Das türkische Regime trägt die Verantwortung an den Toten, was nun?

17.02.2023, Lesezeit 15 Min.
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Das Erdoğan-Regime trägt die politische Verantwortung für die soziale Katastrophe nach dem Erdbeben. Aus sozialistischer Sicht ist es zwingend, sich mit der Frage der lokalen Koordination der Erdbebenhilfe zu beschäftigen: Wie kann die Selbstorganisierung trotz staatlicher Repression ausgeweitet werden?

Mindestens 42.044 Menschen (38.044 in der Türkei, 4200 in Syrien) sind ums Leben gekommen. Nach Angaben der HDP-Abgeordneten Garo Paylan  liegt die Zahl bereits bei 100.000 in der Türkei. Offiziell gibt es 105.505 Verletzte, mehrere Millionen Menschen sind derzeit obdachlos. In der Erdbebenregion leben 13,5 Millionen Menschen. Die türkische Regierung versucht, das Erdbeben als einzigartig darzustellen, um ihr Versagen mit der Größe des Bebens zu rechtfertigen. Dabei ist bisher weder die Regierung noch ein einziges Minister, noch eine Abgeordnete, noch eine Bürokrat:in zurückgetreten.Und doch ist das Versagen bei Hilfsarbeiten nicht naturbedingt, sondern kapitalistisch vorprogrammiert.

Die AKP-Regierung investierte die Gelder aus der Erdbebensteuer in die Förderung kapitalistischer Unternehmen, in den eigenen korrupten Apparat und in die Kriegswirtschaft. Statt in Forschung, Prävention und Nothilfe zu investieren, wie es möglich und nötig wäre, baute die AKP-Regierung mit dem Geld unter anderem die türkische Armee aus. Ein Land wie die Türkei, das wirtschaftlich bereits am Boden liegt, versucht seine Macht auszuweiten, indem es gegenüber seinen Nachbarstaaten militärisch bedrohlich auftritt und Operationen und Angriffe ausübt. In der Zusammenarbeit mit den beiden Kriegsparteien im Ukraine-Russland-Krieg sieht die Türkei eine Chance, ihre Profite zu steigern. Die Türkei entsendet regelmäßig eigene Truppen in den Nordirak und unterhält Truppen in Syrien. Im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien versucht sie, ihren Einfluss auf den Kaukasus auszudehnen. Dazu gehört auch die ständige Bedrohung der Republik Zypern und Griechenlands. Ihre Versuche, in Afghanistan und Libyen Fuß zu fassen, sind kläglich gescheitert.

Darüber hinaus finanzierte die AKP Bauprojekte von Unternehmen, die in einem der aktivsten Erdbebengebiete der Welt unter lebensgefährlichen Bedingungen Wohnhäuser und öffentliche Einrichtungen errichteten, ohne sich entsprechend den Baumaßnahmen präventiv gegen solche Katastrophen abzusichern. Die Türkei versucht nicht nur militärisch, sondern vor allem mit Straßen- und Bauprojekten in die Kriegsgebiete vorzudringen, die fünf größten Baufirmen der Türkei, im Volksmund „Fünf Banditen“ genannt, werden mit Staatsaufträgen unterstützt, wollen den Aufbau der zuvor kriegszerstörten Gebiete mit türkischer Beteiligung übernehmen. Das ‘Megaprojekt’ der Regierung, einen zweiten Bosporus zu öffnen, um die Grundstücke entlang des Kanals teuer an ausländische Investoren zu verkaufen, zeigt, dass diese Entwicklungen nicht der Bevölkerung, sondern nur dem Profitstreben der Konzerne dienen. Die Bebauungsmöglichkeiten rund um den tatsächlichen Bosporus sind sehr begrenzt und bereits weitgehend genutzt. Im Falle eines Erdbebens würden die Erschütterungen durch den Kanal massiv verstärkt, ganz zu schweigen von der Zerstörung einer der letzten Grünzonen rund um Istanbul.

Erdoğan erhält nicht nur politische Unterstützung aus Deutschland für seine Angriffe auf die kurdische Bevölkerung im eigenen Land und in Syrien und im Irak als NATO-Mitglied, sondern auch finanzielle Unterstützung, um die Geflüchteten in der Türkei zu halten. Sie bleiben Geiseln Erdoğans, der immer wieder versucht, die europäischen Länder mit der Karte der Geflüchteten zu erpressen. Das deutsche Regime bekämpft linke und kurdische Organisationen in Deutschland mit Verboten und Prozessen, während türkische faschistische Organisationen wie die Grauen Wölfe ihre Aktivitäten fortsetzen. Die NATO ist nicht nur eine Kriegsorganisation der westlichen Mächte, sondern das gemeinsame Mittel der westlichen Mächte zur Unterdrückung des kurdischen Volkes.

Die Regierung rühmte sich immer, die besten Straßen zu bauen. Nach den Erdbeben konnten viele Orte nicht mehr erreicht werden, weil die Straßen nicht mehr befahrbar waren und der Flughafen Hatay nicht mehr angeflogen werden konnte. Der Faktor Erdbeben wurde beim Bau offensichtlich nicht berücksichtigt. Die Renovierung der alten Gebäude, ggf. der Neubau und die strenge Kontrolle der neuen Bauprojekte unter dem Zeitdruck des nächsten starken Erdbebens lassen sich unter kapitalistischen Bedingungen nicht ausreichend umsetzen, da die Verringerung der Kosten und die Maximierung der Gewinne im Vordergrund stehen. Es bräuchte eine Planwirtschaft mit Verstaatlichung der Baufirmen. Stattdessen werden kleine Baufirmen mit billigen Krediten gefördert, um eine „Bauwirtschaft“ aufzubauen. Offiziell gibt es in der Türkei 453.497 Bauunternehmer:innen, in Deutschland hingegen 79.000 im Jahr 2021.

Die Analogie dazu ist, dass die Türkei in den 50er Jahren auf den Schienenverkehr verzichtete und den Transport mit Busunternehmen bevorzugte, um in jedem Winkel der Türkei kleine Busunternehmen zu haben. Dieses Wirtschaftsmodell hat dazu geführt, dass jedes Jahr Tausende von Menschen bei Busunfällen auf schlecht ausgebauten Straßen ums Leben kommen. Genauso wie es tausende Busunternehmen gibt, gibt es auch tausende Bauunternehmen. Der kapitalistische Staat hilft vielen kapitalistischen Sektoren überhaupt erst zu entstehen und erhält sie später am Leben. In beiden Fällen sind die Bosse der Kleinunternehmen zu den Unterstützerinnen der jeweiligen Regierungen geworden und damit eine Säule der Hegemonie der rechten Parteien auf Kosten der Bevölkerung.

Viele Menschen in der Türkei beklagen, dass der Staat alle Hilfsmaßnahmen erschwert und blockiert. Dazu gehört auch die Klage, dass kurdische und alevitische Gebiete bei der Hilfe hinter den Gebieten der AKP-Wählerschaft zurückbleiben. Dafür spricht, dass die vom Erdbeben am stärksten betroffene Stadt Hatay mit vorwiegend alevitischer Bevölkerung erst nach Tagen ansatzweise die notwendige Hilfe erhielt. Der Staat beschlagnahmt die Sachspenden an der Grenze und stellt sie den staatlichen Organisationen zur Verfügung, die nicht in der Lage sind, sie schnell und gezielt in allen Erdbebengebieten zu verteilen. Viele Erdbebenopfer wollen ihre Häuser und Dörfer nicht verlassen, weil sie glauben, wenn sie einmal weg sind, ist eine Rückkehr nicht mehr möglich. Der Völkermord von 1915 und die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus fünftausend Dörfern in den 1990er Jahren sind den Menschen noch in kollektiver Erinnerung. Hinzu kommt, dass die Bauplanung nach dem Erdbeben große Profite für Unternehmen verspricht, die viele Rechte der Erdbebenopfer nicht berücksichtigen werden. Der Staat will seine Schwäche nicht zeigen und verhindert deshalb, dass Menschen und Initiativen selbstständig arbeiten. Trotz der großen Solidarität in der Bevölkerung wird die Spaltung der Gesellschaft in diesen Tagen von der Regierung betrieben und vertieft.

Regierung bekämpft Berichterstattung

Zwei Faktoren haben maßgeblich zur Wahl der AKP im Jahr 2002 beigetragen. Die Hilflosigkeit der Regierung nach dem Erdbeben von Istanbul 1999 mit offiziell 20.000 Toten und die tiefe Wirtschaftskrise 2021. Die AKP kritisierte die Politik der Vorgängerregierung und versprach eine bessere Türkei. Mit dem Präsidialsystem, so Erdoğan, könne der Staat besser, entschlossener und schneller handeln. Erdoğan verband seinen Bonapartismus mit dem Versprechen auf ein besseres Leben. Das Gegenteil ist eingetreten. Jetzt schreiben wir das Jahr 2023 und die Türkei hat ein großes Erdbeben mit bisher mindestens 38.044 Toten, Hilflosigkeit und Versagen bei den Rettungs- und Hilfsmaßnahmen und eine der größten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte.

Bei einem Erdbeben sollte kein Gebäude einstürzen, da sind sich die Architekt:innen einig. Die Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,4  sollten höchstens Schäden am Gebäude hinterlassen, wenn es sich zum Beispiel um ein altes Gebäude handelt. Allerdings dürfte es auf keinen Fall zum Einsturz kommen, es sei denn, sie sind sehr schlecht gebaut oder die Bauvorschriften nicht kontrolliert. Die Regierung hat aus der Erdbebensteuer alles andere gemacht, außer präventiv der Erdbebengefahren vorzukommen. Es handelt sich also keineswegs um eine Naturkatastrophe, sondern um die Verantwortung des türkischen Kapitalismus, der den Profit über die Menschenleben stellt.

Seitdem die AKP damit gescheitert ist, den wirtschaftlichen Aufstieg zur Regionalmacht, oder sogar zu einer imperialistischen Macht zu vollziehen, kann sie die Bourgeoisie nicht mehr ohne weiteres von ihrem Programm überzeugen. Weil sie geopolitisch und wirtschaftlich gescheitert keine Erfolge vorweisen können, bleibt es ihnen nur national harte Strafen an Kritiker:innen zu verteilen. Kritische Medien werden mit extremen „Steuerstrafen“, anderen Geldstrafen, dem Entzug staatlicher Werbung und Haftstrafen eingeschüchtert. Die türkische Medienlandschaft ist weitgehend AKP-nah, da die hinter den Medien stehenden Unternehmen durch Staatsaufträge kontrolliert werden. So ist ein Medienmogul gleichzeitig Bauunternehmer, Bankbesitzer oder privater Eigentümer der ehemaligen staatlichen Lotteriegesellschaft usw. Um an die Staatsaufträge zu kommen, kaufen die Kapitalistinnen Zeitungen und Fernsehsender. So erfahren die Menschen, die diese Fernsehsendungen sehen und diese Zeitungen lesen, wie gut die Regierung trotz mancher Kleinigkeiten vorankäme.

Nur die staatlichen Rettungskräfte werden gelobt, der Rest wird einfach ignoriert. Wenn die Opfer des Erdbebens anklagen und irgendwie Kritik äußern, wird ihnen das Mikrofon weggenommen und die Reporter:in dreht sich um und geht weiter. Wenn die Reporter:innen selbst Kritik an der Regierung äußern, verlieren sie ihren Job am nächsten Tag. Es werden Opfer statt Täter verhaftet. Die Anklagen gegen die politischen Gegner:innen sind  immer die gleichen: „Die Leute werden zu Unruhen angestiftet. Die Regierung arbeitet gut. Die Kritik an ihr kann nur erfunden sein und steht im Dienste der internationalen Mächte, die den Aufstieg der Türkei beneiden und sabotieren wollen.“ Die Argumente des bürgerlichen Nationalismus sind Unsinn, aber die Repression und die Verhaftungen sind real. Das ist, wo die Hegemonie der Regierung herkommt.

Die Frage der NGOs und Linken bei den Rettungsarbeiten

Der Staat selbst behindert die Rettungsarbeiten und verlangsamt sie, weil er Druck ausübt, um seine Herrschaft unter der Führung der AKP fortzusetzen. Das Erdbeben wird als Ausrede benutzt, eine Einheit der Nation zu schaffen, damit die AKP sich weiterhin als starke Führung der Nation präsentieren kann. Anders als beim Putsch 2016 konnte Erdoğan die Oppositionsführer:innen nicht dazu bewegen, gemeinsam mit ihm vor der Öffentlichkeit aufzutreten. Er selbst ist sogar erst drei Tage nach dem Erdbeben in der Öffentlichkeit aufgetreten. Derweil beschränkt sich die Kritik an der Regierung durch die Opposition darauf, die Regierung für die nicht gemachte bisherige Arbeit anzuprangern und sie am Wahltag abzuwählen. Ist das die richtige Strategie?

Die größte Hilfsaktion in der Türkei „Ahbab“ mit 300.000 Freiwilligen hat inzwischen bekannt gegeben, wie sie mit den eingegangenen Geldern verfahren will. Die Organisation wurde in den letzten Tagen von der türkischen Regierung und ihren Anhängern immer wieder angegriffen. Unter diesem Druck hat Ahbab angekündigt, mit rund 45 Millionen Euro zukünftig in Dinge zu investieren, die unbedingt notwendig sind, wie zum Beispiel Container für 2000 Familien und die Versorgung für alle täglichen Bedürfnisse. Gleichzeitig wollen sie aber auch Projekte  wie die Reparatur von Schulen, den Bau von Pflegeheimen, den Bau von Rehabilitationszentren und Studierendennwohnheimen vorantreiben. Also Aufgaben, die eher Teil eines langfristigen staatlichen Aufbaus sind.

Ahbab will somit dem Staat beweisen, dass sie die Aufgaben des Staates übernehmen und gleichzeitig aber auch den politischen Interessen des Staates hilfreich sein können. So befindet sich Ahbab in einem Prozess ein anerkannter Teil des Staatsapparates zu werden.  Ein bekannter Reporter und Youtuber hat angekündigt, die Spenden aus dem Ausland jetzt an die staatliche Struktur AFAD zu überweisen und nicht wie bisher an Ahbab, weil Ahbab und AFAD nun ja zusammengehören würden. Sogar Ahbab selbst hat die Menschen aufgerufen, nicht mehr an Ahbab, sondern stattdessen an die staatliche Organisation AFAD zu spenden, weil Ahbab ja schon genug Geld hätte. Dabei verschweigen sie, warum die Menschen nicht bereit sind, an staatliche Organisationen zu spenden.

Hinter diesen Diskussionen steht die Tatsache, dass der bürgerliche Staat versucht, seine Hegemonie zu festigen, indem er die Hilfsorganisationen unter seine Kontrolle bringt und ihre Aktivitäten stark einschränkt. Die Rettungsorganisation AKUT, die 1999 sehr viele Menschen aus den Trümmern gerettet hatte, wurde später vom türkischen Staat aufgelöst. Um diesem Schicksal zu entgehen, ist Ahbab bereit, ihre Unabhängigkeit weitgehend aufzugeben. Ahbab ist nicht politisch gewappnet, diesem Druck seitens Staat auf Dauer standzuhalten, weil sie sich bisher nur als Ergänzung der staatlichen Arbeit verstehen. Die Armen, Kranken, Behinderten und alle anderen Menschen, denen Ahbab half, hätten eigentlich vom Staat versorgt werden müssen.

Auf der anderen Seite haben viele linke und kurdische Gruppen ihre eigenen unabhängigen Aktionen, die versuchen, den Menschen in dieser Region zu helfen, aber diese sind sehr begrenzt, weil ihre Möglichkeiten stark eingeschränkt sind. Die eigentliche Frage ist also, wie die staatliche Kontrolle durch die Arbeiter:innenklasse und die Bevölkerung vor Ort ersetzt werden kann, damit die jetzige Hilfe besser funktioniert und eine Gesellschaft jenseits der Interessen der Baufirmen und des korrupten Staatsapparates aufgebaut werden kann.

Was die Rettungsarbeit politisch ausmacht ist die Tatsache, dass Hunderttausende von Freiwilligen autonom arbeiten. Aber diese Autonomie ist stark eingeschränkt, weil sie nicht nur vom Staat unterdrückt werden, sondern auch von den reformistischen Kräften nicht als Keime von Selbstverwaltungsorganen verstanden werden, die alle Möglichkeiten der Gewerkschaften, der Hilfsorganisationen, der ausländischen Hilfe, alle staatlichen Ressourcen nutzen und selbst kontrollieren. Die HDP und ihr Block mit Parteien wie TIP, EMEP „Front der Arbeit und Freiheit“ (FAuF) verzichten auf die Umwandlung der bestehenden Solidaritätsarbeit in Selbstverwaltungsorgane, weil sie auf ein Bündnis mit den bürgerlichen türkischen Oppositionsparteien hoffen. Die Diskussionen um die eigene Kandidatur innerhalb des Blocks sind Ausdruck dieses Drucks, einen gemeinsamen Weg mit den bürgerlichen Parteien zu gehen.

Deshalb will die FAuF zunächst mit dem bürgerlichen Oppositionsblock um CHP und IYI Parti verhandeln. Sollte die HDP tatsächlich eine eigene Kandidatur aufstellen, will sie im zweiten Wahlgang noch einmal mit den bürgerlichen Parteien verhandeln. So wird die ganze berechtigte Wut der Bevölkerung in den Wahlkampf gegen Erdoğan kanalisiert und am Ende profitiert die bürgerliche CHP davon, weil sie die besten Chancen hat, Erdoğan abzulösen. Aus diesem Grund bleiben die Koordinierungsinstanzen humanitär, ohne einen Doppelmachtanspruch zu entwickeln. Sie sind konjunkturell und einfach abzulösen. Eine Radikalisierung findet deshalb nicht statt, weil der bürgerliche Block Mittel gegen die AKP und die rechtsextreme MHP wie Streiks oder Demonstrationen für kontraproduktiv hält, da sie davon ausgehen, dass Erdoğan bei den Wahlen am 14. Mai sowieso abgewählt wird.

Das kommt daher, weil HDP und FAuF alle Tätigkeiten nur gegen Erdoğan gerichtet verstehen und eine Volksfront mit den bürgerlichen Parteien befürworten. Das Regime sei faschistisch, die Demokratie müsse von allen verteidigt werden usw. Wie Trotzki über die Volksfront in Spanien sagte, haben sich die linken Kräfte mit dem Schatten der Bourgeoisie verbündet, während die Bourgeoisie kein Interesse an einer solchen Volksfront zeigte. So hat der Oppositionsblock aus sechs Parteien die FAuF bisher ignoriert und unter anderem die kurdische Frage nicht in sein 240 Seiten starkes Wahlprogramm aufgenommen. Das Konzept der Radikalen Demokratie, das vor allem von der HDP vertreten wird, scheitert immer wieder am Aufbau der Selbstverwaltungen, weil es die Frage der Staatsmacht ausklammert und mit den bürgerlichen Parteien ein gemeinsames Vorgehen anstrebt.

Die Frage der lokalen Koordination und der Staatsmacht

Die Arbeit linker und kurdischer Gruppen und Initiativen wie Ahbab löst trotz der wichtigen Arbeit vor Ort nicht die politische Frage, dass die staatliche Kontrolle der AKP sowohl die Rettungsarbeiten blockiert und verlangsamt als auch die Menschen rassistisch spaltet. Eine Organisierung auf lokaler Ebene, die jede gewerkschaftliche Unterstützung erhält, kann nur durch eine Einheitsfront der Arbeiter:innenklasse erreicht werden. Sowohl die Gewerkschaften, als auch die reformistischen Parteien und alle zivilen und linken Hilfsansätze sowie die Ärztekammer TTB, die Architektenkammer TMMOB, die Rechtsanwaltskammer TBB müssen gemeinsam koordiniert werden. Diese Berufskammern in der Türkei haben seit Jahren eine traditionelle soziale Tendenz und sind auf ihre Weise in der Rettungsarbeit aktiv. Es ist eine Aufgabe in den Gewerkschaften, eine antibürokratische Strömung aufzubauen, um an solchen Aufgaben mitzuwirken. Denn die Gewerkschaftsbürokratie hat kein Interesse daran, dass sich die Gewerkschaften politischen Fragen öffnen, weil sie dadurch in Konflikt mit dem Staat und den Unternehmern geraten würden. Doch eben solche Koordinierung sollten den Erdbebenopfern in der Region die Möglichkeit geben, den Wiederaufbau selbst zu kontrollieren. Damit nicht wieder Unternehmen ihre Profite über Menschenleben stellen können.

Die Koordination muss auch politische Aufgaben übernehmen, wie die Hilfe für die Erdbebenopfer in Rojava und Syrien. So müssen die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien geöffnet werden, um diese Hilfe voranzutreiben. Erst nach acht Tagen sind die ersten internationalen Hilfen in Syrien angekommen. Syrien wird weiterhin von der EU und den USA sanktioniert, so dass die Menschen unter sehr erniedrigenden Bedingungen leben müssen.   Der reaktionäre Stellvertreterkrieg in Syrien hat die Infrastruktur des Landes völlig zerstört. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Massen und ein durch Krieg und Erdbeben zerstörtes Land sind die Verantwortung vor allem der imperialistischen Mächte und aber auch des Assad-Regimes, das das ganze Land unterdrückt und gespalten hat.

Angesichts der internationalen Verstrickung der Völker, wie hier durch die Erdbeben, müssen die Grenzen abgeschafft werden, damit die Menschen einander helfen können. Die Kriegsorganisation NATO, die Kriege anzettelt und die wirtschaftlichen Interessen der westlichen Länder mit eben diesen Kriegen verteidigt und das Leben unzähliger Menschen zerstört, muss aufgelöst werden. Gerade angesichts des bestehenden Rassismus gegen Flüchtlinge und Migration in der Türkei muss ein internationales Verständnis verteidigt werden, das die Völker dieser Region nicht hierarchisch, sondern als Teil der sozialistischen Föderation dieser Region jenseits kapitalistischer Grenzziehungen gegen reaktionäre Regime wie das Erdoğans und Assads und imperialistische Mächte betrachtet.

Wir brauchen keine milliardenschwere Militarisierung – weder in der Türkei noch in Deutschland. Stattdessen muss das Geld in eine stabile Infrastruktur im Gesundheitsbereich investiert werden, um in Katastrophensituationen wie der jetzigen Hilfe leisten zu können. Bau- und Immobilienkonzerne müssen enteignet werden, damit sofort mit dem erdbebensicheren Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Wohnungen begonnen werden kann, ohne dass Profite über Menschenleben gestellt werden. Jegliche internationale und lokale Hilfe sollte von lokalen Organisationen koordiniert werden. Die zuständigen Minister und die Regierung müssen zurücktreten, denn sie tragen die Verantwortung dafür, dass Zehntausende von Menschen ihr Leben verloren haben, dass Gelder für die Erdbebenvorsorge zugunsten der Militarisierung und großen Projekte der Regierung und Korruption verschwendet wurden und dass sie bei der bisherigen Koordination der Hilfe völlig versagt haben.

 

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