Chronische Krankheit, Arbeitsleid
Immer öfter erkranken Beschäftigte heute aufgrund von Arbeitszeitverdichtung, zunehmendem Druck und prekären Arbeitsverhältnissen. Der Kapitalismus fördert diese Verhältnisse, um noch mehr aus uns Arbeiter*innen rausquetschen zu können. Ein*e Arbeiter*in hat uns diesen Bericht zukommen lassen, wir veröffentlichen ihn anonym.
Ich bin chronisch krank. Ein von außen absurd hoch scheinenden Teil meiner Energie und auch meiner Freizeit geht dafür drauf, meine Symptome zu managen, mein System zu analysieren, Verschlechterungen zu erkennen und gegenzusteuern. Auch wenn es schon länger nicht mehr passiert ist, lebe ich in ständiger Angst davor, zusammen zu brechen, über Monate hinweg auszufallen, oder es vielleicht auch gar nicht mehr zu schaffen.
Trotzdem habe ich in ein halbwegs normales Leben gefunden. Ich habe ein stabiles soziales Netz, kompetente Ärzt*innen, eine gute medikamentöse Versorgung. Ich habe sogar einen festen Job. Der mir Freude macht. Ich empfinde ihn als sinnstiftend. Besonders meine aktuellen Aufgaben sind herausfordernd, spannend und werden die Menschen, für die meine Arbeit gedacht ist, mal wirklich weiter bringen. Ich bin wohl auch recht gut in dem, was ich tue.
Mein Hauptproblem ist, dass ich die acht Stunden einfach nicht durchhalte. Acht Stunden eines Jobs, für den etliche Studien zeigen, dass man ihn an guten Tagen etwa sechs Stunden machen kann.
Marx spricht von einer “Verdichtung” der Arbeitszeit. Vor 100 Jahren ging es vor allem darum, heraus zu finden, wie sehr man die Einzelschritte am Fließband herunter dummen kann, bevor die Arbeiter*innen den Verstand verlieren und arbeitsunfähig werden. Heute wird auch versucht, wie fordernd man Arbeit machen kann, wie viele Aufgaben und wie viel Denkarbeit man in acht Stunden reinstopfen kann, bevor die Arbeiter*innen einem reihenweise wegbrechen. Dem entgegengesetzt wird die “individuelle Selbstverantwortung”. Ein ziemlich zahnloser Drache, wenn ihr mich fragt.
Für uns bedeutet es, dass unser Arbeitstag, zumindest wenn man die Pausen, die wir brauchen, um unsere Gehirne, und auch den Rest unserer Körper, wieder zum Arbeiten zu bekommen, gerne mal zehn oder mehr Stunden hat.
Es liegt also wohl nicht mal wirklich an mir. Aber ich merke diesen Widerspruch verstörend deutlich am eigenen Körper.
Vor kurzem hatte ich Urlaub. Coronabedingt zu Hause, aber ich hatte eine gute Zeit. Während meines Urlaubs ging es mir richtig gut. Klar, ich war nicht gesund, aber stabil, aktiv und mein Leben hat mir sogar Spaß gemacht. Ich hatte Zeit, durchzuatmen, liegengebliebenes zu erledigen, auszuschlafen, und auch einfach mal gar nichts zu tun.
Ich arbeite erst seit ein paar Tagen wieder. In weniger als 48 Stunden ist mein Zustand eingebrochen. Meine Symptome traten schnell und heftig wieder auf. Ein voller Arbeitstag hat gereicht, um die Ruhe und Gelassenheit von zwei Wochen komplett aufzubrauchen. Nicht mal zwei volle Arbeitstage haben mich wieder an den Abgrund gebracht, dazu geführt, dass ich nicht weiß, wie es weiter gehen soll.
Wie soll ich meine Arbeit und die Zeit, die ich brauche, um mich um mich zu kümmern in diese viel zu kurzen Tage stopfen? Wie bekomme ich meinen politischen Aktivismus noch unter? Wie lange halte ich durch, ohne mal in Ruhe einen Roman zu lesen, aus dem Fenster zu schauen oder mal ein paar Stunden länger zu schlafen, als das medizinisch notwendig Minimum? Um mich auf die alte Streikparole zu beziehen: Brot habe ich, aber für die Rosen gehe ich zu sehr auf dem Zahnfleisch. Man könnte mir einen Strauß vorbei bringen und ich würde über ihm einschlafen und am nächsten Tag traurig sein, dass sie ohne Wasser verwelkt sind.
Es macht mich fertig zu sehen, wie selbst ein Job, der eigentlich toll ist, und den ich sogar freiwillig machen würde zu einer unerträglichen Tortur wird. Ich mich jeden Morgen frage, wie ich bis zum Abend kommen soll. Und jeden Abend der Schatten des nächsten Arbeitstages und die Müdigkeit des vergangenen Arbeitstages mich aufbrauchen. Ich werde für acht Stunden bezahlt, aber der Kapitalismus hat 24 Stunden gekauft, mein ganzes Leben.
Ich will eine Welt, in der wir nur so viel arbeiten müssen, wie wir stemmen können, ohne auseinander zu fallen. In der nicht ein Teil der Menschheit unter Arbeitslosigkeit leidet – vor allem den damit verbundenen gesellschaftlichen Konsequenzen – und der Rest sich buchstäblich kaputt arbeitet.
In der alles oder zumindest ein Großteil dessen, was ich tue der Gesellschaft zugute kommt und ich mich nicht für mehr Nullen auf den Konten von Menschen, die das Geld schon gar nicht mehr ausgeben können, aufarbeite.
Ich will Zeit und Ruhe, um so gesund wie möglich leben zu können. Mich um meine Symptome kümmern zu können. Ein Netz, das mich auffängt, wenn ich es doch mal nicht schaffe. Ich will keine weitere seelenlose Nummer in den Statistiken der Toten des Kapitalismus sein.
Ich wurde immer wieder gefragt, ob es nicht sinnvoll wäre “die Politik” runterzufahren. Mich mehr, um mich zu kümmern. Nein, ist es nicht. Solange dieses System besteht, so lange geht es für mich nur um Überleben. Und das will ich nicht, für mich nicht, und für die Milliarden anderer Arbeiter*innen auch nicht.
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