Das wachsende Chaos der globalen Situation
Über den Aufstieg des Militarismus (und seine Widerstände), die imperiale Müdigkeit der USA, die strategische Desorientierung Deutschlands, die Ambitionen der Türkei und die Grundlagen eines neuen Internationalismus. Dieser Artikel ist der Beitrag des Autors zur bevorstehenden Konferenz der Trotzkistischen Fraktion - Vierte Internationale.
In anderen Artikeln und Dokumenten haben wir erklärt, dass wir in eine neue Etappe der Erneuerung der allgemeineren Tendenzen der imperialistischen Epoche eintreten, die gemäß der Definition von Lenin eine Epoche der Krise, der Kriege und der Revolutionen ist. Der seit mehr als zwei Jahren andauernde Krieg zwischen der Ukraine und Russland – der erste große Krieg auf europäischem Territorium seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – bestätigt dies voll und ganz. Der Wind des Krieges verstärkt sich von Tag zu Tag. „Die europäischen Länder geben heute 380 Milliarden Dollar für die Verteidigung aus: 2014, im Jahr der Invasion der Krim, waren es noch 230 Milliarden Dollar.“ 1 Britische und deutsche Politiker:innen, Expert:innen des Atlantic Council, des Institute for the Study of War und anderer Think Tanks sprechen offen über eine mögliche Konfrontation zwischen Moskau und der NATO. Der britische Verteidigungsminister Grant Shapps sagte, wir lebten nicht mehr in einer Nachkriegswelt, sondern in einer Vorkriegswelt.
Die USA – das Zentrum des imperialistischen Weltsystems – befinden sich selbst in großen Schwierigkeiten, da sie davon erschöpft sind, zwei heiße Konflikte (Ukraine und Palästina) und einen potenziell heißen (Taiwan) gleichzeitig zu bewältigen. Das ist ein Zeichen für die Überdehnung ihres Militärapparats. Vor diesem Hintergrund stellt sich in den europäischen Hauptstädten angesichts der möglichen Rückkehr Trumps ins Präsidentenamt erneut die Frage nach einem möglichen Scheitern der Garantiemacht der USA. Doch so weit sind wir noch nicht. Diese unheilvolle Aussicht für den „Westen“ bedeutet die Möglichkeit größerer Brüche in Europa, wo einige Länder eine Verständigung mit Russland oder China anstreben, während andere sich stärker an die USA anlehnen würden. Das heißt, es besteht die Möglichkeit einer Rückkehr zur Welt vor 1914 und der Zwischenkriegszeit, also eine offene Konfrontation zwischen Großmächten, sogar bis hin zu einem Dritten Weltkrieg.
Auf kurze Sicht sind Krisenszenarien unterhalb der Schwelle von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags am wahrscheinlichsten, d.h. ohne die unmittelbare Aussicht auf einen Weltkrieg zwischen den Großrmächten. Mit anderen Worten: Wir steuern auf eine unmittelbare Zukunft voller immer gefährlicherer lokaler, regionaler Kriege zu. Und da die USA nun die Rolle des Weltpolizisten ablehnen, werden sie sich zunehmend an Verbündete wenden, sich um ihren eigenen Hinterhof zu kümmern. Großbritannien zum Beispiel hat seine militärische Präsenz im Nordatlantik erheblich verstärkt. Diese Neuverteilung der Rollen führt zu Spannungen und Anpassungsschwierigkeiten: Italien beispielsweise ist noch immer nicht auf die Instabilitäten vorbereitet, die aus dem Süden, insbesondere vom afrikanischen Kontinent, kommen und seine Einflusszone im Mittelmeerraum erschüttern.
Noch rückständiger ist Deutschland und die offene Bruchlinie, die sich mit Russland in Osteuropa und den baltischen Ländern geöffnet hat. In diesem Zusammenhang sticht die Rolle Polens als antirussischer Vorposten hervor, der bereit ist, die Rolle des NATO-Gendarmen in dieser heißen Zone zu spielen. In dem Maße, in dem der Einfluss der USA als Hegemonialmacht innerhalb des westlichen Blocks schwindet, werden auch die Spannungen innerhalb dieses Blocks zunehmen, wie das Vorgehen der Türkei innerhalb der NATO zeigt, was jedoch nicht gleichbedeutend damit ist, dass der Block auseinanderbricht. Dies gilt in noch stärkerem Maße für den von China und Russland angeführten „antiwestlichen Block“, der viel heterogener ist, wie das gegenseitige Misstrauen selbst seiner beiden Hauptstützen zeigt (Moskaus Furcht vor einer übermäßigen Abhängigkeit von China, seine Besorgnis über den wachsenden Einfluss Chinas in Zentralasien und sein zunehmender Kolonisierungsdruck auf Sibirien, auf den Moskau in gewisser Weise mit seinen Beziehungen zu Indien reagiert, sowie die jüngste Erwärmung seiner Beziehungen zu Nordkorea, die durch den Bedarf an Waffen für den Krieg in der Ukraine und an Arbeitskräften für die russische Industrie motiviert ist, aber auch eine Botschaft an Peking in Bezug auf seinen ehemaligen Verbündeten darstellt).
Generell ist der „Westen“ immer noch dabei, den Schock über die Rückkehr des Krieges nach Europa zu verarbeiten. Trotz der Unterschiede zu heute fallen einige Parallelen zum Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf, das in zwei große antagonistische Blöcke gespalten war. Damals schrieb der französische General Foch, der 1918 Oberbefehlshaber der alliierten Armeen werden sollte und die Schlussoffensive gegen Deutschland leitete:
Die heutigen Armeen sind zu langen Friedensperioden verdammt. Plötzlich wird Europa erschüttert: Es herrscht Krieg, und zwar von titanischem Ausmaß. Angesichts dieser neuen Situation ist die öffentliche Meinung verwirrt. Sie verlangten von ihren Offizieren den Sieg. Aber waren sie wirklich darauf vorbereitet?2
Von unserem revolutionären Klassenstandpunkt aus ist es klar, dass wir alles daran setzen werden, dass die Antwort auf diese Frage heute vollständig negativ ausfällt. Wir müssen die revolutionäre Mobilisierung der Massen entwickeln, um die laufende Kriegseskalation zu stoppen. Aber um das effektiv zu tun, müssen wir von der realen Kräftekonstellation unserer Klassenfeinde ausgehen, sowie von den Hindernissen, die sie für ein solch tragisches Schicksal der gesamten Menschheit zu überwinden haben.
Die imperiale Müdigkeit der USA, die entscheidende Tatsache der internationalen Politik
Die tiefsten Grundlagen der imperialen Müdigkeit der USA liegen in der Ausübung ihrer imperialistischen Vormachtstellung selbst, die im Zuge der neoliberalen Offensive und des „harmonischen“ Fortschreitens der Globalisierung an ihre Grenzen gestoßen ist. Die Unipolarität nach dem Kalten Krieg sollte die Welt durch den Markt, die Demokratie und die militärische Macht näher an die USA heranführen. Stattdessen haben die letzten dreißig Jahre militärische Niederlagen, gravierende wirtschaftliche Ungleichheiten im eigenen Land und schwere internationale Belastungen mit sich gebracht. Insbesondere der von den Neokonservativen Anfang der 2000er Jahre vorangetriebene „Versuch, die imperialistische Hegemonie neu zu definieren“, hat sich mit den Niederlagen im Irak und in Afghanistan in sein Gegenteil verkehrt. Währenddessen hat der zunehmende Interventionismus (wenn man Invasionen und andere militärische Einsätze berücksichtigt, haben von allen Staaten weltweit nur Andorra, Bhutan und Liechtenstein keine Präsenz von US-Streitkräften auf ihrem Territorium erlebt) zusammen mit der relativen Deindustrialisierung, die durch die „Globalisierung“ im eigenen Land hervorgerufen wurde, zum Entstehen einer neuen isolationistischen Stimmung geführt: Das Gefühl, dass sich die USA zu sehr im Ausland engagieren, anstatt die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen im eigenen Land anzugehen. Angefangen mit Trump und gefolgt von Biden wächst die Idee, dass die Priorität darin besteht, die USA wieder aufzubauen. Mit anderen Worten: Der Versuch, „die Welt zu amerikanisieren“, hat zu großer Ernüchterung geführt und die USA im Innern geschwächt.
Es gibt kein wichtigeres Element für das Verständnis des Zustands und der Dynamik der internationalen Situation als das Ausmaß der imperialen Müdigkeit der USA. Dies ist in erster Linie eine Frage der Entschlossenheit. Oder, wie es der Kolumnist für Foreign Policy und Harvard-Professor Stephen M. Walt ausdrückt: „Die USA leiden an einem Vakuum der Entschlossenheit“.
Die US-Bürger:innen sind zunehmend nicht mehr bereit, unbegrenzte Kosten für die Verteidigung der Hegemonie zu tragen. Sie lehnen die Anwendung von Gewalt im Ausland ab und sind weniger bereit, unter Waffen zu dienen. Sie fordern eine Begrenzung der Ausgaben zur Unterstützung von Verbündeten und so weiter. Diese Weigerung, Opfer für die imperiale Rolle der USA zu bringen, steht in Zusammenhang mit dem zunehmenden sozialen Leid: tägliche Schießereien, sinkende Lebenserwartung, weit verbreitete Depressionen in der Jugend, sinkende Qualität der Bildung, die Opioid-Epidemie, die zu den häufigsten Todesursachen bei Erwachsenen unter 50 Jahren zählt. Die Lebensbedingungen der ehemals starken Arbeiter:innenaristokratie (fälschlich als middle class bezeichnet) haben sich verschlechtert, wie der Automobilstreik gezeigt hat. Diese Verschlechterung ist das Ergebnis der Globalisierung bzw. dessen, was wir in marxistischen Begriffen die Internationalisierung des Produktivkapitals und die Schaffung von Wertschöpfungsketten unter der Kontrolle der großen multinationalen Konzerne genannt haben, die einen Großteil der einheimischen Produktionskapazitäten zerstört und eine relative Deindustrialisierung verursacht haben, auf welche die Regierung Biden mit ihren Reindustrialisierungsmaßnahmen zu reagieren versucht. Daher kommt es, dass die Zahlen zwar eine boomende Wirtschaft zeigen, die wirtschaftliche Unzufriedenheit aber weiter wächst: Der Dienstleistungssektor kann das Beschäftigungsniveau der Verlierer:innen der Industrieverlagerung sowie der Rationalisierung des Produktionsprozesses nicht ausgleichen. Mit anderen Worten: Der „amerikanische Traum“ steckt fest.
Hinzu kommt eine institutionelle Krise, in der Kompromisse praktisch unmöglich sind, wie die wiederholten Fehlschläge bei der Verlängerung der Waffenlieferungen an die Ukraine aufgrund der brutalen politischen Polarisierung zeigen. Oder, weniger sichtbar, aber schwerwiegend, die Unmöglichkeit einer langfristigen Planung der Militärausgaben aufgrund pauschaler Kürzungen in allen Bereichen oder die Weigerung der Bürokratien, unnötige Programme zu streichen. Das führt zur Verkümmerung der Kriegsindustrie, während die Marine immer weniger Schiffe hat und eine lebenswichtige Funktion wie die Gewährleistung der Freiheit der Schifffahrt stark durch einen der ärmsten Staaten der Welt (Jemen) beeinträchtigt wird. Die Unfähigkeit des US-Kongresses, Entscheidungen zu treffen, nährt das ohnehin schon weit verbreitete Misstrauen gegenüber den föderalen Institutionen.
Diese institutionelle Willenskrise untergräbt bestimmte Säulen der US-Macht. Vor allem gilt das für die Fähigkeit, einen langwierigen Krieg gegen einen gleichwertigen Feind zu führen. Zum einen ist die große Mehrheit der jungen US-Amerikaner:innen nicht bereit oder nicht in der Lage, unter Waffen zu dienen. Im Jahr 2023 hat so ein Großteil der Streitkräfte sein Rekrutierungsziel um 25 Prozent verfehlt. Damit haben sich die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung junger Menschen, die 2022 die Armee hart getroffen hatten, welche ihre schlechteste Bilanz seit der Einführung der freiwilligen Wehrpflicht im Jahr 1973 aufwies, auf andere Teile der Streitkräfte ausgeweitet. Hinzu kommt, dass die US-Bevölkerung zunehmend ungeeignet für den Dienst in den Streitkräften ist. Faktoren wie Fettleibigkeit, körperliche und psychische Gesundheitsprobleme und sogar Drogen- und Opiatkonsum führen dazu, dass viele junge Menschen vom Militärdienst ausgeschlossen werden, bevor sie sich überhaupt bewerben. Aber es gibt auch tiefer gehende Probleme: Das Militär genießt heute weniger Ansehen als früher. Im Vergleich zu Institutionen wie dem öffentlichen Bildungswesen, der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und dem Kongress ist das Militär nach wie vor recht beliebt. Der historische Trend der öffentlichen Meinung über das Militär ist jedoch eindeutig rückläufig. Laut einer Umfrage der Ronald-Reagan-Stiftung und des Ronald-Reagan-Instituts ist das Vertrauen in die uniformierten Dienste zwischen 2018 und 2022 von 70 Prozent auf 48 Prozent gesunken. Bis 2021, parallel zum desaströsen Abzug aus Afghanistan, sank die Zustimmung sogar auf 45 Prozent. Ein solch plötzlicher Einbruch ist bei keiner anderen nationalen Institution zu verzeichnen gewesen. Wie wir weiter unten sehen werden, ist die neue Welle des Wettbewerbs zwischen den Großmächten für die jungen Menschen nicht besonders anziehend.
Neben diesem Problem einer ausreichend zum Kampf motivierten Bevölkerung stehen die USA vor einem weiteren Kapazitätenproblem. Denn die Streitkräfte unterlagen den gleichen Regeln der neoliberalen Welle, also die Reduzierung auf Mindestbestände. So ist die Kriegsindustrie zum Zeitpunkt der Unipolarität in ein Klima niedriger Produktionsintensität eingetreten. Durch präzise Haushaltsentscheidungen wurde die Produktion von Rüstungsgütern systematisch reduziert. Ganze Industrien wurden über Jahrzehnte hinweg auf ein Minimum reduziert, um sie nicht ganz zu demontieren. In einigen Fällen hielten sogar nur Aufträge aus dem Ausland bestimmte Kapazitäten am Leben. Die Notwendigkeit, in relativ kurzer Zeit große Mengen an Munition zu produzieren, trifft heute auf starke strukturelle Faktoren3. Zum einen beruht die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA nicht mehr wie im 20. Jahrhundert auf der verarbeitenden Industrie, sondern auf Hochtechnologie und Finanzwesen. Infolgedessen ist es den USA gelungen, die modernsten Waffen der Welt zu entwickeln, allerdings um den Preis, dass sie diese nicht in großem Maßstab herstellen können4. Hinzu kommt, wie in der Wirtschaft insgesamt, das Problem des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften, die für eine solche Produktion erforderlich sind, was die Fähigkeit, auf die Vielzahl der bei den Waffenherstellern eingehenden Aufträge positiv zu reagieren, stark einschränkt. Schließlich bereitet die zunehmende Konzentration der Rüstungsindustrie5 dem Pentagon allmählich Sorgen, da sie zu Engpässen führt, Innovationsanreize untergräbt und die Verhandlungsmacht des Pentagons schwächt (die Manager:innen dieser Unternehmen werden beispielsweise nicht bereit sein, die Munitionsproduktion zu erhöhen, wenn sie nicht über mehrjährige Verträge verfügen, wie sie normalerweise für Schiffe und Flugzeuge vorgesehen sind).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die größte Einschränkung für die Ausstrahlung und die Rolle der USA auf internationaler Ebene in ihrem eigenen Land liegt. Die Diagnose von Robert Gates, dem ehemaligen Chef der CIA und des Pentagon, ist schonungslos: „Wir haben eine nach innen gerichtete Bevölkerung, einen unzivilisierten und nicht funktionierenden Kongress, einen unzureichenden Haushalt und eine unzureichende Kriegsindustrie, Institutionen, die nicht in der Lage sind, eine Strategie und damit eine Erzählung zu entwickeln“. Einerseits ist die USA gezwungen, immer mehr Chaos zu akzeptieren, die innenpolitische Front und die asiatische Front als internationale Priorität zu betrachten. Doch zugleich betonen wir weiterhin, dass der Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie nicht absolut, sondern relativ ist. Das heißt, absolut gesehen ist die USA nach wie vor die dominierende Macht und wird dies wohl auch in absehbarer Zukunft bleiben. Wie sind nun die bedeutenden Veränderungen in der US-amerikanischen Führung der Welt(un)ordnung zu verstehen? Erstens resultieren sie aus der Beschleunigung der internationalen Situation und dem Eintritt in eine neue Etappe, in der die Rivalität zwischen den Mächten und die Anfechtung der von den USA dominierten Ordnung sowie mögliche Sprünge im Klassenkampf als Folge von Kriegen und dem beispiellosen Leid der Massen auf der Tagesordnung stehen. Zweitens stößt die USA an eine zunehmend sichtbare Grenze ihrer imperialen Überdehnung. Während der ersten Phase des Krieges in der Ukraine war es den USA gelungen, nach dem Debakel in Afghanistan etwas von ihrem internationalen Gewicht zurückzugewinnen, indem sie die NATO wieder aufstellten und ausbauten sowie eine „erweiterte Westfront“ bildeten, welche asiatische Mächte wie Japan und Südkorea einschloss. Einige dieser Errungenschaften halten an, wie der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO zeigt, der die Ostsee endgültig in einen „Atlantiksee“ verwandelt und den Druck auf St. Petersburg und Kaliningrad erhöht. Aber die Eröffnung einer dritten, unerwarteten Front im Nahen Osten hat die USA an die Grenze ihrer imperialen Reichweite gebracht: Sie interveniert an zwei heißen Fronten und hält ein stets wachsames Auge auf Taiwan, während die entschlossene Unterstützung für Israel den letzten verbliebenen Anteil an politischem Kapital der USA im so genannten „Globalen Süden“ zerstört hat. Dieser war schon bisher sehr zögerlich, sich hinter die US-Hegemonialmacht gegen Russland zu stellen. Zugleich wird die Wirkung der Post-Ukraine-Rhetorik in den „öffentlichen Meinungen“ derselben imperialistischen Länder und vor allem an der heimischen Front schwächer. Das zeigen Bidens Schwierigkeiten mit der Jugend auf der Straße wegen Palästina und die Gefahr, dass sie bei den kommenden Präsidentschaftswahlen nicht wählen geht. Schließlich – und das ist vielleicht die wichtigste Veränderung mit kontinentalen Auswirkungen – geht es um die transatlantischen Beziehungen, wo die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Sicherheit des Alten Kontinents garantiert hatten (und gleichzeitig die politische Kontrolle über ihn, insbesondere über Deutschland, aufrechterhalten hatten). Inzwischen lassen die USA die europäischen Mächte mehr und mehr allein und bürden ihnen die schwere Last der Bewältigung der Ukraine-Krise auf. Letztere ist keine US-Priorität mehr, was zusammen mit dem Sprung in der Krise des wichtigsten (wenn auch unvollständigen) europäischen Hegemons (Deutschland) eine Periode starker Instabilität und Gefahren in einem der wichtigsten imperialistischen Zentren eröffnet. Ganz zu schweigen von einem eventuellen Sieg Trumps, der die alten Nachkriegsbündnisse weit weniger respektiert als Bidens Demokraten.
Rückzug und strategische Desorientierung Deutschlands und die Gefahr für die europäische Stabilität
Wenn es ein Land gibt, das durch den Etappenwechsel („Zeitenwende“) in die Zange genommen wurde, dann ist es Deutschland. Bis vor dem Ukraine-Krieg hatte Deutschland seine fehlende geopolitische Macht durch wirtschaftlichen Erfolg wettgemacht. Als Nutznießer des US-amerikanischen Nuklearschirms (und gleichzeitig ihm unterworfen) hat sich Deutschland in der Geoökonomie hervorgetan. Dank der stabilen Versorgung mit billiger Energie durch Moskau und der zunehmenden Verflechtung mit dem chinesischen Markt konnte Deutschland seine Produktivkraft wiederbeleben und die Kapazitäten seiner Exportunternehmen gegen die internationale Konkurrenz verteidigen, während es weiterhin vom europäischen Markt profitierte. Gleichzeitig stand Berlin an der Spitze des Wandels im verarbeitenden Gewerbe in Richtung Digitalisierung: Der berühmte Plan Industrie 4.0, der von deutschen Industriellen und Beratungsfirmen entwickelt wurde, wurde später mehr oder weniger in der ganzen Welt kopiert. Dieses Deutschland, eine Bastion der Stabilität, fungierte sicherlich als unbestrittener Hegemon in Europa, nicht nur wegen der absoluten Zentralität des deutschen Wirtschaftskerns, sondern auch wegen seiner bewährten Fähigkeiten innerhalb der europäischen Institutionen.
Heute, angesichts der starken Erschütterungen der „Pax Americana“, die sich in den Konflikten in der Ukraine und in Gaza abzuzeichnen beginnen, sieht sich Berlin geopolitisch entwaffnet. Schlimmer noch, es fürchtet, in eine Welt ohne Ordnung zu geraten, in der Deutschland auf sich selbst angewiesen ist, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Das bemerkenswerteste Ergebnis ist, dass die Debatte über die Atombombe, die bereits 2016-18 entbrannt war, wieder aufgeflammt ist, aber – anders als damals – nicht mehr nur von Persönlichkeiten an den politischen Rändern geführt wird. Das zeigt die Tatsache, dass diese Frage auf den Seiten des Spiegel, einem der auflagenstärksten deutschen Magazine, offen debattiert wird.
Zum Anderen haben die USA den Stellvertreterkrieg gegen Russland mehr oder weniger explizit genutzt, um Deutschland anzugreifen. Das Gleiche gilt für China. Wir haben bereits in anderen Artikeln die starken geopolitischen Spannungen und Streitigkeiten vor dem 24. Februar 2022 zwischen den USA und der wichtigsten europäischen imperialistischen Macht erläutert, die von den USA zunehmend als latenter Feind wahrgenommen wird. Für letztere war es zur Aufrechterhaltung ihrer nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg errichteten Hegemonie unerlässlich, Deutschlands Weg nach Osten zu verhindern. Die Sabotage der Nord-Stream-Pipeline, einer direkten Seepipeline zwischen dem russischen Exporteur und dem deutschen Verbraucher unter Umgehung Polens und der baltischen Staaten, ist die vielsagendste Illustration dieser unheilvollen Folgen für die deutsche Macht. Es war ein heftiger Schlag für die deutsch-russische Energieverbindung, eine Säule der besonderen Beziehungen zwischen Berlin und dem Kreml. Egal ob es nun die USA direkt oder indirekt über Dritte oder die russlandfeindlichsten Länder waren, die ihnen den Gefallen taten: Es ist klar, dass niemand in Washington über einen solchen Angriff empört war. Aber dies ist nur eine von vielen Katastrophen, die Berlin seit Beginn des Ukraine-Krieges getroffen haben. Der Verlust des billigen russischen Gases, das durch viel teureres norwegisches Gas ersetzt wurde; gefolgt vom Rückgang des Handels mit China, unter dem vor allem die Autoindustrie leidet, die auf den Ansturm der Elektroautos auf den chinesischen Markt und darüber hinaus nicht vorbereitet ist. Hinzu kommt der schwerwiegende Verlust der Kontrolle über sein informelles wirtschaftliches Hinterland, das sich von Ostfrankreich und Norditalien bis nach Osteuropa erstreckt, der Domäne der deutschen Geowirtschaft schlechthin, wo Polen satte 1,3 Billionen Euro an Reparationen für seine Behandlung unter den Nazis fordert. Obwohl Warschau diese Summe nie zu Gesicht bekommen wird, ist die Forderung Ausdruck des neuen geopolitischen Selbstbewusstseins Polens als Washingtons bevorzugter antirussischer (und antideutscher) europäischer Partner. Gleichzeitig versuchen die USA, die Milliarden, die für den Wiederaufbau der Ukraine vorgesehen sind, auf Deutschland und damit auf die anderen europäischen Imperialismen abzuwälzen.
Auf wirtschaftlicher Ebene schlägt sich dies in einer Strukturkrise nieder. Die bisher bescheidene Rezession lässt ihre Tiefe nur erahnen, die nicht nur konjunkturell bedingt ist, sondern Ausdruck einer Stagnation des Wirtschaftsmotors des Kontinents, dessen Wachstumsmodell (in der früheren Welt sehr erfolgreich!) einer Umstrukturierung bedarf, die viele Jahre dauern wird. Mehrere Unternehmen in den Bereichen Immobilien, Maschinenbau und Gesundheitswesen (die traditionell als krisensicher gelten) sind von der Insolvenz bedroht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt dazu: „Dass die wirtschaftlichen Bastionen Gesundheit, Immobilien, Hidden Champions und Auto zu Insolvenzbrennpunkten werden, liegt weniger am üblichen Auf und Ab der Konjunktur als vielmehr an strukturellen Brüchen.“ Vor allem die Automobilbranche, die zunehmend unter dem Konkurrenzdruck chinesischer Start-ups steht, die spöttisch vom hohen teutonischen Technologietransfer profitiert haben, gibt Anlass zur Sorge. Volkswagen-Chef Thomas Schäfer schlug Alarm: „Die Zukunft der Marke VW steht auf dem Spiel“. Hohe Kosten, sinkende Nachfrage, wachsender Wettbewerb… die Liste geht weiter. „Das Dach steht in Flammen“, warnte er. Der Economist fragt sich, ob der Autogigant das gleiche Schicksal erleiden könnte wie Nokia, dessen CEO 2011 sein Unternehmen mit einer „brennenden Plattform“ verglich, kurz nachdem er das Ruder des damals größten Mobiltelefonherstellers der Welt übernommen hatte6. Die französische Arbeitgeberzeitung Les Echos berichtet:
Auch die chemische Industrie, die am Anfang der Wertschöpfungskette steht, ist am Boden zerstört, seit die BASF die Schließung eines Teils ihrer Produktion angekündigt hat. Angesichts steigender Energiekosten kündigen immer mehr Unternehmen Verlagerungen an, wie im Fall des Haushaltsgeräteherstellers Miele, der seine Waschmaschinen künftig in Polen produzieren will. Dies sei ein „struktureller, fast tektonischer Umbruch“, kommentierte Jochen Schönfelder, Experte der Boston Consulting Group, in der WirtschaftsWoche.
Der Vorstand von ThyssenKrupp, Deutschlands größtem Stahlhersteller, rechnet seinerseits mit dem Abbau von rund 20 Prozent der Belegschaft, der Schließung eines großen Stahlofens, zweier Walzwerke und der Verarbeitungsbetriebe, die Stahl zu Stahlprodukten verarbeiten. Es handelt sich um die größte Umstrukturierung der deutschen Stahlindustrie seit der Fusion von Thyssen und Krupp im Jahr 1999.
Während Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht gezwungen ist, sich zu verändern, aber über erhebliche Stärken verfügt, ist seine Lage in militärischer Hinsicht, wo es eine historische Schwäche aufweist, noch komplizierter. In einem Sonderbericht der Financial Times über die Bundeswehr heißt es:
Am Ende des Kalten Krieges zählte die Bundeswehr eine halbe Million Soldaten und war damit eine der stärksten Kampftruppen in Europa. Doch zwischen 1990 und 2019 wurde sie um 60 Prozent verkleinert. Die Armee wurde zu einer Art Waisenkind, unterfinanziert. Militärische Ausrüstung wurde eingemottet, verkauft oder verschrottet. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) war das Militär zwischen 1990 und Anfang der 2020er Jahre im NATO-Vergleich um mindestens 394 Milliarden Euro unterfinanziert.
Zum ersten Mal seit mindestens dreißig Jahren ist ein Krieg in Deutschland nicht mehr undenkbar. Im November schlug der populäre Verteidigungsminister Boris Pistorius Alarm: „Um es ganz deutlich zu sagen: Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass wir im äußersten Fall angegriffen werden könnten. Dann müssen wir in der Lage sein, einen Verteidigungskrieg zu führen.“ Es ist klar, dass diese rhetorische Eskalation damit zusammenhängt, dass mehr Geld gefordert wird oder dass der Geldfluss – durch das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen, das dank der „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Olaf Scholz eingerichtet wurde, bis 2027 garantiert – nicht unterbrochen werden soll. Aber Pistorius selbst gibt zu, dass es auch darum geht, „die Deutschen aufzuwecken“. Was für ein Klima!
Doch trotz dieser neuen Rhetorik und des erklärten Willens der Regierung gibt es Schwierigkeiten dabei, mit der angekündigten Aufrüstung tatsächlich qualitative Sprünge zu machen: Die Bundeswehr bleibt die am wenigsten effektive Armee der großen europäischen Länder. Schlimmer noch, dem gleichen Bericht der Financial Times zufolge: „… trotz all des neuen Geldes ist die Bundeswehr in vielerlei Hinsicht noch schlechter ausgerüstet als vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Deutschland hat einen Großteil seiner besten Ausrüstung an Kiew abgetreten. Und es ist immer noch unklar, wie und wann die Lücken wieder geschlossen werden.“7 Was sich, wie gesagt, deutlich verändert hat, ist die zunehmend Kriegsrhetorik. In der Vergangenheit wurden Politiker:innen, die für eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts plädierten, in den Hintergrund gedrängt. Heute sind diejenigen, die vor dem Militarismus warnen wollen, in der Defensive. Wie die Financial Times berichtet, forderte der Verteidigungsminister in einem Interview sogar, „dass Deutschland ‚kriegstüchtig‘ werden muss, ein Wort, das bedeutet, ‚bereit und fähig zu sein, Krieg zu führen‘. Der pazifistische Flügel seiner sozialdemokratischen Partei hat dagegen protestiert. Der Wandel in der Rhetorik hat einige überrascht. ‚Vor fünf Jahren hätte man Pistorius noch für verrückt erklärt, wenn er dieses Wort benutzt hätte‘, sagt [der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz] Heusgen. ‚Jetzt ist er der beliebteste Politiker in Deutschland.'“ Berlin versucht vor allem, ein Narrativ zu finden, mit dem die öffentliche Meinung überzeugt werden kann, die Wiederbewaffnung zu akzeptieren, ohne dass es zu schrecklichen Erschütterungen in der Gesellschaft kommt. Der Kern der Botschaft besteht darin, die Deutschen davon zu überzeugen, dass Deutschland verteidigungswürdig ist. Die Ergebnisse in der öffentlichen Meinung sind immer noch zweideutig. Einerseits steigt die Unterstützung für die Verteidigungsausgaben und das Vertrauen in das Militär nimmt stark zu. Andererseits ist die Hauptsorge der jungen Menschen nicht mehr der Klimawandel, sondern der Krieg, während mehr als die Hälfte der Deutschen der Außenpolitik Berlins zurückhaltend gegenüber stehen und fast 70 Prozent nicht wollen, dass Deutschland eine militärische Führungsrolle in Europa übernimmt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ende der wirtschaftlichen, sozialen, sicherheits- und geopolitischen Stabilität in Deutschland eine Konsenskrise auslöst, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat. Ein Meinungsforscher behauptet, dass die politische Zersplitterung Deutschlands derjenigen der 1930er Jahre „erschreckend ähnlich“ sei, und zieht einen Vergleich mit der „Weimarer“ Zeit vor der Machtübernahme der Nazis. Der offenkundigste Beweis für das neue politische Klima ist der krasse Anstieg des Einflusses der Alternative für Deutschland (AfD), einer im Jahr 2013 gegründeten, extrem rechten Formation. Die AfD ist jetzt die zweitbeliebteste Partei im Land, nach der CDU, aber vor den drei Kräften der Ampel-Koalition (bestehend aus den Sozialdemokraten, der FDP und den Grünen). Umfragen zufolge ist die Co-Vorsitzende Alice Weidel beliebter als Bundeskanzler Olaf Scholz. Während die Anti-Migrationspolitik und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einen Großteil dieses kometenhaften Aufstiegs in den letzten Monaten erklären, umfasst die Spaltung zunehmend geopolitische Fragen. Immer offener fordern „Anti-Establishment-Kräfte“ eine Überprüfung der Bedingungen, die Deutschlands Integration in das US-geführte System ermöglicht haben. Alice Weidel würde gerne ein „Referendum über den Austritt Deutschlands aus der EU“ abhalten und argumentiert, dass der Brexit ein „Modell“ für die Deutschen sein sollte. Sahra Wagenknecht, eine ehemalige Abgeordnete der Partei Die Linke, die kürzlich ihre eigene Partei gegründet hat, fordert die Wiederherstellung der Energieverbindung mit Moskau und ist sich sicher, dass Berlin „einen Wirtschaftskrieg gegen sich selbst führt“. Der Vorsitzende des Thüringer Landesverbandes der AfD, Björn Höcke, zitiert Putin mit den Worten, dass Deutschland und Russland zusammen „unschlagbar“ seien und argumentiert, dass „Amerikas Interessen […] nicht Europas Interessen“ sind. All dies geht auf gesellschaftlicher Ebene mit wachsenden Tendenzen im Klassenkampf nach „französischem Vorbild“ einher, wie die Lahmlegung von Logistik und Verwaltung durch die jüngste Streikwelle von Lokführer:innen und Landwirt:innen sowie die Monsterdemonstrationen gegen das Erstarken der extremen Rechten zeigen, verbunden mit Elementen einer akuten inneren Spaltung nach „amerikanischem Vorbild“. So warnte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir vor dem gesellschaftlichen Klima in Deutschland: „Das ist ein gefährlicher Spaltpilz, der zu Verhältnissen wie in den USA führen kann: Man redet nicht mehr miteinander, man glaubt einander nicht mehr und man unterstellt sich gegenseitig alles Böse dieser Welt.“
Aus all dem lässt sich schließen, dass Deutschland aus dem Krieg in der Ukraine als Verlierer hervorgehen wird, egal wie er ausgeht. Berlin sieht sein Image im Ausland langsam erodieren und ist gezwungen, sich auf die Ungleichgewichte an der Heimatfront zu konzentrieren. Deutschland befindet sich in einer Phase tiefgreifender strategischer Orientierungslosigkeit, die sich aufgrund seiner unbestreitbaren zentralen Stellung auf die europäische Politik und Stabilität auswirkt. Die eisige Kälte in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten gegenüber Macrons Äußerungen, die der Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine Tür und Tor öffnen, ist nur ein Beispiel für den ernsthaften Dissens, der Europa spalten könnte. Während der französische Regierungschef auf einer Pressekonferenz erklärte, dass „die Niederlage Russlands für die Sicherheit und Stabilität Europas unverzichtbar ist“, wobei – wie bei außenpolitischen Äußerungen üblich – nicht klar ist, welche Mittel und Kapazitäten seinen Worten zugrunde liegen, setzt der realistischere deutsche Bundeskanzler eindeutig auf ein Unentschieden in diesem Krieg. Er will nicht, dass Wladimir Putin weiteres ukrainisches Territorium besetzt. Aber er ist auch nicht bereit, die Ukraine im Kampf um die Befreiung der von Russland besetzten Gebiete zu unterstützen.
Die Türkei, die aufstrebende Macht, die die Schwäche der Großmächte ausnutzt
Wenn es eine Macht gibt, die sich das größere Chaos in der internationalen Lage zunutze macht – entstanden durch die Schwäche der USA auf der internationalen Bühne und die Schwäche Russlands in seinem ehemaligen Einflussgebiet der ehemaligen UdSSR, das bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten in einen zermürbenden Krieg verwickelt ist –, dann ist es die Türkei, die in den verschiedenen Krisenszenarien eine wichtige Rolle spielt.
Als Teil der NATO und angesichts der russischen Ängste profitiert Ankara zunehmend von der geopolitischen Zentralität, die es durch den Krieg in der Ukraine erlangt hat. Die Türkei profitiert von ihrer langjährigen militärischen Stärke8 und erscheint als einziger regionaler Akteur dazu in der Lage, dem russischen Expansionismus Einhalt zu gebieten und gleichzeitig eine taktische Übereinkunft mit Moskau aufrechtzuerhalten, obwohl die Interessen der beiden Länder in mehreren Fragen gegensätzlich sind9. Dieses geschickte geopolitische Schema erlaubt der Türkei, je nach ihren Interessen zwischen den Bedürfnissen der USA und ihres regionalen Hauptgegners zu schwanken. So demonstrierte die Türkei während des Krieges der Welt ihre Vermittlerrolle als einziges NATO-Land, das sich noch in Gesprächen mit Wladimir Putin befand, was es Erdoğan ermöglichte, während eines Großteils des Konflikts die sichere Durchfahrt ukrainischer Getreideschiffe10 durch das Schwarze Meer zu organisieren. Darüber hinaus würde die Möglichkeit einer erneuten Kapitulation der USA nach Afghanistan, bei der die Ukraine sich selbst überlassen wäre, die antirussische Rolle der Türkei angesichts der Glaubwürdigkeitskrise Washingtons verstärken. Zugleich würde Ankara sein Machtgleichgewicht in den Beziehungen zu Moskau aufgrund der starken Zermürbung, die Russland durch den Krieg erlitten haben wird, verbessern. Die Früchte liegen auf der Hand: Am Ende hat sich Ankara im Tauziehen mit den USA um die F-16 durchgesetzt11, und durch seine militärische und politische Unterstützung Aserbaidschans in dessen jüngstem Krieg mit Armenien um die Kontrolle über Berg-Karabach hat Ankara zum Nachteil Moskaus die Vorherrschaft im Kaukasus erlangt.
Im Nahen Osten will Erdoğan die zentrale Rolle auf der chaotischen Bühne dieser immer wieder aufflammenden Region übernehmen. Er setzt darauf, dass die USA am Ende des Gaza-Krieges gezwungen sein werden, andere geopolitische Koordinaten zuzulassen als in den letzten Jahren, in denen Israel unbestrittene Priorität hatte, während der Iran als Regionalmacht erstarkte; eine Kombination, die es ermöglichte, den türkischen Expansionismus durch ein Kräftegleichgewicht einzudämmen, das die Entstehung eines regionalen Hegemons verhinderte und ein halbwegs beherrschbares Chaos aufrechterhielt. Vergessen wir nicht, dass die Türkei zwischen 2011 und 2016 in Syrien in der amerikanisch-russischen Konfrontation zerrieben wurde; insbesondere auf US-amerikanischer Seite war Obama maßgeblich daran beteiligt, den Sturz des Regimes von Bashar al-Assad zu verweigern, sich auf die Seite der PKK östlich des Euphrat zu stellen und die regionalen Ambitionen des Iran zu legitimieren, um die der Türkei einzudämmen. Am 7. Oktober 2023 explodierte dieser regionale Plan aufgrund der strategischen Blindheit Israels, was sich in der wachsenden Gefahr eines regionalen Konflikts zeigt, den Washington um jeden Preis vermeiden wollte. Erdoğan glaubt, dass er sich nach dem aktuellen Desaster angesichts der Notwendigkeit eines neuen regionalen Arrangements rächen kann: Die Schwäche der USA und gleichzeitig die Notwendigkeit, diese gefährliche Region aus der Ferne zu managen, stärken die Position der Türkei. Denn irgendjemand muss die Sicherheit Saudi-Arabiens garantieren, den Iran eindämmen, die immer wiederkehrenden Streitigkeiten zwischen den verschiedenen lokalen Akteuren in einer Region managen, in der der Antizionismus einen Sprung nach vorne machen und den rassistischen Staat Israel weiter isolieren wird. Anders als der Iran oder andere Regionalmächte, die sich auf eine offene Konfrontation mit der derzeit dominierenden Weltmacht einlassen, nutzt die Türkei deren Schwäche aus – allerdings als Teil des von Washington geführten NATO-Blocks, indem sie dem Hegemon ihre Dienste anbietet, aber die Fäden zum eigenen Vorteil so straff wie möglich zieht, ohne sie zu zerreißen. Erdoğans jüngste Reise nach Kairo, die die 2013 durch den gewaltsamen Sturz von Mohamed Morsi aufgerissene Wunde endgültig schließt, impliziert einen Sprung in der Zusammenarbeit mit der Al-Sīsī-Diktatur, an die die Türkei die leistungsstarken Kampfdrohnen aus ihrer Produktion liefern wird. Zugleich beabsichtigen beide Länder, verschiedene Arten von Munition, die in Drohnen der neuen Generation verwendet werden, gemeinsam zu produzieren. Diese wichtige Vereinbarung mit Ägypten würde das Gewicht der Türkei in der regionalen Gleichung erheblich steigern und ihr einen nicht unerheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Israel und Iran verschaffen.
Mit dieser regionalen Stärkung und der Tatsache, dass sich die Türkei für die USA in Westeurasien unentbehrlich gemacht hat, plant Ankara, seine strategischen Gewinne im östlichen Mittelmeerraum auszubauen. Dazu nutzt es die Schwierigkeiten Israels aus und – was problematischer ist – stärkt sich gegenüber Griechenland, seinen historischen Feind, der aber auch Teil der NATO ist. Die Türkei wird sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen, wie sie es in der Vergangenheit getan hat (Erdoğan hat seine Unterstützung für die Muslimbruderschaft in Ägypten im Juni 2012 nur unter großen Verlusten aufgegeben), aber der Weg ist keineswegs einfach und voller Hindernisse: Die starke Instabilität bedeutet, dass ein einziger falscher geopolitischer und/oder militärischer Schachzug das ganze Gebäude zum Einsturz bringen kann; die wirtschaftlichen Grundlagen der Türkei, auch wenn sie jetzt auf Finanzmittel aus den Golfstaaten zählt, mit denen sie sich ausgesöhnt hat, sind nach wie vor wackelig; und vor allem das Auf und Ab von Revolution und Konterrevolution, wie es in Ägypten nach dem Sturz Mubaraks der Fall war, kann die besten neoimperialen Pläne zunichte machen. Gerade das Ägypten von Al Sisi, auf das Erdoğan zusteuert, ist eine soziale Bombe, in der das Gespenst der schweren Krise, die der Libanon nach 2019 durchgemacht hat, spukt. Das könnte die Pläne des neuen Sultans von Anatolien ebenso wie denen aller reaktionären Bourgeoisien des Nahen Ostens in die Luft fliegen lassen.
Der Widerstand gegen den Militarismus und das mögliche Erwachen des proletarischen Internationalismus
Der Prüfstein der gegenwärtigen militaristischen Wende werden die Massen sein, oder das, was man vulgär als öffentliche Meinung bezeichnet. Sie ist bei weitem – und glücklicherweise – das „rückständigste“ Element in der Vorbereitung oder Bereitschaft für den Krieg.
In der Hegemonialmacht sind, wie gesagt, immer weniger US-Amerikaner:innen bereit oder in der Lage, sich einschreiben zu lassen, während die Popularität des Militärs stark abnimmt. Interessanter ist es, einige der Gründe dafür zu betrachten. Im Gegensatz zu früheren Generationen – insbesondere zu denen, die nach Pearl Harbor und vor allem während des „Kalten Krieges“ geboren wurden – haben die jungen US-Amerikaner:innen keine besondere Bindung an die Ideologie der US-amerikanischen Außergewöhnlichkeit (american exceptionalism), haben keine Erfahrungen mit Angst gemacht und betrachten die globale Position ihres Landes mit Argwohn. Bedingungen, die sie wohl kaum dazu bringen werden, ihr Leben für ihr Heimatland zu riskieren. Das beunruhigt Geopolitiker:innen, die das zunehmende Abgleiten eines großen Teils der USA in die ätherische Weichheit der Postgeschichte oder mit sexistischen Stereotypen die „Verweiblichung“ künftiger Soldaten befürchten. Oder die Bekämpfung der „Wokeness“, die nach Ansicht einiger republikanischer Kongressabgeordneter die Rekrutierung und Bindung an das Militär verringert.
Hinter diesen Einstellungen stehen jedoch nicht nur Veränderungen im Lebensstil oder in der Politik, sondern vor allem ein Bewusstsein für die schrecklichen Traumata, die Kriege hinterlassen haben. Der Marketingdirektor der Armee, Alex Fink, erklärt: „Die drei wichtigsten Gründe, die junge Menschen für die Ablehnung des Militärdienstes anführen, sind bei allen Waffengattungen gleich: Angst vor dem Tod, Besorgnis über eine posttraumatische Belastungsstörung und Verlassen von Freunden und Familie – in dieser Reihenfolge.“ Junge Menschen empfinden eine militärische Laufbahn als zu stressig. Sie haben nicht die Absicht, „ihr Leben auf Eis zu legen“. Und, so ein Offizier, „sie sind überzeugt, dass der Dienst unter der Waffe sie körperlich oder emotional traumatisiert“. Ein lebendiges Vermächtnis des Irak und Afghanistans: Im Jahr 2021 gaben 75 Prozent der Veteranen an, unter psychischen Störungen zu leiden. Ryan McMaken, geschäftsführender Direktor des Mises Institute, kommentiert die Gründe für die Krise bei der Rekrutierung von Soldaten:
Es ist leicht zu verstehen, warum viele junge Menschen den Militärdienst nicht besonders attraktiv finden. Das US-Militär hat im Irak und in Afghanistan verloren und hat seit 1945 keinen größeren Krieg mehr gewonnen. Klügere potenzielle Rekruten werden wahrscheinlich erkennen, dass die US-Invasion im Irak moralisch ebenso wenig gerechtfertigt war wie die russische Invasion in der Ukraine. Potenzielle Rekruten mit der Fähigkeit zum kritischen Denken könnten auch erkennen, dass das Militär darauf erpicht ist, US-Soldaten zu Kanonenfutter für die russische Artillerie zu machen. In früheren Zeiten hätte die Standardpropaganda des Regimes potenzielle Rekruten davon überzeugen können, dass „wir die Russen in der Ukraine bekämpfen, damit wir sie nicht in Kansas City bekämpfen müssen“. Das ist eine Abwandlung einer gängigen Lüge, die Kriegstreiber den US-Amerikanern erzählen. Aber jetzt kann das Militär nicht einmal mehr davon ausgehen, dass die Konservativen – historisch gesehen eine Schlüsselgruppe für die Rekrutierer – diese Lüge glauben werden. Dank eines Wandels der außenpolitischen Ansichten unter konservativen Populisten sehen viele junge Männer in der Mitte der USA einen Widerspruch zwischen den jüngsten Kriegen des Regimes und der tatsächlichen Verteidigung des „Heimatlandes“.
Auch wenn diese Motive in den USA vielleicht am stärksten ausgeprägt sind, wie die phänomenale Bewegung zur Unterstützung des Gazastreifens und am dramatischsten die tragische Selbstverbrennung eines US-amerikanischen Soldaten, der „Free Palestine“ rief, zeigen, sind sie nicht nur in der führenden Supermacht zu beobachten. So würde beispielsweise mehr als ein Drittel der jungen Brit:innen unter 40 Jahren im Falle eines neuen Weltkriegs den Wehrdienst verweigern – eine Zahl, die höher ist als die Zahl derer, die sich freiwillig zum Wehrdienst melden oder diese akzeptieren würden12.
Dies zeigt, wie schlecht die öffentliche Meinung im „Westen“ auf die neue Ära der Kriege hoher Intensität – ein Euphemismus für Kriege zwischen Großmächten – vorbereitet ist. Wie die Klage zweier Marineseelsorger in den Amtsblättern der wichtigsten Institutionen der Streitkräfte zeigt: „Junge Soldaten und potenzielle Rekruten sind verwirrt darüber, was Großmachtkonkurrenz ist. […] Die Generation Z kann und wird kämpfen. Aber zuerst müssen sie verstehen, warum.“
Diese sehr interessanten Elemente zeigen, dass das Militär die Herzen der neuen Generationen noch nicht gewonnen hat. Die Bourgeoisie wird versuchen, das wachsende Elend und das Gift von Protektionismus und Patriotismus zu nutzen, um die tolerantere, offenere und friedlichere Denkweise der neuen Generationen zu brechen. Dies kann die Bedeutung des Nationalstaates in den Köpfen der Massen verändern. Ein „Striptease“, wie ihn die Pandemie in Bezug auf die „systemrelevanten“ Arbeitskräfte vollzogen hat und dessen soziale, politische und ideologische Folgen wir gerade erst zu sehen beginnen. Angesichts der Globalisierungswelle erschien der Nationalstaat – über seinen zentralen Charakter als grundlegendes und unverzichtbares Instrument der Globalisierung hinaus – als Zufluchtsort vor der Gefräßigkeit des Kapitals und der transnationalen Unternehmen. Diese Erscheinung hatte die Parolen des Kommunistischen Manifests aus dem 19. Jahrhundert ins Gegenteil verkehrt: Die Bourgeoisie erschien internationalistisch, das Proletariat eher nationalistisch.
Die zunehmende Militarisierung und die Rivalität zwischen den Großmächten verleihen der Rückkehr des Nationalstaats in seinen königlichen Funktionen ihr erbärmlichstes Gesicht. Dies sind die objektiven Bedingungen, die die Möglichkeit einer Wiederbelebung des proletarischen Internationalismus eröffnen, wenn wir Revolutionär:innen es verstehen, die Köpfe und Herzen der neuen Generationen zu gewinnen. Denn wie die niederen Geistlichen der US-Armee zu Recht erklären, „um die Herzen der Generation Z zu gewinnen, müssen wir zuerst ihren Verstand gewinnen“. In diesem Kampf um die Herzen der neuen Arbeiter:innengeneration steht möglicherweise die Zukunft der nächsten Jahrzehnte auf dem Spiel. Die Notwendigkeit eines offenen ideologischen und politischen Kampfes gegen Kriegstendenzen ist nicht mehr propagandistisch, sondern hat eine neue Lebenswichtigkeit erlangt. In den imperialistischen Ländern ist sie vielleicht einer der wichtigsten Hebel für eine Wiederbelebung des Klassenbewusstseins, wie die internationale Bewegung zur Unterstützung der Palästinenser:innen zu zeigen beginnt. Erinnern wir uns daran, dass die jungen Aktivist:innen der späten 1960er und 1970er Jahre ihre trotzige Haltung gegenüber der herrschenden Klasse im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg in die Betriebe getragen und damit zu deren Radikalisierung beigetragen haben. Möglicherweise haben die Kriege in Gaza und in der Ukraine Auswirkungen auf die Arbeitsplätze wie in jenen Jahren oder werden sie haben. Deshalb ist die starke Kapitulation eines Großteils der Linken vor der NATO im Ukraine-Krieg so verheerend, und das zu einer Zeit, in der es ein politisches Erwachen der neuen Generationen hinsichtlich der Außenpolitik ihrer Regierungen gibt. Die leninistische Lehre, dass unser Hauptfeind im eigenen Land steht, ist wieder aktuell.
Fußnoten
1. „Die Kriegsillusion des Westens“, Francesco Strazzari, Il Manifesto, 18. Februar 2024.
2. Zitiert von Jean-Dominique Merchet, in Sommes-nous prêts pour la guerre ?, Groupe Robert Laffont, 2024.
3. Die US-Kriegsmaschinerie brauchte etwa zwei Jahre nach Pearl Harbor, um auf dem Höhepunkt ihres industriellen Aufschwungs in Gang zu kommen, eine Situation, die in keiner Weise mit der heutigen Situation der USA vergleichbar ist.
4. Das Beispiel des Zweiten Weltkriegs ist lehrreich, wie der auf Verteidigungsfragen spezialisierte Journalist Jean-Dominique Merchet zeigt: „Nazi-Deutschland befand sich im Wettlauf um die technologische Leistungsfähigkeit, während sich die USA vor allem auf ihre industrielle Leistungsfähigkeit stützten, d.h. auf ihre Fähigkeit zur Massenproduktion zu geringeren Kosten. Der deutsche Tiger-Panzer war dem US-amerikanischen Sherman weit voraus, aber von letzterem wurden fast 50.000 Stück produziert, vom Tiger I und II dagegen weniger als 1.800. Die deutschen V1- und V2-Raketen waren zukunftsweisend, hatten aber nicht die gleiche strategische Bedeutung wie die viermotorigen Bomber B-17 und B-24. Dasselbe gilt für die Kampfflugzeuge: Die USA setzten während des Konflikts keine Düsenflugzeuge ein, im Gegensatz zu den Deutschen, die über nicht weniger als vier verschiedene Modelle verfügten (Me-262, Ar-234, He-162 und Me-263). Was die deutschen U-Boote des Typs XXI betrifft, so machte ihre revolutionäre Technologie keinen Unterschied. Obwohl ab 1943 118 U-Boote gebaut wurden, konnten aufgrund ihrer Komplexität nur zwei von ihnen in Dienst gestellt werden. Im Gegensatz dazu waren die 2.710 US-amerikanischen Liberty-U-Boote, die gleichzeitig in 18 Werften auf standardisierte Weise gebaut wurden, und zwar alle zwei Tage drei Schiffe, ein wesentlicher Faktor für den Sieg der Alliierten.“ Zitiert nach: Sommes-nous prêts pour la guerre?, Groupe Robert Laffont, 2024.
5. Seit den 1990er Jahren hat eine starke Konsolidierung stattgefunden: So ist die Zahl der großen Unternehmen von 51 auf 5 gesunken (Raytheon, Lockheed Martin, General Dynamics, Boeing und Northrop Grumman). 2020 teilten sie sich 36 Prozent aller Pentagon-Verträge, was einem Anstieg von 71 Prozent gegenüber 2015 entspricht.
6. Einige Jahre später wurde Nokia aufgelöst und seine Mobiltelefonsparte an Microsoft verkauft, das sie seitdem geschlossen hat. „What if Germany stopped making cars? Imagine Volkswagen goes the way of Nokia“, The Economist, 31.7.2023
7. Im Ermattungskrieg in der Ukraine wurden zuerst die veralteten Panzerfahrzeuge aus der ehemaligen DDR nach Kiew geliefert, dann die veralteten Versionen der Leopard-2-Panzer, und schließlich wurden die knappen und teuren hochmodernen Systeme gefordert, die für jede Armee unerlässlich sind. In dem zitierten Artikel heißt es: „Deutschland hat zum Beispiel 14 Panzerhaubitzen des Typs 2000 gespendet, eines der modernsten Systeme seiner Art in der Welt. Nach den derzeitigen Verträgen werden jedoch nur 10 von ihnen ersetzt. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte, es bestehe die Option, 18 weitere Panzerhaubitzen für die Armee zu kaufen, „wenn die Finanzierung es erlaubt“. Die Pläne, die fünf an die Ukraine gelieferten Mars-II-Raketenartilleriesysteme durch fünf israelische „Puls“-Mehrfachraketenwerfer zu ersetzen, gehen derweil nur schleppend voran, da der Bundestag dem Kauf noch zustimmen muss. Es könnte auch noch Jahre dauern, bis die Bundeswehr die 18 an Kiew gelieferten Kampfpanzer Leopard 2 A6 ersetzen kann.“
8. Die türkische Rüstungsindustrie entwickelt sich zunehmend zu einem ernstzunehmenden Exporteur. Nachdem die USA in den 1980er Jahren beschlossen hatten, ihr nach der Besetzung Nordzyperns keine Waffen mehr zu verkaufen, begann die Türkei, sich militärisch selbst zu versorgen und entwickelte eigene Raketen und andere militärische Ausrüstung. Heute ist das Land einer der weltweit führenden Entwickler und Hersteller unbemannter Flugzeuge. Ihr Modell Bayraktar TB2 wurde von den Ukrainern in den ersten Tagen der Kampfhandlungen mit großem Erfolg eingesetzt. Der Erfolg der Drohnen und ihr hoher Bekanntheitsgrad während des Ukraine-Krieges haben eine neue Nachfrage geschaffen. Heute haben bereits 24 Länder dieses Modell unter Vertrag genommen.
9. Einerseits unterstützt Ankara Kiew militärisch und diplomatisch, und der türkische Präsident hat geschworen, Moskaus Inbesitznahme ukrainischen Territoriums niemals zu akzeptieren. Die Türkei erkennt die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014 nicht mehr an. Andererseits hat sie sich nie den Sanktionen des „Westens“ gegen Russland angeschlossen, sondern wurde zu einem der größten Abnehmer von russischem Rohöl, nach China und Indien. Außerdem ist der Flughafen Istanbul nach wie vor ein Drehkreuz für Flüge von und nach großen russischen Städten.
10. Die Ukraine, die als Kornkammer der Welt bekannt ist, gehört nach EU-Angaben zu den zehn größten Gersten-, Mais- und Weizenlieferanten der Welt.
11. Nach monatelangen Verhandlungen genehmigte der US-Kongress Anfang Februar den Verkauf von 40 neuen Lockheed Martin F-16 Block 70 und fast 80 Modernisierungspaketen für die bestehende Flotte an die Türkei im Wert von rund 23 Milliarden Dollar. Das Geschäft wurde kurz nach der Zustimmung des türkischen Parlaments zum NATO-Beitritt Schwedens abgeschlossen. Die Türkei benötigt diese Flugzeuge als Ausgleich für ihren Ausschluss aus dem internationalen Konsortium, das das Kampfflugzeug F-35 baut. Diese Strafe wurde verhängt, weil Ankara 2019 Boden-Luft-Raketen des Typs S400 aus russischer Produktion gekauft hatte.
12. Die YouGov-Umfrage „…zeigt, dass 38 Prozent der unter 40-Jährigen sagen, sie würden sich im Falle eines neuen Weltkriegs weigern, in den Streitkräften zu dienen, und 30 Prozent sagen, sie würden nicht dienen, selbst wenn Großbritannien eine drohende Invasion bevorstünde. Die Altersgruppe der 18- bis 40-Jährigen entspricht derjenigen, die die britische Regierung ursprünglich für den Wehrdienst im Ersten und Zweiten Weltkrieg vorgesehen hatte. Einer von 14(sieben Prozent) gibt an, dass er sich im Falle eines Weltkriegs freiwillig zu den Streitkräften melden würde, und elf Prozent würden sich melden, wenn das britische Festland bedroht wäre. Andere geben an, dass sie zwar nicht freiwillig dienen würden, sich aber nicht gegen die Einberufung wehren würden, wenn die Zeit gekommen wäre: 21 Prozent im Falle eines Weltkriegs und 23 Prozent im Falle einer Invasion Großbritanniens.
Dieser Artikel erschien zuerst am 3. März 2024 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.