„Das war es noch nicht“ – Interview über 51 Tage Streik bei der VSG
Krankenhauselektriker Mario Kunze über acht Wochen Streik, eine Tarifeinigung, die noch viele Streitpunkte offenlässt, und warum sich Vivantes-Beschäftigte in Zukunft gleich an den Berliner Senat wenden sollten.
Mario Kunze ist Elektriker beim kommunalen Krankenhauskonzern Vivantes in Berlin. Er ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di und der Tarifkommission für die Vivantes Service GmbH (VSG). Mit dem 50-jährigen Berliner sprach Wladek Flakin.
Beschäftigte der Vivantes Service GmbH, die unter anderem die medizinischen Instrumente für den Krankenhauskonzern sterilisieren, waren 51 Tage lang im Streik. Sie forderten gleiche Löhne wie im Mutter-Konzern Vivantes. Anfang Juni hieß es, dass eine Tarifeinigung erzielt wurde. Die Gewerkschaft ver.di und der Berliner Senat zeigten sich beide zufrieden. Ist alles in trockenen Tüchern?
Das Wort Tarifeinigung suggeriert, dass es sich um einen fast fertigen Tarifvertrag handeln könnte. Zurzeit haben wir nur ein Eckpunktepapier und befinden uns in sogenannten redaktionellen Verhandlungen.
Was wird da redigiert?
Für die Beschäftigten von Vivantes gilt der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Wir verhandeln über einen Tarifvertrag für die Beschäftigten der 100-prozentigen Tochterfirma VSG. Wir wollen, dass dieser möglichst nah am TVöD ist. Ein Beispiel: Im TVöD gibt es Nachtzuschläge ab 21 Uhr. Aber die VSG will die Nachtarbeitszeit erst ab 22 Uhr anrechnen. Viele solcher Streitpunkte sind offen.
Wie sollen diese Probleme gelöst werden? Sind neue Aktionen geplant, um den Druck zu erhöhen?
Wir verhandeln den Tarifvertrag zu Ende. Am kommenden Dienstag ist der nächste Verhandlungstermin. Aktionen, die sich an die politisch Verantwortlichen richten, sind auch in Planung.
In der Pressemitteilung zum Ende des Streiks hieß es, künftig würden „90 Prozent des Tariflohns“ bezahlt. Stimmt das?
Die Löhne werden definitiv mehr als zehn Prozent unterhalb des TVöD-Niveaus liegen. Wer etwas anderes behauptet, macht sich und uns etwas vor. Die Lohnzuwächse sind von Bereich zu Bereich unterschiedlich, aber insgesamt werden maximal 87 Prozent des Tariflohns bezahlt. Die Gehaltsunterschiede zwischen Mutterkonzern und Tochterfirma werden sich auch weiter vergrößern, da wir keine Anbindung zum TVöD erreichen konnten.
Das klingt nicht so, als könnten die Beschäftigten zufrieden sein.
Wir sind nicht ganz unzufrieden. Es ist die erste tarifliche Absicherung überhaupt bei uns. In den zweieinhalb Jahren des Arbeitskampfes konnten wir bereits etliche Verbesserungen erkämpfen – im Schnitt 30 Prozent mehr Lohn. Der Tarifvertrag zeigt auch, dass sich kämpfen lohnt. An der Stelle, an der wir den meisten Druck erzeugen können – nämlich bei der Sterilisation –, gibt es auch den größten Lohnzuwachs. Wir sind uns deswegen einig: Das war es noch nicht. Unser Ziel bleibt: TVöD für alle!
Warum war nicht mehr drin?
Vor allem wegen der freiwilligen Selbstzerstückelung von ver.di. Wir hätten von Anfang an die Pfleger*innen zum Solidaritätsstreik aufrufen müssen. Denn die Arbeiten bei Mutterkonzern und Tochterfirma sind eng verknüpft. Es ist sinnlos, wenn die eine Belegschaft isoliert kämpft. Arbeitskämpfe müssen zusammengeführt werden. Vernetzung mit anderen prekären Bereichen ist auch nötig. Denn die Spaltung der Belegschaften ist das Grundproblem der meisten Arbeitskämpfe.
Im Koalitionsvertrag des rot-rot- grünen Senats von Berlin heißt es, dass bei Tochterfirmen landeseigener Unternehmen Tariflöhne gezahlt werden sollten. Doch das wird bei der Vivantes Service GmbH nun frühestens 2021 möglich sein, zum Ende dieser Wahlperiode.
Wir haben in dieser Auseinandersetzung viel gelernt. Im öffentlichen Dienst muss niemand mit den Geschäftsführungen verhandeln. Man muss sich direkt an das Abgeordnetenhaus wenden. Es ist ein abstruser Witz, wenn Finanzsenator Matthias Kollatz behauptet, keine Tarifpartei zu sein. Er sitzt im Aufsichtsrat von Vivantes, doch er versteckt sich hinter Marionetten. Im Fernsehen sagte er sogar, an der VSG bräuchte man marktübliche Löhne, weil man sonst weiter auslagern müsse. Das zeigt, was von diesen Versprechen zu halten ist.
Das war der längste Streik seit mindestens zehn Jahren in Berlin. Wie fühlt sich das an?
Acht Wochen Streik sind Stress. Das saugt dich emotional aus. Es geht zudem sehr ins Geld. Die ersten fünf Wochen dümpelte unser Streik nur so dahin. Erst in der sechsten Woche haben wir uns wirklich radikalisiert und die Straße vor dem Klinikum in Berlin-Friedrichshain blockiert. Ab da kam Bewegung in die Sache. Heute würden wir sofort mit solchen Aktionen beginnen. Das lässt auch das Vertrauen in die eigene Kraft wachsen.
Warum konnte es nicht früher radikalere Aktionen geben?
Das hängt mit der derzeitigen Politik des gewerkschaftlichen Hauptamts zusammen. Solange wir glauben, dass diejenigen, die von unseren Beiträgen bezahlt werden, die Sache für uns richten, haben wir keine Chance. Kein*e Politiker*in und kein*e Gewerkschaftssekretär*in wird uns gebratene Tauben in den Mund schieben. Sie haben nicht die gleichen Probleme wie wir. Somit sind sie viel eher an „guten Kompromissen“ interessiert, die ihre Probleme schnell aus der Welt schaffen. Niemand wird uns konsequent helfen. Das ist einzig und allein unsere Aufgabe als ehrenamtliche Gewerkschafter*innen.
Kam die Einigung vielleicht auch deshalb, weil am Ende die Bereitschaft zu streiken bröckelte?
Die Streikbereitschaft war nicht hoch, aber konstant bis zum Ende. Mit rund 70 Streikenden haben wir einen Betrieb mit 15 000 Mitarbeitern ins Wanken gebracht. Das Ergebnis ist vor allem Ausdruck des fehlenden politischen Willens der Regierungskoalition, ihre Parteitagsbeschlüsse umzusetzen.