„Das Spiel ist jetzt vorbei!“ – Riot Medics Berlin berichten aus dem Schanzenviertel
Die "Riot Medics Berlin" waren als Demo-Sanitäter*innen bei den #NoG20-Protesten unterwegs. Wir spiegeln ihre Stellungnahme zu den Geschehnissen im Hamburger Schanzenviertel – inklusive der massiven Polizeirepression, die sie selbst erfahren mussten.
Als Gruppe Riot Medics waren wir während des G20-Gipfels in Hamburg seit Donnerstag, 6. Juli auf den Straßen unterwegs. Mit signalfarbenen Uniformen waren wir als Sanitäter_innen zu erkennen und jederzeit ansprechbar. Wir standen verletzten Menschen bei und übernahmen die medizinische Erstversorgung in Situationen, in denen offizielle Rettungsdienste keine Versorgung gewährleisten konnten.
Wir verstehen uns nicht als politischer Akteur, die Einschätzung dieses Wochenendes überlassen wir anderen. Nach einigen Tagen irritierender Presseberichterstattung sehen wir allerdings die Veröffentlichung eines Gedächtnisprotokolls aus der Freitagnacht zum Polizeieinsatz im Hamburger Schanzenviertel dringend geboten.
Als sich am Freitagabend die Situation auf der Schanze zuspitzte und auch für uns unübersichtlicher wurde, richteten wir mit Hilfe der Berliner Left-Demo-Medics und der Bewohner_innen eines Hauses auf dem Schulterblatt eine Versorgungsstation in einem Hausflur gegenüber der Lerchenstraße ein. Dorthin konnten wir verletzte Personen aus akuten Gefahrenzonen bringen, untersuchen, behandeln, gegebenenfalls Kontakt mit Rettungsdiensten aufnehmen und ihren Abtransport organisieren. Letzteres wurde aufgrund von Polizeisperren und Barrikaden im Laufe des Abends zunehmend schwieriger.
Als kurz nach Mitternacht das Gebiet von Polizei-Einheiten gestürmt wurde, beschlossen wir, im Haus zu bleiben. Mit uns im Haus befanden sich zahlreiche Patient_innen, die weiterführende medizinische Versorgung in einem Krankenhaus benötigten, sowie deren Angehörige. Insgesamt waren es etwa 18 Personen. Darunter war ein Patient, dessen Zustand es erforderte, ihn liegend ins Krankenhaus zu transportieren. Versuche, einen Krankenwagen auch nur in die Nähe der Schanze zu bekommen, waren erfolglos gescheitert und so warteten wir im Hausflur, bis sich die Situation auf den Straßen wieder beruhigen würde.
Etwa um 00:50 Uhr, nachdem offenbar einige Straßen von Barrikaden geräumt wurden, verließen drei der Sanitäter_innen das Haus, um ihren Heimweg anzutreten. Vor der Haustür trafen sie auf eine Gruppe von Beamten einer nicht näher erkennbaren Spezialeinheit der Polizei, die sich dem Hauseingang näherte. Sie wiesen die Beamten darauf hin, dass sich in diesem Hausflur Sanitäter_innen und Verletzte befänden.
Im Hausflur selbst kam kurz darauf ein Bewohner die Treppe hinunter und sagte, er sei von der Polizei angewiesen worden, die Haustür von innen zu öffnen. Nachdem er die Tür öffnete, betraten mehrere mit Maschinengewehren bewaffnete Spezialkräfte den Flur, befahlen uns die Hände zu heben, einer von ihnen rief: “Das Spiel ist jetzt vorbei”. Direkt hinter der Eingangstür lag der schwerverletzte Patient eingewickelt in Rettungsdecken mit laufender Infusion. Im Erdgeschoss sowie auf den Treppenstufen saßen ausschließlich markierte Sanitäter_innen, in den oberen Stockwerken warteten weitere Patient_innen.
Mit Sturmhauben und ballistischen Westen ausgerüstet zielten die Spezialkräfte auf Köpfe und Oberkörper mehrere Sanitäter_innen im Treppenhaus. Sie forderten uns auf, uns nicht zu bewegen und die Arme oben zu halten, sonst würden sie von ihren Schusswaffen Gebrauch machen. Die grünen Laser-Zielhilfen aus den Gewehrläufen blieben über die gesamte Zeit auf die Oberkörper derjenigen gerichtet, die im Erdgeschoss und im Treppenhaus für die Polizisten sichtbar waren.
Zwei Sanitäter und eine Ärztin, die bei dem schwerverletzten Patienten am Hauseingang geblieben waren, wurden aufgefordert, den Patienten aus dem Haus zu tragen. Er sollte hinter einem gepanzerten Polizeifahrzeug abgelegt werden. Die zwei Sanitäter sollten sich mit den Händen an eine Hauswand und auseinander gespreizten Beinen aufstellen. Währenddessen waren aus einem anderen Haus mehrere Detonationen und Ramm-Geräusche zu hören. Einem der Sanitäter wurde der Lauf einer Waffe in den Rücken gedrückt mit den Worten „Augen nach links, oder es knallt“. Die Ärztin blieb bei dem Patienten, bis wir aufgefordert wurden ihn zu einem RTW außerhalb der Polizeiabsperrung zu bringen.
Wir übrigen im Hausflur verbliebenen Menschen wurden aufgefordert, langsam und mit erhobenen Händen nach unten zu gehen. Während die Zielfernrohre auf uns gerichtet blieben, mussten wir einzeln das Haus verlassen. Einige wurden abgetastet, durchsucht und bei erneuter Androhung des Schusswaffengebrauchs zur absoluten Kooperation genötigt.
Nach Verlassen des Hauses wurden wir nicht weiter beachtet. Wir blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und warteten das Ende des Einsatzes ab. Was sich währenddessen und anschließend im Haus abspielte, entzieht sich unserer Kenntnis. Nach etwa 30 Minuten, als die die Spezialkräfte das betreffende Haus verlassen hatten, durften wir zurück in den Hausflur gehen um unserer Ausrüstung zu holen. In Begleitung von Polizeibeamten wurden wir schließlich in Richtung Neuer Pferdemarkt bis vor die Polizeikette geführt.
Die Situation ging für uns am Ende glimpflich aus. Dennoch standen die meisten der im Haus befindlichen Sanitäter_innen unter Schock und mussten ihre freiwillige Arbeit für den Rest des Wochenendes beenden. Mindestens drei Personen nahmen daraufhin psychologische Nothilfe in Anspruch.
Bereits rund um die zerschlagene Demonstration am Donnerstag bekamen wir Helfende ein hohes Maß an Gewalt und Brutalität zu sehen. Gegen Mauern gedrückte Menschen, panisch fliehende Männer und Frauen. Das Erlebnis auf uns gerichteter Maschinengewehre wird darüber hinaus ein einschneidendes bleiben. Und es wirft für uns die Frage auf, ob bei der bisherigen medialen und politischen Aufarbeitung der Geschehnisse eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes bewaffneter Polizeikräfte stattfindet.
Riot Medics Berlin