Corona: Zeit für ein Gesundheitssystem im Interesse der Beschäftigten und Patient*innen

19.03.2020, Lesezeit 10 Min.
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Die rasche Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 stellt weltweit eine extreme Belastung für die öffentliche Gesundheitsversorgung dar. In Höchstgeschwindigkeit hat sich gezeigt, dass Menschen fast überall auf der Welt nur begrenzten bis keinen Zugang zu gesundheitlicher Aufklärung und Versorgung haben. Doch auch ein reiches Land wie Deutschland hat sich zu lange mit einem kaputtgesparten und privatisierten Gesundheitssystem begnügt. Eine Analyse der Situation aus der Sicht von Beschäftigten am Krankenhaus.

Bild: Beschäftigte des Universitätklinikums Saarland.

Wir sind die, die kein Home-Office machen können. Wir sind die, auf die sich die Regierung jetzt verlässt, nachdem sie unsere Forderungen jahrzehntelang ignoriert und von oben herab behandelt hat. Wir sind die, die trotz ohnehin schon belastender Bedingungen jeden Tag wieder zur Arbeit gehen. In einer Situation wie der jetzigen spüren wir erneut, wie essentiell eine allen garantierte und für alle ausreichende Gesundheitsversorgung für eine Gesellschaft ist.

Spahn schafft Personaluntergrenzen wieder ab – so sieht Politik von oben aus

Gesundheitsminister Jens Spahn hat zu Beginn der Ausbreitung des Virus die für die Pflege gültige Personaluntergrenze, die er selbst erst kurz zuvor eingeführt hatte, ausgesetzt. Pfleger*innen wurde so die Möglichkeit genommen, zu einem – immerhin etwas – besseren Personalschlüssel arbeiten zu können. Da die Anstellung von mehr Personal nicht in Aussicht steht, wird die Versorgung der Patient*innen wohl oder übel auf dem Rücken der Pfleger*innen ausgetragen werden. Die Situation wird sich somit für alle derzeit im Gesundheitssystem Beschäftigten zuspitzen.

Währenddessen sagen viele: „Wir alle müssen da jetzt durch“ und: „Ein Ausnahmezustand bringt nun mal Ausnahmen mit sich“. Dabei befinden die Verhältnisse im Gesundheitssystem sich nicht erst seit Corona, sondern bereits seit vielen Jahren im Ausnahmezustand.

Der neue Alltag für die Beschäftigten im Gesundheitssystem

Momentan leiden wir darunter, dass unser sowieso schon auf den Sparmodus herunter geschraubtes Gesundheitssystem auf eine Krise wie die der rasanten Ausbreitung des Corona-Virus nicht vorbereitet ist. Im Gegenteil: Bereits im letzten Jahr wurden in Deutschland 17.000 Intensivbetten zwangsbelegt. Das heißt, dass Stationen, die eigentlich schon mit der Versorgung zu kämpfen hatten, dennoch weitere Patient*innen aufnehmen mussten, da auch überall in ihrem Umkreis die Kapazitäten fehlten.

Absurderweise erleben wir heute, wie in Kliniken sogar Betten gesperrt werden, um mögliche Coronapatient*innen schnellstmöglich zu versorgen. Wir fragen uns dabei: Was passiert mit all den anderen Erkrankten, deren Behandlung schon zuvor nicht sichergestellt war? Eine mögliche und zugleich die wahrscheinlichste Folge ist, dass Ärzt*innen entscheiden werden müssen, wen sie behandeln – und wen nicht. In Italien, das aktuell am Stärksten betroffene europäische Land, sind solche Horrorszenarien bereits Realität geworden. Aus dem Mangel an allem heraus wird jenen, die älter als 80 sind, Gesundheitsversorgung pauschal verwehrt. Die mangelnde Versorgung geht hierzulande schon jetzt über Alte hinaus. Denn ohne Krankenversicherung kann man sich in Deutschland nicht mal eine Minute in einem Bett auf einer Intensivstation leisten. Was bedeutet das für Obdachlose? Und was für Geflüchtete, die unter extrem prekären Bedingungen in Massenunterkünften leben müssen und ohnehin schon einen eingeschränkten Zugang zu Schutzmitteln haben?

Dass Schutzmaterial wie Masken, Kittel und Desinfektionsmittel überall im Bundesgebiet fehlen, führt dazu, dass auch das medizinische Personal einem hohen Risiko ausgesetzt wird. Da eine innerklinische Übertragung nicht mehr verhindert werden kann, gefährdet der Mangel zudem insbesondere Immungeschwächte, wie z.B. Krebspatient*innen. Es geht also nicht nur darum, die Verwundbarsten unter uns vor dem Coronavirus, sondern durch Schutzisolation auch vor der Influenza zu bewahren.

Der Umgang mit infiziertem Krankenhauspersonal ist nicht einheitlich geklärt, weshalb bereits willkürliche Maßnahmen existieren. Eine weitreichende Quarantäne wird im Hinblick auf die Knappheit der Ressourcen höchstwahrscheinlich nicht möglich sein. Bei ungeschütztem Kontakt mit Corona-Patient*innen wurden Pflegekräfte deshalb bisher nicht unter Quarantäne gestellt: Zu Beginn der Pandemie war das z.B. in Aachen der Fall.

Stattdessen gilt im jetzt ausgerufenen Katastrophenfall aufgrund von Personalmangel eine Urlaubssperre und Rufbereitschaften sollen eingeführt werden. Ebenso wurde das Arbeitszeitgesetz für Beschäftigte in der Pflege „gelockert“. Dadurch können Arbeitgeber*innen mit zusätzlichen Befugnissen über die Beschäftigten rechnen. Die ohnehin schon hohe Belastung auf ihren Schultern wird zunehmen.

Was löst das bei uns Beschäftigten aus? Neben einem natürlichen Verantwortungsgefühl, in so einer Krise zur Verfügung stehen zu müssen, gibt es viel Sorge darüber, wie lange dieser Zustand andauert. Was passiert, wenn sich Mitarbeiter*innen in großer Zahl infizieren? Wie wirkt sich die Belastung langfristig auf uns?

Das Organ der Arbeiter*innen, um politische Forderungen – vor allem in solchen außergewöhnlichen Situationen – zu stellen, sind die Gewerkschaften. Bislang erleben wir keine Vertretung von ihnen; bis auf einige Aufklärungen über arbeitsrechtliche Situationen, halten sie sich zurück.

Mit was für einem Gesundheitssystem haben wir es in Deutschland zu tun?

In Deutschland ist das Gesundheitssystem aufgrund der neoliberalen Maßnahmen zu einem eigenen Wirtschaftszweig geworden. In diesem geht es – wie überall in der kapitalistischen Wirtschaft – darum, Profite zu machen. Mit der flächendeckenden Einführung des DRG-Abrechnungssystems (DRG = Diagnosis Related Groups) im Jahre 2004 hat dieses Vorhaben angefangen, sich ganz konkret zu manifestieren. Das System rechnet anhand der Diagnose aus, wie viel der für eine Behandlung anfallenden Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Immer wenn nicht die gesamten Ausgaben des individuellen Falles zurückerstattet werden können, macht das Krankenhaus Verluste. Da die Kommunen es sich nicht mehr leisten konnten, dass Krankenhäuser rote Zahlen schrieben, hatte dieser permanente Druck letztendlich einen enormen Bettenabbau, Einsparungen beim Personal und die Privatisierung von Krankenhäusern zur Folge. Private Krankenhäuser schaffen heute ganze Versorgungsbereiche (wie z.B. die Pädiatrie) ab, sobald sie sich nicht rentieren. So kam es in den letzten Jahren in Deutschland auch zur Schließung von 40 % der Kreißsäle und jetzt, inmitten der Krise, u.a. zu der Entscheidung, den Betrieb in zwei saarländischen Kliniken nicht weiter aufrechtzuerhalten. Die Begründung: Es würde sich wirtschaftlich nicht mehr lohnen. Dieses Beispiel zeigt auf, dass während wir von einem der teuersten Gesundheitssystem weltweit sprechen, die hiesigen Versorgungsstandards unzureichend sind.

Das liegt nicht zuletzt am zunehmenden Personalmangel, der viel zu lange ignoriert worden ist. In einer Krise wie der jetzigen wird er überdeutlich: wegen Überlastung und schlechter Bezahlung sehen Kolleg*innen sich gezwungen, aufzuhören zu arbeiten und reihenweise Auszubildende brechen aus demselben Grund ab. Allgemein wollen immer weniger Menschen diese Arbeit unter diesen (Arbeits-)Bedingungen leisten. Dabei sind allerdings nicht nur die in der Pflege arbeitenden Beschäftigten von diesen Problemen betroffen: Ärzt*innen müssen in Krankenhäusern regelmäßig 24-Stunden-Schichten leisten und haben je nach Bereich ebenfalls zu wenig Nachwuchs.

In vielen Häusern wurden die dort Arbeitenden insbesondere in den letzten Jahren zusätzlich künstlich voneinander getrennt. Ganze Belegschaften sind gespalten worden als Bereiche wie die Küchen, die Reinigung, die Wäsche und haustechnische Dienste ausgelagert bzw. outgesourct wurden. Das heißt, dass die Krankenhäuser Verträge mit anderen Unternehmen machen, die ihnen im Gegenzug kostengünstig Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Das ist nur möglich, weil diese meist völlig lückenhaft ausgebildet worden sind und nun viel schlechter bezahlt werden. Eine der verheerenden Konsequenzen ist, dass es nun viel schwieriger ist, gemeinsam gegen die Verschlechterungen zu kämpfen. Denn für uns alle gelten unterschiedliche Tarifverträge – wenn überhaupt: Für viele der outsourcten Kolleg*innen gilt gar keiner.

Outsourcing kennt zudem auch keine Grenzen: teilweise wird die Wäsche vieler Krankenhäuser bis ins Ausland gefahren, um dort billiger gewaschen zu werden. Während die Hygienestandards momentan noch höher sind als sonst, wird das vielleicht bald nicht mehr möglich sein. Es ist jedoch noch nicht abzusehen, wie die Reiniger*innen, die in solchen Zeiten eine noch größere Verantwortung als sonst tragen, den zusätzlichen Arbeitsaufwand bewältigen sollen – weder hier noch anderswo. Sie arbeiten ohnehin schon unter extremem Zeitdruck zu extrem geringen Löhnen und momentan müssen sie auch noch bei definitiv nicht ausreichendem Schutz infizierte Räume sauber machen.

Wo lässt das System uns als Beschäftigte also zurück?

Diejenigen, die seit Jahren neue Sparmaßnahmen einführen, die uns Lohnerhöhungen, Einhaltung grundlegender Arbeitsrechte und die qualitative Aufwertung der Ausbildungen verweigern, richten jetzt warme Worte der Dankbarkeit an uns. Dass die Verhinderung der weiteren Verbreitung und die Behandlung von Corona in diesem Land gerade nicht gewährleistet werden kann, überrascht uns auf keinen Fall. Denn die Misere hat ein System. Die Prioritäten sind dabei klar: Während von uns nicht nur erwartet wird, uns jeden Tag aufs Neue in Ansteckungsgefahr zu begeben und zudem auch noch Überstunden zu machen, werden Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, um die Konzerne zu retten.

Zeigt die Situation nicht mehr denn je auf, dass es nicht die Marktwirtschaft, sondern dieses Gesundheitssystem ist, das gerettet werden muss? Diejenigen, die tagtäglich durch die Arbeit sehen und erleben, wo die Probleme liegen, müssen darüber entscheiden können, unter welchen Bedingungen die Arbeit koordiniert wird. Es ist deshalb jetzt allerhöchste Zeit für ein neues Gesundheitssystem zu kämpfen: Es braucht eine Verstaatlichung des gesamten Gesundheitssystems, das von Beschäftigten und Spezialist*innen demokratisch kontrolliert wird – denn wir sind die Expert*innen. Wir denken, dass wir dafür die Gewerkschaften unter Druck setzen müssen, unsere Bedürfnisse und Forderungen ernst zu nehmen.

Forderungen, die in der aktuellen Lage notwendig sind, um die Situation für alle zu verbessern:

  • Eine garantierte Sicherheit des medizinischen Personals in Form von Schutzmaterialien
  • Die Durchführung aller Maßnahmen unter der Kontrolle von Ausschüssen von Gesundheitspersonal und Patient*innen.
  • Ausreichende Ausweitung der Produktion von Tests, die für alle frei zugänglich sind
  • Finanzielle Zuschüsse für alle Beschäftigten im Gesundheitssystem
  • Für unsere Kolleg*innen mit Kindern Unterstützung bei der Kinderbetreuung
  • Wiedereingliederung der outgesourcten Bereiche
  • Umstellung der Produktion für notwendige Gerätschaften wie Beatmungsgeräte oder medizinische Hilfsmittel (Kittel, Handschuhe, Masken und Desinfektionsmittel)
  • Verstaatlichung des Gesundheitssystems; keine Profite mit Gesundheit!

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