistiken hervorbringen, wie diejenige, auf die sich Christian Lindner bezieht. Auf die Spitze treibt es die Tatsache, dass Lindners eigene Kürzungspolitik in Schulen und sozialen Bereichen sowie seine kürzliche Streichung der „Bildungsberatung Garantiefonds Hochschule“ (GF-H) für Geflüchtete genau dort schadet, wo er Chancen sieht, die angeblich mangelnde Leistungsfähigkeit der Eltern aufzuholen. Lindner kritisiert hier also nichts anderes als die Effekte seines eigenen politischen Handelns. Dies offenbart, dass es ihm hier nicht um migrantische Kinder geht, sondern um die rassistische Ablenkung seiner eigenen Blockade der ausreichend finanzierten Kindergrundsicherung.

Selbst zwölf Milliarden Euro wären zu wenig

In Deutschland lebt jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze. Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Eine gut ausfinanzierte Kindergrundsicherung wäre zwar sehr zu begrüßen, aber ist weit davon entfernt auch dieses größere Problem zu lösen. Es bekämpft stattdessen nur das Symptom dieser Armut und versucht, den Kindern „Chancengleichheit“ zu ermöglichen. Gleiche Chancen heißt aber noch lange nicht ökonomische Gleichheit, sondern nur die Beseitigung der größten und sichtbarsten Ungerechtigkeiten. Kinder aus reichen Elternhäusern werden weiterhin gigantische Vorteile bei Bildung, Studium und Jobausichten haben. Doch selbst zu dieser minimalen Verbesserung wären 3,5 Milliarden Euro pro Jahr viel zu wenig. Annette Stein von der Bertelsmann Stiftung sagte im Deutschlandfunk, dass mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr nötig wären, damit Kinder mehr oder weniger chancengleich aufwachsen können. Es reiche heute gerade einmal „maximal zum Überleben und nicht zum Leben und teilhaben“. Dies sei unter Armutsforscher:innen bereits seit mehr als zehn Jahren bekannt und genauso lange ginge bereits die Diskussion. Es sei am Ende eine politische Frage, so Stein, wie viel die Gesellschaft ihren Kindern zugestehen möchte. Lindners Vorstoß gibt darauf eine sehr klare Antwort: nur das unbedingt Notwendige, damit immerhin niemand verhungert. Auch die ursprünglichen zwölf Milliarden Euro, die Paus vorgeschlagen hatte, wären nur eine notdürftige Stopfung eines eigentlich viel größeren Loches. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert 12,5 Milliarden Euro und bleibt damit auch viel zu weit hinter dem eigentlichen Bedarf zurück.

Was in der gesamten Debatte um die Kinderarmut und die Grundsicherung ausgeblendet wird, ist, dass die gesamtgesellschaftliche Armut in Deutschland ebenfalls etwa ein Fünftel beträgt. Gegen dieses Problem scheint niemand ernsthaft vorgehen zu wollen. Dabei würde sich die Kinderarmut von selbst erledigen, wenn es keine armen Eltern mehr geben würde. Doch hier macht die kapitalistische Gesellschaft eine Ausnahme: Ein arbeitsfähiger Erwachsener hat alle „Chancen“ und Möglichkeiten und ist „seines eigenen Glückes Schmied“. Er hat kein Leben ohne Armut verdient, wenn er nicht willens oder in der Lage ist, genügend Geld zu verdienen. Die Kinderarbeit ist in Deutschland auf Druck der Gewerkschaften abgeschafft worden, daher werden sie für eine (möglichst kurze) Zeit vor den brutalen Auswirkungen des „Wolfsgesetzes“ des Kapitalismus geschützt. Alle anderen müssen selbst sehen, wo sie bleiben.

Die Armut an der Wurzel packen

Um also der gesamtgesellschaftlichen Armut etwas Wirksames entgegenzusetzen, bedarf es zusätzlich zur Kindergrundsicherung eines Maßnahmenpakets ganz anderer Größenordnung. Zunächst einmal müssten die Schlupflöcher für Unternehmen gestopft werden, die Menschen unterhalb der Armutsgrenze bezahlen. Ein Kampf gegen Outsourcing, Scheinselbstständigkeit und Leiharbeit würden die Bedingungen in besonders prekären Sektoren merklich verbessern. Berufe in der Pflege und Erziehung, in der Gebäudereinigung, bei der Post und im öffentlichen Nahverkehr müssen dafür insgesamt besser bezahlt werden. Kürzungen in sozialen und kulturellen Bereichen müssen sofort zurückgenommen werden. Die zentralen Arbeiten der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge können nicht den Profitinteressen der Konzerne überlassen werden: Post, Krankenhäuser, Nahverkehr, etc. müssen unter der Kontrolle der Beschäftigten in die Hände des Staates zurückgeführt werden. Ihre Ausfinanzierung muss sichergestellt werden. Sämtliche Sozialleistungen müssen erhöht werden, statt an ihnen zu sparen.

Christian Lindner argumentiert mit Geldmangel, um Sozialleistungen nicht erhöhen zu müssen, doch all dies ließe sich ohne weiteres finanzieren, wenn die Regierung eine Vermögenssteuer einführen würde. In Deutschland besitzen die 45 reichsten Familien so viel Vermögen wie 40 Millionen Lohnabhängige. Allein während der Pandemie ist das Vermögen der zehn reichsten Personen um 100 Milliarden Euro gewachsen, während die Armutsquote mit 16 Prozent einen Rekordwert erreichte. Dabei ist die Steuerlast sehr ungleich verteilt. Für das Jahr 2023 werden rund 28 Milliarden Euro Steuereinnahmen erwartet, etwas mehr als im vergangenen Jahr. Der größte Anteil dieser Summe kommt vom Landesanteil an Lohnsteuer (2 Milliarden Euro) und Umsatzsteuer (2,8 Milliarden Euro). Diese Steuern treffen unmittelbar die arbeitende Bevölkerung, Rentner:innen und Arbeitslose. Um so mehr jetzt, während einer historisch hohen Inflation. Derweil zahlen deutsche Superreiche keinen Cent Steuern auf ihr Privatvermögen. In anderen europäischen Staaten wie Frankreich oder Großbritannien gibt es zwar eine Vermögenssteuer, doch die ist proportional so gering, dass sie das riesige Loch im Staatshaushalt, was die finanzielle Subventionierung durch Steuerfreiheit der Superreichen nicht einmal im Ansatz ausgleichen kann.

Auch andere Linke und sogar Liberale fordern die Vermögenssteuer und eine Umverteilung von oben nach unten. Doch niemand unter ihnen hat einen Plan, wie sie es gegen den massiven Widerstand des Kapitals, seiner Lobbyorganisationen, seiner Parteien in der Regierung, seiner Polizei und Armee durchsetzen sollen. Das Verhalten der Ampel zeigt einmal mehr: Eine bürgerliche Regierung würde nie mit der notwendigen Radikalität die Superreichen zur Kasse bitten. Sie wollen nicht die Grenzen des Privateigentums antasten, obwohl nur dies eine Perspektive auf eine gerechtere Gesellschaft eröffnen könnte. Allein eine Arbeiter:innenregierung könnte diese Maßnahmen ergreifen und gestützt auf eine Massenbewegung Besteuerung und schließlich Enteignung durchsetzen, die den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft einläuten. Nur in einer solchen Gesellschaft, in der statt der Diktatur des Kapitals, die Demokratie der Produzent:innen den Ton angibt, wäre Armut überhaupt undenkbar. Alle gesellschaftliche Produktion wäre statt auf Profitmaximierung auf die möglichst umfassende Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung im Einklang mit der Natur gerichtet.

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