Das Referendum in der Türkei und seine Folgen
Schon morgen, am 16. April, wird das Verfassungsreferendum über den Übergang zu einem autoritären Präsidialregime geschehen. All diejenigen, die angesichts des landesweiten Ausnahmezustands davon ausgingen, dass das Referrendum für die Regierung ein Spaziergang wird, wurden eines besseren belehrt. Ein Gastbeitrag des Başlangıç-Magazins.
Die Lebhaftigkeit der „Nein“-Kampagnen ist, angesichts des harten Durchgreifens des Staates, eine außerordentliche Quelle der Hoffnung für alle Kräfte der sozialen Opposition, ungeachtet des Ergebnisses des Referendums. In der kurzen Zeit, die uns bis dahin noch bleibt, müssen wir nicht nur für mehr „Nein“-Stimmen werben. Wir müssen auch eine Debatte über unsere Strategie für die Phase nach dem Referendum anstoßen, damit wir nicht wieder ahnungslos erwischt werden, wie es bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 der Fall war. Damals hatte die pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) über 13% der Stimmen erhalten.
Warum hat die Regierung ein Referendum angestrebt?
Präsident Erdoğan war angesichts der Zersplitterung des herrschenden Blocks gezwungen, mit anderen Cliquen innerhalb des Staatsapparates eine neue Allianz zu schmieden. Diese Zersplitterung wurde nach dem von seinen einstmaligen Verbündeten, den Gülenist*innen, organisierten und gescheiterten Putschversuch am 15. Juli offenkundig. Die Basis für diese neue Allianz war die Kriegstreiberei gegenüber den Kurd*innen in der Türkei und Nord-Syrien, insbesondere um einen „kurdischen Korridor“ in Rojava zu verhindern. Somit hat Erdoğans 180-Grad-Wende in der kurdischen Frage diesem genügend Spielraum ermöglicht, neue Allianzen zu schmieden, seine Position im Staat und somit auch seine soziale Basis auszubauen.
Zügelloser Militarismus diente dazu, den Notstand, welcher nach dem Putsch vom 15. Juli ausgerufen worden war, als legitim und akzeptabel zu verkaufen. Er fungierte auch wie ein Klebstoff, der verschiedene politische Lager mit widerstreitenden Interessen zusammen hielt. Das Resultat dessen war eine Reihe von so genannten „nationalen und patriotischen“ Allianzen mit dem Staatsapparat. Die Annäherung an nationalistische Figuren wie Bahçeli, Perinçek, Ağar, Feyzioğlu und Baykal gab Erdoğan in der komplizierten politischen Gemengelage nach dem Putschversuch die Möglichkeit, sich als Führer und Sprachrohr des geeinten staatlichen Auftretens gegen die Kurd*innen zu präsentieren.
Hätte dieses Bündnis jedoch ein dauerhaftes werden sollen, so wäre es nötig geworden, dass sich ein Gleichgewicht zwischen diesen verschiedenen Cliquen einstellt und dass Erdoğan sich die Macht mit ihnen teilt, wie bereits zuvor im Falle der Gülenist*innen. An diesem Punkt erschien Erdoğan das Referendum als das beste Mittel, diese Aufteilung der Macht zu unterbinden und somit die Beziehungen zwischen den Cliquen unter seiner unangefochtenen Dominanz neu zu organisieren. Auch wenn das Referendum ein Risiko darstellt, manche seiner Verbündeten vor den Kopf zu stoßen, war es als Mittel dafür gedacht, die Konkurrenz zwischen diesen Fraktionen und innerhalb des Staatsapparates dadurch zu vereinfachen, dass er seine Position als „Boss“ im Zentrum festigen würde.
Eine zersplitterte „Ja“-Front
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Erdoğan trotz der Zuschreibungen von vielen Beobachter*innen (einschließlich aus der Linken), über eine Art Allmacht zu verfügen, dazu gezwungen war, dieses Referendum durchzuführen. Es ist ein sehr riskantes Unterfangen mit einem unklaren Ausgang. Die anfängliche Behauptung der Regierung, dass das Ergebnis ein glorreicher Sieg für das „Ja“ sein würde, hat sich schnell als Luftnummer herausgestellt. Sogar Regierungskreise waren gezwungen zuzugeben, dass es sich zu einem sehr knappen Wettstreit entwickelt hat. Auch wenn der Block der Erdoğan-Anhänger*innen auf dem Papier sehr stark zu sein scheint, hat er es bisher noch nicht geschafft, die Atmosphäre vor dem Referendum zu dominieren und seine unangefochtene Vormachtstellung zu etablieren. Tatsächlich wirkt der Apparat der herrschenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) vielleicht zum ersten Mal eher ungeordnet in seinem Antritt zu einer Wahl.
Die Regierungskreise befürchten, dass manche Teile der AKP und auch der MHP (Partei der Nationalistischen Aktion, die als de facto Koalitionspartner der AKP agiert) sich nicht wie erwartet verhalten werden. MHP-Anhänger*innen in ganz Zentralanatolien, die für ihr Schwanken zwischen AKP und MHP bekannt sind, scheinen stark zu einem „Ja“ zu neigen. Anhänger*innen im Westen und in den südlichen Küstenregionen könnten aber mit „Nein“ stimmen. Es scheint, dass es nicht einmal mit der aggressiven Bodenoffensive in Nord-Syrien gelungen ist, die Stimmung in dieser Gruppe umzustimmen. Auch der Versuch der Regierung, alle „Nein“-Wähler*innen als Terrorist*innen und Verräter*innen abzustempeln, ist auf ein großes Echo gestoßen. Dementsprechend scheint es in der AKP-Wähler*innenschaft einige „besorgte“ Pragmatist*innen zu geben, die vielleicht nicht mit „Nein“ stimmen werden, sich aber einer Stimme für das „Ja“ enthalten könnten. Und sie könnten beginnen, ihre Stimme etwas deutlicher hörbar zu machen. Auf der anderen Seite haben die massiven Versammlungen der HDP anlässlich des Newroz-Festes gezeigt, dass die Bindungen der Partei zu ihrer Basis entgegen gegenteiliger Behauptungen nach wie vor stark sind und dass die Umfragewerte für das „Nein“ in den kurdischen Provinzen sehr hoch sind.
Mögliche Ergebnisse des Referendums
Auch wenn es nicht möglich ist, die Ergebnisse des Referendums vorherzusagen, wird doch der Unterschied zwischen den „Ja“- und den „Nein“-Stimmen höchstwahrscheinlich minimal sein. Demnach wird auch ein knapper Sieg des „Ja“-Lagers nicht ausreichen, das zerbrechliche bonapartistische Regime der Türkei zu stabilisieren. Der türkische Staat hat nicht diejenigen günstigen Voraussetzungen, die es braucht, um ein absolutistisches Regime zu errichten. So fehlen ihm zum Beispiel stabile internationale Allianzen, langfristige wirtschaftliche Stabilität, hohe erwartete Wachstumsraten, oder eine Übereinstimmung innerhalb der herrschenden Klasse. In diesem Sinne ist es mit einem knappen Sieg für das „Ja“ noch lange nicht vorbei für die soziale Opposition. Solch eine Niederlage wäre sicherlich ein harter Schlag für die Moral, aber sie müsste nicht notwendigerweise zu einer unumkehrbaren Schlappe werden.
Für den Fall eines Sieges des „Nein“-Lagers könnte Erdoğan diesen Rückschlag dieses Mal nicht so leicht abschütteln, auch wenn viele aufbauend auf den Erfahrungen nach den Wahlen vom 7. Juni eine Eskalation der Gewalt des Staates und eine leichtes Wiedererstarken seiner Macht erwarten. Erdoğan sah sich aufgrund der zunehmenden Fragilität innerhalb des Staates zu dem Referendum genötigt. Sollte er darin scheitern, durch das Referendum die Allianzen im Staatsapparat zu seinen Gunsten neu zu organisieren, wird er deutlich an Handlungsspielraum verlieren. Ein Sieg des „Neins“ könnte die Fragmentierung des rechten Lagers beschleunigen und Erdoğans Glaubwürdigkeit und Einfluss im Kampf zwischen den verschiedenen Cliquen im Staat beschädigen. Solch ein Ergebnis würde daher zu einer ernsthaften Zerbrechlichkeit der oder sogar Zersetzung der aktuellen Machtbalance führen, die momentan alles andere als stabil ist.
Nichtsdestotrotz wird in jedem Falle der Ausgang des Referendums für die soziale Opposition nicht einfach sein, da die Regierung sie wahrscheinlich mit einer harten Repressionswelle überziehen wird. Ein Sieg für das „Nein“ würde die Opposition moralisch stärken und ihre Manövrierfähigkeit erhöhen, aber unsere Aufgaben werden nach dem 16. April deutlich komplizierter sein. Daher ist es notwendig, dass wir uns auf die Periode nach dem Referendum gefasst machen, die hart werden könnte. Das kann zu einer kohärenten politischen Linie führen.
Nach dem 16. April
Die jeweiligen „Nein“-Kampagenen haben bereits zu einem gewissen Wiedererstarken der sozialen Opposition geführt, die die Passivität und Beklemmtheit der Periode des letzten Jahres zu überwunden haben scheint. Nichtsdestotrotz dürfen wir nicht vergessen, dass diese Mobilisierung noch relativ schwach ist angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen, und dass der politische Inhalt immer wieder erfüllt ist von problematischen Diskursen (die oft an Liberalismus oder gar im schlimmsten Fall an Nationalismus grenzen). Auch wenn die „Nein“-Kampagnen der sozialistischen Linken die Chance gegeben haben, wieder auf die Straßen zu gehen und eine politische Aktivität unter den Massen zu entfalten, macht diese sozialistische Linke doch nur einen kleinen Teil der „Nein“-Kampagnen aus. Es gibt einen bedeutsamen Niedergang in der Fähigkeit der sozialistischen Linken, auf der Makroebene in die politische Arena zu intervenieren. Die Frage, die sich demnach stellt, ist, wie die sozialistische Linke diese Schwäche nach dem Referendum wieder ausgleichen kann und wieder eine beachtliche Kraft in der politischen Arena werden kann.
Nach dem 16. April erwartet uns ein sehr scharfes politisches Klima, ganz gleich ob das „Ja“ oder das „Nein“ in der Wahlurne bestehen werden. Die steigende Feindseligkeit gegen die Kurd*innen und die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den syrischen Geflüchteten sollte in diesem Kontext verstanden werden. Eben so wie die „Ja“-Kampagne auf starken nationalistischen Diskursen fußt, setzen die Kampagnen für das „Nein“, die von der CHP (Republikanische Partei des Volkes) oder von Dissident*innen innerhalb der MHP organisiert werden, ein starkes Gewicht auf nationalistische Argumente. Demnach ist im Gesamtergebnis ein Anwachsen nationalistischer Diskurse während des Referendums zu verzeichnen. Dieses zusammengeballte Wachstum der (sogar konkurrierenden) Dialekte des Nationalismus werden uns nach dem Referendum vor eine zentrale Herausforderung stellen.
Solange der Kampf gegen den Autoritarismus nicht vereint wird mit Kämpfen gegen Patriarchat und Kapitalismus, wird die politische Arena sich auf einen Wettstreit zwischen verschiedenen rechten Fraktionen beschränken. Die bestehenden Bestrebungen der Linken, einen „ganzheitlichen“ Standpunkt mit einem klaren Klassencharakter aufzubauen, sind natürlich wichtig und wertvoll. Aber aufgrund seiner strukturellen Schwächen scheitert die sozialistische Bewegung darin, ihren Standpunkt den größeren Massen zu vermitteln, was sie weniger sichtbar macht. Daher sind liberale, nationalistische oder republikanische Argumente ohne jede Klassenperspektive viel deutlicher sichtbar im politischen Kampffeld. Es ist notwendig, Taktiken der Einheitsfront anzuwenden, um unsere politische Position viel wahrnehmbarer zu machen. Wir haben die Möglichkeit, auf kreativen Wegen die bisweilen mundtot gemachten oder unterdrückten verschiedenen Strömungen der sozialen Opposition zusammenzuführen. Indem wir von den inklusiven und pluralistischen Formen profitieren, welche während der Kampagnen gegen das Referendum entstanden, müssen wir nach dem Referendum unseren gemeinsamen Kampf und gemeinsame Aktionen auf verschiedenen Ebenen stärken.
Trotz all seiner Grenzen und Schwächen bietet die Mobilisierung während des Referendums einen wertvollen Startpunkt und zeigt auf, welche Ressourcen noch immer in der sozialen Opposition abrufbar sind. Wir müssen dieser Mobilisierung große Bedeutung zumessen, sie über den 16. April hinaus ausdehnen und die „Nein“-Versammlungen in den Nachbarschaften zu Stützpfeilern einer Einheitsfront von unten machen. In der Periode nach dem Referendum könnten diese Versammlungen gemeinsame politische Aktionen unternehmen, um die Belange der Arbeitenden und der Unterdrückten auf die Agenda zu setzen. Zum Beispiel könnte eine landesweite Kampagne zur Aufhebung des Ausnahmezustands gestartet werden. Eine Einheitsfront wird nicht nur die Fähigkeit der sozialistischen Linken vervielfältigen, in die politische Arena zu intervenieren, sondern auch einen „Megaphon-Effekt“ erzeugen, um zu verhindern, dass soziale Kämpfe unsichtbar gemacht werden oder isoliert werden.
Es ist Zeit, den Slogan „Dies ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter!“ zu erheben, den wir seit der Gezi-Aufständen in unsere Herzen und unseren Geist eingraviert hatten.
Dieser Artikel auf Englisch bei unserer US-amerikanischen Schwesterseite Left Voice.