Debatte mit der GAM: Ein abstraktes Programm schützt nicht vor Anpassungen an den Reformismus
Wir veröffentlichen einen Debattenbeitrag mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht über tiefgreifende Differenzen in Fragen von Programm und Partei.
Bestimmt ein knappes Dutzend trotzkistische Gruppen gibt es links der LINKEN. Und so wird auch immer wieder die berechtigte Frage gestellt, warum diese ganzen Gruppen eigentlich nicht fusionieren. Besonders der Gruppe Arbeiter:innenmacht (GAM) und unserer Organisation, der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO), wird – vermutlich auch durch viele gemeinsame Aktionen und Auftritte – immer wieder eine gewisse Nähe zugesprochen.
Doch auch, wenn unsere Programme auf dem Papier an vielen Stellen für manche ähnlich erscheinen, unterscheiden sich unsere Strategien. Unserer Meinung nach hat die GAM ein abstraktes Verständnis von Programm und passt sich immer wieder „taktisch“ an den Reformismus an. Diese These möchten wir in diesem Debattenbeitrag nicht nur belegen, sondern auch unserem Konzept der Sowjetischen Strategie entgegenstellen.
Es geht uns in diesem Artikel auf keinen Fall darum, die Genoss:innen der GAM zu diskreditieren, sondern eine ernsthafte Debatte zwischen unseren Strategien auszutragen. Wir verschieben an dieser Stelle die anderen großen Differenzen auf zukünftige Debattenbeiträge, um den Rahmen dieses Artikels nicht völlig zu sprengen.
Woran ist die NPA gescheitert?
Ein lehrreiches Beispiel über die Beziehung zwischen Programm, Taktik und Strategie zeigt sich in der Bilanz der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich. Diese gründete sich 2009 als ein breites antikapitalistisches Projekt. Erklärtes Ziel der damaligen Mehrheit der NPA, Mitglieder der aufgelösten Revolutionär-Kommunistischen Liga (LCR), war es, alle antikapitalistischen Strömungen zu vereinen, und so den Einfluss der radikalen Linken auf die französische Politik zu stärken. Daraufhin traten verschiedenste Strömungen und Gruppierungen der NPA bei.
Allerdings taten sie dies ohne eine klare strategische Vorstellung vom Aufbau einer revolutionären Partei oder auch nur der Notwendigkeit einer Revolution. Heute liegt die Partei in Trümmern. Schon zur Zeit ihrer Gründung gab es in der NPA einen starken Druck der Anpassung an den Reformismus, mit dem Aufstieg von reformistischen oder linkspopulistischen Kräften wie die verschiedenen Projekte Jean-Luc Mélenchons.
Dies drückte sich beispielsweise in verschiedenen Brüchen von wichtigen NPA-Figuren nach rechts und ihrem Eintritt in Mélenchons Projekt La France insoumise (unbeugsames Frankreich) aus. Schon im ersten großen Klassenkampf nach der NPA-Gründung – dem Kampf gegen die Rentenreform 2010 – spielte die NPA als Gesamtorganisation praktisch keine Rolle, ebensowenig in verschiedenen kämpferischen Streiks seitdem, insbesondere mit Beginn des neuen Klassenkampfzyklus in Frankreich seit 2016.
An der Bewegung der Gelbwesten wollte die NPA als Gesamtorganisation sowie die meisten ihrer Strömungen nicht aktiv teilnehmen, und im Eisenbahn-Streik gegen die Rentenreform 2019/20 spielte die Organisation ebenfalls kaum eine Rolle. Das sieht auch die GAM so:
In der Tat war es der Klassenkampf – die Frage des antimuslimischen Rassismus, die Frage der Taktik in den Gewerkschaften und die Herausforderung einer wieder auftauchenden reformistischen Linkspartei –, der die Notwendigkeit einer programmatischen, d. h. strategischen und taktischen Vereinheitlichung mit sich brachte.
Unsere französischen Genoss:innen, arbeiteten bis zu ihrem Ausschluss im Jahr 2021 als Revolutionär-Kommunistische Strömung (CCR) in der NPA. Sie haben in dieser gesamten Zeit immer wieder die Notwendigkeit einer strategischen Ausrichtung auf den Aufbau einer revolutionären Partei und eine Intervention in die fortschrittlichsten Klassenkampfphänomene betont.
So konnten wir unter anderem mit unserer Zeitung Révolution Permanente zu einem wichtigen Sprachrohr gegen die Repression der Gelbwestenbewegung und gegen rassistische Polizeigewalt werden, und eine wichtige Rolle im Aufbau von Koordinierungsinstanzen im Kampf der Eisenbahner:innen 2019/20 spielen. Die historische Führung der NPA jedoch wollte sich immer eine Hintertür für Verabredungen mit reformistischen Projekten offenhalten. Gruppen, die dazwischen standen, wie Antikapitalismus & Revolution (A&R) oder L’Étincelle/FLO (die französische Schwesterorganisation der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO) in Deutschland), beschworen immer wieder die Einheit der NPA und forderten eine Rückkehr zum ursprünglichen Projekt der NPA von 2009. Die reformistische Abweichung der NPA-Führung gibt die GAM auch zu, indem sie schreibt, dass die NPA-Führung sich „bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich; FI)“1 beteiligt.
Die prinzipienlose Einheit der NPA ist ordentlich schief gegangen. Ende 2022 kam es zur Spaltung und die These unserer französischen Genoss:innen bestätigte sich. Der diffuse strategische Fokus, der nicht die Unabhängigkeit und Zentralität der Arbeiter:innenklasse in den Mittelpunkt gestellt hatte, führte zu einer Anpassung der NPA an den Reformismus.
Das gibt die GAM mittlerweile auch zu:
Trotz dieser gravierenden Probleme ist die von Plattform B [der historischen NPA-Führung, A.d.A.] vorgeschlagene ‚einvernehmliche Trennung‘ eine absolute Travestie, ein zynisches bürokratisches Manöver, um die Opposition loszuwerden und die Kontrolle über den Apparat zu behalten. Warum also jetzt? Ganz einfach, weil sie denkt, dass es einen größeren Fisch zu fangen gibt! Der Aufstieg von LFI/NUPES scheint eine neue Perspektive zu eröffnen – nämlich die Möglichkeit, über ihre Listen Sitze im Parlament und in regionalen und kommunalen Versammlungen zu erhalten.
Die NPA ist angesichts der erneuten Spaltung durch die fehlende strategische Trennlinie und den schwammigen Fokus zwischen Reformismus und Klassenkampf nur noch ein Schatten der Vergangenheit.
Die GAM zieht jedoch keine tiefgründige Bilanz aus diesen Erfahrungen. Sie schaut nur auf die geschriebenen Programme, vergleicht sie und sieht keinen Unterschied2. Die GAM suggeriert sogar, es hätte nur mehr Diskussion gebraucht, um die NPA zu retten:
Die NPA wurde auf der Grundlage einer schwachen Grundsatzerklärung gegründet, mit dem Versprechen, eine ernsthafte programmatische Diskussion anzustoßen. Diese Diskussion fand jedoch nie statt, und die mehr oder weniger getrennte Existenz verschiedener Fraktionen innerhalb der NPA wurde auf der Grundlage ‚diplomatischer Vereinbarungen‘ akzeptiert. Es war ein auf Sand gebautes Haus, das den Stürmen und Erschütterungen des politischen Alltags nicht standhalten konnte, geschweige denn dem sich verschärfenden Klassenkampf.3
Zunächst ist es nicht so, dass in der NPA niemals Diskussionen stattgefunden haben. Im Gegenteil: gerade unsere Schwesterorganisation betonte immer wieder die Notwendigkeit, diese strategische und programmatische Klärung voranzutreiben. Doch es war gerade der Wunsch nach „Einheit“ der anderen Strömungen, der diese Diskussion immer wieder blockiert hat.
Am deutlichsten zeigte sich dies in der Diskussion um die Präsidentschaftskandidatur der NPA 2022: Die historische NPA-Führung wollte mit Philippe Poutou einen Kandidaten aufstellen, der schon bei den Regionalwahlen ein Bündnis mit Mélenchons linkspopulistischer Wahlfront suchte. Ein Teil der NPA-Führung stellte sich sogar gegen eine eigene Kandidatur und wollte direkt Mélenchon unterstützen.
Angesichts dieses politischen Drucks der Parteirechten hat sich unsere Schwesterorganisation Révolution Permanente/CCR entschieden, ihre unabhängige, revolutionäre und klassenkämpferische Linie zu verteidigen. Deshalb schlugen sie Anasse Kazib als Präsidentschaftskandidat vor – ein revolutionärer migrantischer Eisenbahnarbeiter, der eine wichtige Rolle in der Streikkoordinierung der Eisenbahner:innen 2019/20 spielte. Dabei betonten unsere Genoss:innen, dass sie Anasses Kandidatur nicht zur Bedingung zur Zusammenarbeit machen.
Dieser Vorschlag führte letztlich zum Ausschluss unserer Genoss:innen aus der NPA, während A&R, FLO und Co. zähneknirschend die Kandidatur von Poutou unterstützten. Mit der jetzt vollzogenen weiteren Spaltung der NPA müssen auch sie einsehen, dass der de facto Ausschluss unserer Genoss:innen auf dieser Grundlage nur eine Vorbereitung auf die größere Spaltung war, bei der ein weiterer Teil links der alten Mehrheit aus dem Projekt gedrängt wurde.
Dass also ein ordentlicher Diskussionsprozess die Probleme der NPA hätte lösen können, ist ein Schluss, zu dem man unserer Meinung nach nur kommen kann, wenn man glaubt, Parteien ließen sich allein durch Diskussionen über das Programm aufbauen. Die Präsidentschaftskandidatur war eine Richtungsentscheidung, die diese Frage mit allergrößter Klarheit aufmachte. Da die GAM diese Bilanz nicht teilt, will sie sich jetzt an der Rettung der NPA beteiligen:
Wir können ihr Bestreben [das von A&R, FLO usw.], die NPA fortzuführen, unterstützen und werden uns daran beteiligen, auch wenn wir ernsthafte programmatische und politische Differenzen mit ihnen haben. Aber sie müssen zu den Versprechen von 2009 zurückkehren und sich um programmatische Einheit und ein Ende der ständigen Fraktionen bemühen. Das Recht, Fraktionen und Strömungen zu bilden, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen – im Gegensatz zum bürokratischen – Zentralismus. Aber Zentralismus bedeutet, dass man sich auf eine Strategie und Taktik für die bevorstehenden Klassenkämpfe einigt und sich die Ortsverbände und Fraktionen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um gemeinsam dafür zu kämpfen. Ohne dies wird die Einheit nur eine Fassade sein, die auseinanderbricht, sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung steht.4
Doch es ist gerade das Scheitern des „Versprechens von 2009“, das zum Zusammenbruch der NPA geführt hat. Die NPA hat gezeigt, dass eine breite antikapitalistische Partei ohne strategische Klarheit und ohne Zentrum im Klassenkampf unfähig ist, sich mit der neuen Generation von kämpferischen Arbeiter:innen zu verbinden, die im letzten Klassenkampfzyklus entstanden ist.
Dass es auch anders geht, zeigen unsere französischen Genoss:innen selbst. Im Dezember gründeten sie eine neue revolutionäre Organisation mit über 350 Mitgliedern5, darunter viele revolutionäre Arbeiter:innen aus Klassenkämpfen der letzten Jahre:
Wir reden hier über eine vom Staat, Parteien und Unternehmen komplett unabhängige Organisation. Eine Organisation der Ausgebeuteten und der Unterdrückten. Eine, deren Mitglieder in den letzten Jahren konsequent bei den unzähligen Arbeitskämpfen und Protesten im Land beteiligt waren: Gegen die Rentenreform, für Gerechtigkeit für die Opfer von Polizeimorden, gegen Macrons Treibstoffsteuer und für bessere Arbeitsbedingungen. Eine Organisation, die entgegen der reformistischen Parteien für eine revolutionäre Perspektive steht.6
Das sind aktuell wohl noch weniger Mitglieder als in der NPA, doch sehen wir ein starkes Wachstum, während die NPA schon seit Jahren starken Mitgliederschwund zu beklagen hat. Schon in den letzten Jahren konnte unsere französische Sektion durch die Intervention in den Klassenkampf und große Erfolge mit der Zeitung eine gewisse Bekanntheit aufbauen. Sie wuchsen von ein paar Dutzend Mitgliedern auf ein paar Hundert. Insbesondere die Gewinnung von Streikführer:innen wie Anasse Kazib, aber auch jene bei Total7 oder die Annäherung von öffentlichen Figuren wie Assa Traoré, der Schwester des von der Polizei ermordeten Adama Traoré, ermöglichte uns dieses Wachstum.
In ihrem neuesten Artikel zur NPA8 verliert die GAM jedoch nicht ein einziges Wort über die Entstehung dieser Organisation und die Erfahrungen von Révolution Permanente – also die Erfahrung derjenigen, die sich ernsthaft an den Streiks, an den Gelbwestenprotesten und an den Protesten gegen die Rentenreform beteiligt haben. Wir denken, dass diese Ignoranz und das Festhalten an der Illusion der „NPA der Ursprünge“ ein großer Fehler ist und laden sie ein, sich stattdessen mit den Erfahrungen von Révolution Permanente – gerne auch kritisch – auseinanderzusetzen, eine kritische Bilanz der NPA zu ziehen und sich an den Klassenkämpfen zu beteiligen.
Revolutionärer Bruch braucht strategischen Fokus auf die Klassenkämpfe
Diese Differenz im Bezug auf ihr formales Verständnis von Programm zeigt sich auch im Revolutionären Bruch (RevBruch), einer Fraktion innerhalb der Linksjugend Solid, die einen Bruch mit dem Reformismus anstrebt. In ihrem Debattenbeitrag zur RevBruch-Konferenz „Revolutionäre Organisation braucht revolutionäres Programm“ verfolgt die Gruppe Arbeiter:innenmacht die These, es sei „die erste Aufgabe von Kommunist:innen“9, eine „programmatischen Grundlage“10 zu schaffen. Den Weg, wie die Genoss:innen vom Revolutionären Bruch zu einem solchen Programm kommen können, skizzieren diese allerdings schon in ihrer Erklärung:
Wir wollen deshalb eine Organisation aufbauen, die sich den Sturz des Kapitalismus vornimmt. Eine Organisation, die sich in den Betrieben, Schulen und Universitäten aufbaut, anstatt auf Minister:innenposten zu schielen. Dafür zentral ist ein Programm, welches die Enteignung der Großkapitalist:innen fordert, da sich dadurch viele gesellschaftliche Probleme wie zu hohe Mieten oder niedriger Lohn lösen ließen, in der Perspektive einer Arbeiter:innenregierung und der sozialistischen Revolution.11
Die GAM schlägt RevBruch also etwas vor, das sie längst gesagt haben. Auf was will die Gruppe Arbeiter:innenmacht also hinaus? Will sie einfach nur einen politischen Punkt wiederholen oder steckt dahinter eine tiefere Differenz? Liest man ihre Erklärung etwas weiter, fällt schnell auf, dass sie in ihrer Diskussion um Programm den Fokus auf den Klassenkampf von RevBruch verwerfen:
Der begrenzte eigene Einfluss spielt eine Rolle, wen man praktisch mit seiner Politik erreichen kann. Kleinere Gruppen sprechen in der Regel bereits radikalisierte Individuen an, die in den Widerspruch mit dem Kapitalismus gekommen sind. Diese sind jedoch nicht unbedingt repräsentativ für die Situation der gesamten Arbeiter:innenklasse. […] Für Organisationen mit revolutionärem Anspruch halten wir es jedoch für essentiell, sich die Frage zu stellen, welche Forderungen und Taktiken für die gesamte Klasse notwendig wären, um das Aufbrechen des vorherrschenden Bewusstsein zuzuspitzen.12
Auch, wenn sie betonten, das hieße nicht, „dass sie keine praktische Arbeit machen können oder sollen“, kommen sie dennoch zu dem Schluss, dass „die Richtigkeit (oder Falschheit) ihrer Politik nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt praktisch überprüft werden kann.“13
Statt also seine Programmatik in die Klasse zu tragen und ernsthaft auf die Probe zu stellen und weiterzuentwickeln, wollen sie lieber abstrakt über das Programm diskutieren. Ziel sollte es dann sein, einen großen Plan zu entwickeln, welche konkreten Schritte man gehen könnte, gäbe es die revolutionäre Partei, die wir aufbauen wollen, schon längst. Dabei müssen wir uns ernsthaft die Frage stellen, wer hier erreicht werden soll.
Ein Planspiel „revolutionäre Arbeiter:innenpartei“ interessiert sicherlich nur „Individuen“. Niemand, die:der nicht ohnehin schon fest einer revolutionären Strömung angehört, will dauerhaft von den Unterschieden der rhetorischen Wendungen von Kleinstgruppen in hypothetischen Taktiken hören. Die Frage für die kommenden Kämpfe und auch für RevBruch ist: „Welche realistische Antwort gibt es auf die Krise?“ Und nicht, welche Taktiken sollte eine hypothetische Partei, deren Nichtexistenz ja gerade Teil des Problems ist, anwenden. Mit unseren Vorschlägen wollen wir auch deshalb nicht nur radikalisierte Individuen ansprechen, sondern durch kühne Intervention ernsthaft kämpferische Kolleg:innen kennenlernen und sie für unsere Strömung gewinnen. Diese stehen dann stellvertretend für bestimmte Sektoren.
Dafür ist ein klares Programm für die Intervention in den Klassenkampf und für die Perspektive des Aufbaus einer revolutionären Partei tatsächlich zentral. Soweit stimmen wir mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht überein. Es reicht jedoch nicht aus, nur ein Programm als Schild zu haben. Man muss auch damit zustoßen und die materielle Kraft aufbauen, um dem Klassenfeind unseren Willen, die Macht der Arbeiter:innen, aufzuzwingen. Wir denken, dass wir Trotzkis Übergangsprogramm, inklusive unserer internationalen Erfahrungen als Trotzkistische Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI), konkret auf die aktuelle Situation in Deutschland anwenden und neue sich politisierende Sektoren im Klassenkampf für den revolutionären Sozialismus gewinnen müssen. Es ist unsere Aufgabe, entgegen dem ökonomistischen Druck der Gewerkschaftsbürokratie – die politische Fragen bewusst ausklammert –, diese Fragen offen aufzuwerfen und konkrete Vorschläge zu machen. Erst aus dieser Verbindung von Programm und Klassenkampf kann eine Partei mit einem ernsthaft revolutionären Programm entstehen. Es reicht nicht, einfach nur das richtige Programm zu haben, man muss es auch in die Klasse tragen. Trotzki fasste diese Situation in „Das Programm vervollständigen und in die Tat umsetzen“ zusammen:
Man kann sagen, dass wir bis zum heutigen Tage kein Programm hatten. Trotzdem haben wir gehandelt. Doch dieses Programm war in verschiedenen Artikeln, Anträgen, usw. formuliert. In diesem Sinne ist der Programmentwurf keine neue Erfindung: Er ist nicht das Werk eines einzelnen. Es ist das Resümee der kollektiven Arbeit bis heute. Ein solches Resümee ist absolut notwendig, um den Genossen eine Vorstellung davon der Lage, ein gemeinsames Verständnis zu geben.14
Zu solch einer formalistischen Herangehensweisen an die Frage von Programm, wie sie die GAM vertritt, schrieb Trotzki in „Sektierertum, Zentrismus und die Vierte Internationale“:
Es reicht jedoch nicht aus, ein korrektes Programm zu erstellen. Es ist notwendig, dass die Arbeiterklasse es akzeptiert. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass der Sektierer nach der ersten Hälfte der Aufgabe stehen bleibt. Das aktive Eingreifen in den tatsächlichen Kampf der Arbeitermassen wird für ihn durch die abstrakte Propaganda eines marxistischen Programms ersetzt.15
Im weiteren Verlauf ihres Debattenbeitrags erklärt die Gruppe Arbeiter:innenmacht richtigerweise, dass ein Programm nicht automatisch aus dem rein gewerkschaftlichen Lohnkampf entstehen kann. Allerdings legt sie keinen einzigen praktischen Vorschlag vor, außer, über das Programm zu diskutieren. Dementsprechend schlagen sie in ihrer Minderheitserklärung eine „wirklich breiten Konferenz“16 ohne genaue Adressat:innen vor.
Sie schlagen anschließend auch vor, „Kandidat:innen der Linkspartei, die sich auf glaubwürdige Weise gegen die Regierungsbeteiligung ihrer Partei in Land und Bund stellen“17, kritisch zu unterstützen. Wie sie einzelne Kandidat:innen bei einer Listenwahl unterstützen wollen, bleibt offen. Auch welchen Dialog sie gegenüber Kolleg:innen, die schon längst von der LINKEN in ihrer jahrelangen Regierungsverantwortung verraten wurden, wird nicht geklärt. Ihr Ziel ist es, einen „breiten Zusammenschluss innerhalb und außerhalb der Linkspartei für eine Fundamentalopposition“ zu bilden, der offensichtlich keine klare Trennungslinie zum Reformismus zieht. Damit wäre ein solches Projekt wahrscheinlich noch rechter als die NPA, die immerhin organisatorisch unabhängig war. Im Gegensatz dazu schlagen wir vor, dass wir ernsthaft versuchen revolutionäres Bewusstsein in die kommenden Kämpfe zu tragen:
Eine solche – revolutionäre – Kraft fällt nicht vom Himmel, sondern muss aufgebaut werden. Unsere Perspektive ist, dass diese Vorbereitungsaufgabe jetzt stattfinden muss, und dass es die Verantwortung von Revolutionär:innen ist, aus dem Debakel der Linkspartei grundsätzliche Lehren zu ziehen und Schritte zum Aufbau einer revolutionären Front zu gehen, die im Klassenkampf versucht, die Avantgarde der Arbeiter:innenklasse hinter einem revolutionären Programm zu sammeln, sich in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verankert und auch perspektivisch revolutionäre Kandidaturen bei bürgerlichen Wahlen aufstellt. Es kann nicht darum gehen, einfach darauf zu hoffen, dass eine irgendwie linkere (reformistische) ‚neue Arbeiter:innenpartei‘ entsteht, und solange einfach weiterhin mehr oder weniger ‚kritisch‘ zur Wahl der Linkspartei aufzurufen,oder eine ‚linkere Linksjugend‘ aufzubauen, die weiterhin die Linkspartei unterstützt.18
Antibürokratische Strömung in Gewerkschaften
Gerne würden wir an dieser Stelle über unsere Differenz in praktischen Erfahrungen von Streiks schreiben. Doch leider gibt es kaum gemeinsame Erfahrungen, auch die in der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) sind stark begrenzt. Wir verzichten an dieser Stelle darauf, aus diesen vereinzelten Erfahrungen größere Schlüsse zu ziehen, auch wenn wir einige Kritiken haben. Dennoch möchten wir die Gelegenheit nutzen und kurz unsere Position zu Gewerkschaften darlegen, auch in der Hoffnung, dass sie die Debatte über die Frage bereichert.
Streiks werden nicht nur in Deutschland – hierzulande aber besonders stark – von der Gewerkschaftsführung verraten. Um den sozialpartnerschaftlichen Kurs der Gewerkschaften zu verstehen, müssen wir zwischen Basis und Führung unterscheiden. Die meisten Gewerkschaften werden von Bürokrat:innen kontrolliert, die finanziell von der Vermittlung zwischen Arbeiter:innen und Bossen profitieren. Ihre Gehälter sind viel höher als die der Basis, es gibt nur wenige Elemente von Streikdemokratie und keine ständige Wähl- und Abwählbarkeit. Um ihre Funktion als Verhandler:innen mit den Bossen zu sichern, verraten sie ihre Mitglieder.
Wir haben es also mit einer doppelten Krise zu tun: Eine Führung, die materiell kein Interesse hat, zu kämpfen und eine Basis, die meist passiv bleibt und keine neue Führung bildet. Unserer Meinung nach wird die Bewusstseinskrise nur mit einem Kampf gegen die Führung gelöst. Daraus schlussfolgern wir:
Eine wichtige Aufgabe für linke Aktivist:innen ist es, die Gewerkschaft den Händen der Bürokratie zu entreißen und sie für die Arbeiter:innen zurückzugewinnen. Das bedeutet notwendigerweise einen harten Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, nicht eine schrittweise Eroberung von Positionen im Rahmen einer langfristigen Koexistenz.19
Deshalb treten wir dafür ein, eine antibürokratische Strömung statt bloßer Vernetzung in den Gewerkschaften aufzubauen. Es reicht nicht, eine Einheitsfront mit linken Teilen der Bürokratie zu bilden, in dem Trugschluss, man würde so ihre Basis erreichen. Auch diese linken Teile haben materiell kein großes Interesse daran, ihre Basis zu mobilisieren, vor allem nicht, wenn politische Forderungen aufgestellt werden. Um die Führung dazu zu zwingen, ihre Basis in einer Einheitsfront zu mobilisieren, müssen wir sie real mit der Mobilisierung und der Politisierung von Kolleg:innen unter Druck setzen. So können wir eine praktische Politik etablieren, die die Unabhängigkeit der Klasse und ihre Selbstorganisation in den Mittelpunkt stellt.
Der Umgang mit dem Reformismus
Größere Differenzen zwischen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und RIO sieht man wahrscheinlich deutlich, wenn man auf die Frage eingeht, wie Revolutionär:innen mit reformistischen und breiten antikapitalistischen Phänomen umgehen müssen. Schon 2016 schrieb die GAM die Polemik „Orthodoxer Trotzkismus oder workeristischer Maximalismus?“ gegen unsere Organisation. Dabei werfen sie uns vor, uns an das rein-ökonomische Bewusstsein, das durch Arbeitskämpfe entsteht, anzupassen und stellen dem ihre „orthodoxe“, also strenge Auslegung des Trotzkismus gegenüber:
Auch wenn wir durchaus zustimmen, dass die Gewerkschaftsbürokratie den Klassenkampf hemmt und gerne auch verrät, ist dies doch nur eine Seite der Medaille der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse. Die andere Seite – die politischen Kampforgane der Klasse in Form der reformistischen ArbeiterInnenparteien und ihrer historischen Entwicklungen – stellt das Manifest [derTrotzkistischen Fraktion, welches die GAM hier kritisiert, A.d.A.] als Grund für die Fragmentierung der Klasse, jedoch nicht als deren Verkörperung dar.20
In diesem Zitat zeigt sich eine vermeintlich kleine Differenz mit großen Folgen. Wir sehen die aktuellen reformistischen Arbeiter:innenparteien nicht als direkten Ausdruck der Klassenkämpfe, sondern als Umleitung dieser. Wir gehen davon aus, dass sich ein bewusster politischer Prozess abspielt, bei dem Reformist:innen die Lohnkämpfe – im Fall der Arbeiter:innenaristrokratie natürlich mit guten ökonomischen Vorbedingungen – dazu nutzen können, Schichten der Klasse in ihre Partei zu integrieren und sie so vom Klassenkampf in das bürgerliche Regime umzuleiten.
Die GAM sieht die ökonomischen Bedingungen in diesem Prozess mehr als einen Automatismus an, als wir das tun. Daraus schließen sie, dass reformistische Parteien – in Deutschland die SPD und die LINKE – eine direkte Verkörperung von Sektoren der Klasse sind. Daraus ergibt sich ein gewisser opportunistischer Hang, „taktisch“ für reformistische Parteien zu stimmen. Sie gehen davon aus, ein Verrat durch diese Parteien würde die materielle Basis des Reformismus teilweise zum Bröckeln bringen.
Wir sehen das nicht so. Natürlich braucht es Taktiken, um die Illusionen in den Reformismus zu brechen. Aber einen Wahlaufruf für den linken Flügel zu publizieren, in der Hoffnung, dass sie die Klasse nicht verraten und sich die Bedingungen für die radikale Linke so verbessert, ist eine Illusion. Dieser Prozess hat auf Landesebene in 15 Jahren LINKE zig mal stattgefunden, und führte trotz Verrat um Verrat nicht zu einer linken Alternative, geschweige denn zu einem bloßen „taktischen“ Gewinn der Gruppe Arbeiter:innenmacht. Ganz im Gegenteil – viele reformistische Genoss:innen wurden desillusioniert inaktiv.
Unserer Meinung nach zeigen unter anderem die Klassenkampfprozesse in Chile in den letzten Jahren deutlich, dass bürgerliche und reformistische Kräfte die Wut der Klasse dämpfen und ins Parlament umlenken:
In diesem Zusammenhang verzichtet die Arbeiter*innenklasse, die die ‚strategischen Positionen‘ kontrolliert, welche die Gesellschaft am Laufen halten (Transport, Großindustrie und Dienstleistungen) abgesehen von Ausnahmefällen darauf, ihre entscheidende Kraft einzusetzen, und nimmt an den Protesten als Teil der ‚Staatsbürger*innen‘ teil, aufgelöst im ‚Volk‘ im Allgemeinen.21
Mit der Umlenkung ist also nicht nur eine Fragmentierung, also Zersplitterung in verschiedene Strömungen, sondern eine Atomisierung zu beobachten. Die Arbeiter:innen werden durch den Reformismus ihrer Rolle als Arbeiter:innen beraubt, indem sie nur ihre Stimme an der Wahlurne abgeben können. Dies lässt sich an vielen weiteren Beispielen zeigen.
Die Kämpfe in Griechenland gegen die Troika wurden vom reformistischen Projekt Syriza in den Staat integriert. Die Kämpfenden mussten mehr oder weniger machtlos zusehen, wie Syriza die Troika-Diktatur gnadenlos durchpeitschte.22 Die Black Lives Matter Bewegung in den USA wurde von der demokratischen Partei kooptiert, die die wichtigsten Forderungen wie „Defund the Police“ (Definanzierung der Polizei) über Bord warfen23. Auch in Deutschland konnten vor 15 Jahren Teile der alten SPD-Führung und der PDS-Bürokratie die Proteste gegen Hartz IV in ein Wahlprojekt umleiten, das wir heute als die LINKE kennen.24 Die Klimabewegungen, wie zum Beispiel „Fridays for Future“, wurden von den Grünen kooptiert.
Wir sehen in den (neo-)reformistischen Parteien also keinen direkten Ausdruck der Klassenkämpfe, sondern ihre Umleitung an die Wahlurne. Aus der Logik, man dürfe sich taktisch nicht sektiererisch verhalten, erfolgen bei der GAM alle möglichen „taktischen“ Anpassungen an den (Neo-)Reformismus. In Griechenland haben sie Syriza in der Hoffnung kritisch unterstützt, es käme auf Grund ihrer Warnungen am drohenden Verrat im Moment des Bruchs zu einer Annäherung an ihre Strömung. Schließlich waren sie nicht sektiererisch im Gegensatz zu denen, die den drohenden Verrat offen benannten und Konsequenzen daraus zogen.
De facto hat die GAM so aber ein reformistisches Projekt in einer Wahl unterstützt, das die Erfahrungen der Klassenkämpfe an der Wahlurne beerdigte. Stattdessen wäre es wichtig und richtig gewesen, nicht zur Wahl von Syriza aufzurufen und für die Schaffung einer unabhängigen, revolutionären Wahlfront, basierend auf den Generalstreiks, einzutreten.
In Großbritannien gingen sie sogar noch weiter und traten mit ihrer britischen Sektion Workers Power in die Labour Party ein, als es um den Linksreformisten Jeremy Corbyn eine gewisse Dynamik gab.25 Auch, wenn dieser unter anderem die Aufrüstung der Polizei26 forderte, gab es auf Grund seiner Bekanntheit bei Streiks gewisse Illusionen in ihn. Dabei gaben die britischen Genoss:innen der GAM sogar „taktisch“ ihren Organisationsnamen auf und traten erst Jahre später aus der Partei aus. Damals war Corbyn schon längst von der rechten Bürokratie als Parteivorsitzender gekickt und die Gruppe verzichtete auf eine tiefgehende, öffentliche Bilanz ihres Entrismus. Einen praktischen Gewinn konnte sie aus ihrer Taktik nicht ziehen.
Auch wenn die GAM in Deutschland organisatorisch unabhängig von der LINKEN ist, sieht es nach 15 Jahren ununterbrochener kritischer Wahlunterstützung auch nicht viel besser aus. Egal wie sehr sich die LINKE nach rechts entwickelt hat oder wie stark sie sich durch Landesregierungen in den Staat integriert hat, auf die kritische Unterstützung der GAM war Verlass. Trotz großer Verrate, wie den Abschiebungen, den Zwangsräumungen, der Polizeigewalt, der Aufrüstung und der Überwachung oder auch dem drohenden Verrat von Deutsche Wohnen und Co. Enteignen konnte die GAM keinen Gewinn aus ihrer kritischen Unterstützung ziehen.
Sie begnügen sich damit, Reformist:innen kritisch zu unterstützen, statt die Bürokratie ernsthaft herauszufordern und sich unabhängig zu positionieren. Unserer Meinung nach ist ihre Unterstützung von reformistischen Parteien „Ausdruck einer tiefgründigen Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Arbeiter:innenklasse und der Massen, gesellschaftliche Veränderungen – bis hin zur Perspektive des Sturzes des Kapitalismus und der sozialistischen Revolution – mit ihrer eigenen Kraft und ihren eigenen Methoden zu erreichen.“27
In unserem Debattenbeitrag zur Konferenz der Fraktion „Revolutionärer Bruch“ (RevBruch) in Solid treten wir stattdessen für folgende Perspektive ein:
Unsere Perspektive ist dem radikal entgegengesetzt: Das strategische Zentrum für die Veränderung der Gesellschaft – d. h. für die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung in der Perspektive einer weltweiten sozialistischen Revolution – ist der Klassenkampf; parlamentarische Positionen können diesen lediglich unterstützen, nicht ersetzen. Gegen die Unterordnung unter die Interessen des Kapitals setzen wir die Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vom Kapital, von der kapitalistischen Regierung und von den Bürokratien, die sie stützen. Mit Arbeiter:innenregierung meinen wir hingegen eine Regierung, die sich auf Organe der Macht der Arbeiter:innen wie Räte stützt.28
Die Behauptung der GAM in ihrer Polemik „Orthodoxer Trotzkismus oder workeristischer Maximalismus?“ stimmt also nicht. Wir „ziehen” uns nicht auf unsere Stellungen „zurück“, um unserem „sektiererischen Umgang mit dem Einfluss von reformistischem und zentristischem Bewusstsein und der notwendigen Auseinandersetzung innerhalb der Klasse mit diesem aus dem Weg zu gehen“ und das „vor allem im Umgang mit politischen Neugruppierungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse“29 zu sehen sei. Ganz im Gegenteil: Wir wollen in den kommenden Klassenkämpfen Stellungen erobern und diese nutzen, um einen erfolgreichen politischen Kampf gegen den Reformismus und die Illusionen in ihn zu führen.
Sowjetische Strategie ist der tatsächliche „orthodoxe Trotzkismus“
Im Gegensatz zur Liga für die Fünfte Internationale (LFI) der Gruppe Arbeiter:innenmacht verzeichnete unsere internationale Strömung, die Trotzkistische Fraktion für die Vierte Internationale (FT-CI), in den letzten 20 Jahren ein bedeutsames Wachstum. Das hat verschiedene Gründe, aber einer davon liegt in der Schwäche der LFI im Aufbau von Bastionen. Die LFI schaffte es nie, Orte aufzubauen, an denen sie ihre Kräfte konzentriert; Stellungen zu erobern, die gegen Angriffe ein Stück weit abgesichert sind und an denen es möglich ist, ausgehend vom Lokalen im „Großen“ tatsächlich Politik zu machen.
Die FT konnte beispielsweise Zanon als einen Leuchtturm der Arbeiter:innenbewegung erobern, als überzeugendes magnetisches Beispiel. Die Beschäftigten der Keramikfabrik konnten 2001, nach der Entlassung der Mehrheit der Arbeiter:innen, die Fabrik unter Arbeiter:innenkontrolle stellen. Ausgehend von dem Sieg wurde eine „landesweite Bewegung von „zurückeroberten“ Betrieben initiiert, innerhalb derer wir für die Perspektive der Verstaatlichung eingetreten sind.“30 Es ist nicht nur ein reales Beispiel, wie unser Programm in der Praxis zum Sieg führen kann. Zanon ist eine offene Machtdemonstration gegenüber dem Klassenfeind und dem Reformismus. Zanon zeigt, dass wir, wenn wir die richtige Strategie verfolgen, gewinnen können.
Wie wir der Gewerkschaftsbürokratie unseren Willen aufzwingen können, zeigt auch ein Beispiel unserer französischen Genoss:innen im Eisenbahner:innenstreik:
Über den Jahreswechsel 2019/20 hinweg kam es dort zu einem 50-tägigen Streik der Beschäftigten der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsgesellschaft RATP gegen die Regierung von Emmanuel Macron und dessen geplante Rentenreform. An den Demonstrationen an einem einmaligen gewerkschaftlichen Aktionstag beteiligten sich bis zu 1,5 Millionen Menschen in ganz Frankreich. Bei der SNCF und der RATP jedoch konnte die Basis einen ‚verlängerbaren‘ Streik erzwingen. Vorangetrieben von Révolution Permanente, der Schwesterorganisation der RIO, gelang es den Beschäftigten wichtige Elemente der Selbstorganisierung herauszubilden, vor allem das ‚RATP-SNCF-Koordinations-Komitee‘. Dort kamen Vertreter:innen aus mehreren Standorten zusammen, was der Mobilisierung gegen Macron einen starken Aufschwung brachte. Die Arbeiter:innen machten eine elementare Erfahrung mit der Streikdemokratie und konnten so ihren Streik auch gegen den Willen der gewerkschaftlichen Bürokratien so aufrechterhalten.31
Diese Selbstorganisation wäre nicht gelungen, hätten die Streikenden auf die Zentrist:innen in Frankreich gehört, die erstmal mehr Basisarbeit machen wollten, bevor sie zu Streikkomitees übergehen. Doch auf Initiative von Anasse Kazib kamen mehr als 4.000 Menschen zu einem Livestream unserer Schwesterorganisation Révolution Permanente (RP), in dem Kazib den Kurs der Bürokratie angriff und physische Treffen vorschlug, in denen über einen Schlachtplan diskutiert wurde, der ein Durchhalten über die Feiertage erlaubte:
Plötzlich wurde die Idee einer Basiskoordinierung des Streiks, die bis dahin den meisten Leuten wie ein ‚Ding nur von politischen Aktivist*innen‘ erschienen war, eine dringende Notwendigkeit in den Augen aller, ein unverzichtbares Werkzeug, um den Willen der Streikenden und die Fortsetzung der Bewegung gegen die Position der Gewerkschaftsführungen durchzusetzen.32
Schlussfolgernd aus der einseitigen Betonung des Programms lehnt die LFI unser Konzept von Bastionsaufbau explizit ab:
Unserer Auffassung nach können die errungenen ‚Positionen‘ der Klasse in der Defensive nur gehalten werden, wenn die bewusstesten Teile der ArbeiterInnen, die Avantgarde, um ein revolutionäres Programm herum gruppiert werden, eine revolutionäre Kader- oder Massenpartei geformt wird. Eine solche Partei wiederum kann in revolutionären Situationen – also im Übergang von der Defensive in die Offensive – die Führung über die ArbeiterInnenklasse erlangen und reformistische und zentristische Führungen ablösen und erst dadurch zu einer Massenpartei werden, die die Mehrheit der Klasse leitet und von dieser unterstützt wird – eine notwendige Vorbedingung für eine erfolgreiche proletarische Revolution. Ein einfaches ‚Hineinwachsen‘ aus defensiven Stellungen, wie uns die FT versucht weiszumachen, kann es jedoch nicht geben, weil hier das reformistische und zentristische Bewusstsein vorherrschend ist, welches von Grund auf laut Lenin in der ArbeiterInnenklasse existiert und systematisch durch das Hineintragen von revolutionärem Bewusstsein bekämpft werden muss.33
Für sie bedeutet der Aufbau von Stellungen in der Arbeiter:innenbewegung, wie Zanon, sich an ein bürgerliches Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse anzupassen, weil es in einer nicht-revolutionären Situation außerhalb der Partei kein revolutionäres Bewusstsein geben könne. Menschen lassen sich jedoch nur begrenzt durch „orthodoxe“ Ideen oder Programme alleine überzeugen. Es braucht eigene Erfahrungen der Klasse mit der konkreten Politik revolutionärer Organisationen, um sie für unsere Ideen empfänglicher zu machen. Deshalb ist unser Ansatz, nämlich sich real in der Klasse zu verankern, viel materialistischer. Die GAM widerspricht dabei unserer Vorstellung, durch Selbstorganisation der Arbeiter:innen in Kombination mit einer revolutionär-sozialististischen Organisation oder Partei, die politische Fragen offensiv aufwirft, könne revolutionäres Bewusstsein entstehen:
Die FT hat jedoch eine bestimmte Vorstellung, die unserer Meinung nach überaus problematisch ist. Sie geht davon aus, dass RevolutionärInnen in einer defensiven Situation Stellungen in den Betrieben gewinnen, diese über längere Zeit halten und verteidigen und von dort aus ‚expandieren‘ könnten.34
Die LFI verkennt hierbei, dass durch erfolgreiche Erfahrungen mit Selbstorganisation, oder – wie wir es nennen – Sowjetische Strategie35, nicht nur revolutionäres Bewusstsein in die Klasse getragen werden kann. Im Gegenteil: Ausgehend von diesen Stellungen können Kämpfe gegen die Gewerkschaftsbürokratie, den Reformismus und den Zentrismus in all ihren Spielarten viel erfolgreicher geführt werden. Wenn man Sozialismus ganz einfach beschreiben will, dann könnte man sagen, dass alle Produktionsmittel unter Arbeiter:innenkontrolle stehen und demokratisch in Räten verwaltet werden. Ziel muss es also sein, ein Bewusstsein zu erzeugen, dass die Arbeiter:innen demokratisch über ökonomische und wirtschaftliche Fragen selbst entscheiden können und sie ihre Bosse dafür enteignen und die Regierung stürzen müssen.
Wenn Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle verstaatlicht werden, können sie ein leuchtendes Beispiel für die ganze Klasse sein. Ein Leuchtturm, der Licht in die politische und ideologische Dunkelheit wirft, in der sie die Arbeiter:innenklasse gerade befindet. Es ist auch kein „einfaches ‚Hineinwachsen‘ aus defensiven Stellungen“, dass das vorherrschende „reformistische und zentristische Bewusstsein“36 einfach ignoriert, wie die GAM es uns vorwirft.
Zanon ist im Gegenteil ein konkretes Beispiel, wie die Trotzkistische Fraktion revolutionäres Bewusstsein in die Klasse getragen hat. Es wurde nicht nur die Fabrik unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt, die Arbeiter:innen warfen auch die Gewerkschaftsbürokratie aus der Keramikgewerkschaft in Neuquén und stellten die Gewerkschaft komplett auf den Kopf. Nicht nur haben wir mit unserer klassenkämpferischen Liste die Gewerkschaftswahlen gewonnen, wir haben alle Statuten geändert. Statt festen Bürokrat:innen gibt es jetzt ständige Wähl- und Abwählbarkeit, die Dauer in den Posten ist begrenzt und anschließend gehen die Kolleg:innen zurück in die Fabrik. Sie verdienen auch nicht mehr, als die Arbeiter:innen im Durchschnitt. All das sind Erfolge, die aus der Intervention unserer Genoss:innen in den Kampf resultierten.
Zwischenzeitlich verloren unsere Genoss:innen die Gewerkschaftswahlen gegen andere Listen – es ist also keinesfalls so, dass diese Stellungen für immer abgesichert sind, sie zu halten erfordert immer wieder einen politischen Kampf. In dem Sinne können wir folgende Unterstellung mit Nachdruck zurückweisen:
Sie [die FT] stellt sich gegen Lenin und behauptet, revolutionäres Bewusstsein muss nicht nur von außen in die Klasse getragen werden, sondern kann auch spontan aus ihr selbst heraus entstehen.37
Die Sowjetische Strategie bedeutet explizit nicht, dass es nur Räte und keine Partei braucht. Wir betonen im Gegenteil stets die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die das revolutionäre Bewusstsein gegen die äußeren Einflüsse verteidigt:
Die Lektion der deutschen Revolution ist, dass Arbeiter:innenräte ohne eine revolutionäre Partei nirgendwo hinführen. Die Arbeiter:innen- und Soldatenräte in Deutschland wurden von der SPD dominiert, der Partei, die versuchte das Rätesystem an sich zu zerstören.38
Trotzkistische Organisationen müssen die Revolutionär:innen, die in solchen Prozessen geformt werden, natürlich aufnehmen, aber die Selbstorganisation und die Partei sind für uns nicht dasselbe. Auch reformistische und zentristische Arbeiter:innen können und müssen sich an der Selbstorganisation beteiligen und so Erfahrungen mit unseren Vorschlägen und unserem Programm machen – und auch mit den Gegenvorschlägen anderer Strömungen.
tl;dr
Zusammenfassend können wir sagen, dass die Gruppe Arbeiter:innenmacht und wir völlig unterschiedliche Verständnisse davon haben, wie man zu einer revolutionär-sozialistischen Partei in Deutschland kommt. Dabei hat sich die Überschrift der Polemik der GAM zur Hälfte bestätigt. Auch wenn wir nicht „workeristisch“ sind, so ist der Trotzkismus der GAM „orthodox“. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sie den Marxismus besonders streng verteidigen, sondern ihn mehrfach formalistisch wie ein abgeschlossenes Konzept behandeln. Taktiken wie der Entrismus oder die kritische Unterstützung werden nicht an tatsächliche Sektoren gerichtet, sondern lediglich simuliert.
Wir wollen strategische und programmatische Diskussionen nicht als Selbstzweck führen, sondern um politisch, ideologisch und praktisch voranzukommen. Ziele werden unserer Meinung nach nicht mit einer friedlichen Koexistenz von verschiedenen Strategien oder diplomatischen Vereinbarungen von schriftlichen Programmen erreicht.
Stattdessen müssen wir die Strategien und Programme konkret auf die Probe stellen und daraus ernsthafte Bilanzen ziehen. Auf Basis von gemeinsamen Kampferfahrungen und politischer Übereinstimmung können linke Organisationen und kämpferische Sektoren dann sogar fusionieren, auch wenn unsere beiden Organisationen sicherlich noch weit davon entfernt sind.
Ausgehend von diesem Debattenbeitrag schlagen wir der Gruppe Arbeiter:innenmacht vor, in den kommenden Monaten gemeinsam in die Klassenkämpfe zu intervenieren und unsere Strategien in der Praxis zu messen. Ein guter Anfang könnten die Tarifrunden der Kolleg:innen bei der Post, im öffentlichen Dienst, sowie weitere Arbeitskämpfe sein, die 2023 anstehen. In diesem Sinne schlagen wir auch in der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) eine Politik für den Aufbau einer antibürokratischen Strömung vor, die die Gewerkschaftsführung real unter Druck setzen kann und sich nicht, wie die Gewerkschaftslinke, an linke Teile der Bürokratie anpasst.
Außerdem bieten wir den Genoss:innen an, eine ernsthafte Diskussion über die aufgeworfenen Fragen und Kritiken zu führen. Dabei sollten auch die Differenzen, die wir in diesem Artikel ausgeklammert haben, eine Rolle spielen: Die Frage von Unterdrückung, die Frage des Imperialismus, Vierte oder Fünfte Internationale, die Rolle der Zeitung, Gramscis Hegemoniekonzept und eine tiefere Debatte über die Frage der Gewerkschaftslinken.
Vor allem letzter Punkt ist schwer in Worte zu fassen, weil es kaum praktische Überschneidungen gibt, in denen sich beide Gruppen an Streiks beteiligt haben. Daher wollen wir nochmal betonen, dass es umso wichtiger ist, die unterschiedlichen Strategien konkret auf die Probe zu stellen, um sie tiefer diskutieren zu können. Gerne sind wir in diesem Sinne auch zu Absprachen über konkrete Interventionen bereit.
Fußnoten
1. https://arbeiterinnenmacht.de/2021/06/18/die-dauerkrise-der-npa/
2. https://arbeiterinnenmacht.de/2021/06/18/die-dauerkrise-der-npa/
3. https://arbeiterinnenmacht.de/2022/12/19/frankreich-wird-sich-die-wirkliche-npa-durchsetzen/
4. https://arbeiterinnenmacht.de/2022/12/19/frankreich-wird-sich-die-wirkliche-npa-durchsetzen/
5. Die beiden NPA-Teile sind nach ihrer Spaltung nicht wesentlich größer.
6. https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-eine-neue-revolutionaere-organisation-wird-geboren/
7. https://www.klassegegenklasse.org/30-tage-streik-bei-total-in-frankreich-revolutionaere-sozialistinnen-an-vorderster-front/
8. https://arbeiterinnenmacht.de/2022/12/19/frankreich-wird-sich-die-wirkliche-npa-durchsetzen/
9. https://www.klassegegenklasse.org/revolutionaere-organisation-braucht-revolutionaeres-programm/
10. https://www.klassegegenklasse.org/revolutionaere-organisation-braucht-revolutionaeres-programm/
11. https://revolutionaererbruch.wordpress.com/fuer-einen-revolutionaeren-bruch-mit-der-linkspartei-und-solid/
12. https://www.klassegegenklasse.org/revolutionaere-organisation-braucht-revolutionaeres-programm/
13. https://www.klassegegenklasse.org/revolutionaere-organisation-braucht-revolutionaeres-programm/
14. Leo Trotzki, Das Programm vervollständigen und in die Tat umsetzen
15. https://www.klassegegenklasse.org/sektierertum-zentrismus-und-die-vierte-internationale/
16. https://www.klassegegenklasse.org/minderheitserklaerung-fuer-einen-revolutionaeren-bruch-der-lohnabhaengigen-mit-dem-reformismus/
17. https://www.klassegegenklasse.org/minderheitserklaerung-fuer-einen-revolutionaeren-bruch-der-lohnabhaengigen-mit-dem-reformismus/
18. https://www.klassegegenklasse.org/welche-partei-fuer-welche-strategie-revolutionaere-organisierung-statt-linkspartei-2-0/
19. https://www.klassegegenklasse.org/die-einheitsfront-und-der-kampf-gegen-die-gewerkschaftsbuerokratie/
20. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
21. https://www.klassegegenklasse.org/revolte-und-revolution-im-21-jahrhundert/
22. https://www.klassegegenklasse.org/welche-partei-fuer-welche-strategie-revolutionaere-organisierung-statt-linkspartei-2-0/
23. https://www.klassegegenklasse.org/von-black-lives-matter-bis-gorillas-rassismus-kapitalismus-und-befreiung-iii/
24. https://www.klassegegenklasse.org/vergiss-mein-nicht-du-treues-herz/
25. https://www.klassegegenklasse.org/grossbritannien-vor-den-wahlen-corbyn-holt-auf-und-fordert-mehr-polizei/
26. https://www.klassegegenklasse.org/grossbritannien-vor-den-wahlen-corbyn-holt-auf-und-fordert-mehr-polizei/
27. https://www.klassegegenklasse.org/welche-partei-fuer-welche-strategie-revolutionaere-organisierung-statt-linkspartei-2-0/
28. https://www.klassegegenklasse.org/welche-partei-fuer-welche-strategie-revolutionaere-organisierung-statt-linkspartei-2-0/
29. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
30. https://www.klassegegenklasse.org/interview-zanon-ist-ein-schutzengraben-des-klassenkampfes/
31. https://www.klassegegenklasse.org/organizing-oder-selbstorganisation/
32. https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-die-selbstorganisierung-der-basis-und-der-kampf-gegen-die-gewerkschaftsbuerokratie/
33. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
34. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
35. Abgeleitet von dem russischen Wort „Sowjet“, dass übersetzt Räte bedeutet
36. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
37. http://arbeiterinnenmacht.de/2018/04/03/orthodoxer-trotzkismus-oder-workeristischer-maximalismus/
38. https://www.klassegegenklasse.org/sowjetische-strategie-eine-einfuehrung/