China: Historische Proteste gegen autoritäre Null-Covid-Politik

29.11.2022, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: La Izquierda Diario

Die große Wut der Massen in China über die Null-Covid-Ausgangssperren eröffnet eine neue politische Situation – nur einen Monat, nachdem Xi Jinping auf dem Kongress der KP Chinas seine dritte Amtszeit durchgesetzt hat.

In vielen Teilen des Landes gingen in den vergangenen Tagen Menschen auf die Straße, um kraftvoll gegen die Ausgangssperren im Rahmen der chinesischen Null-Covid-Politik zu protestieren. Die Proteste haben das von Xi Jinping angestrebte Szenario der Stabilität völlig verändert. Dieser war beim Parteikongress der KP Chinas im Oktober mit einem dritten Mandat ausgestattet worden, wodurch er zum mächtigsten Anführer Chinas seit Deng Xiaoping wurde. Xi Jinping hatte sogar Li Qiang, den Shanghaier Parteichef und Vollstrecker einer der härtesten Ausgangssperren Chinas, zum neuen Premierminister ernannt.

Xi Jinping äußerte sich nicht zu den Protesten, ebenso wenig wie die Regierungszeitung Xinhua. Xi war gerade vom G20-Gipfel in Bali, Indonesien, zurückgekehrt, wo er Joe Biden zum ersten Mal persönlich traf.

Die Bewegung gegen die Null-Covid-Politik, eine zentrale Säule der von Xi Jinping auf dem Parteikongress am 20. Oktober vertretenen Politik, ist bezüglich ihrer landesweiten Ausdehnung und ihrer direkten Infragestellung der Autorität der KP Chinas so groß wie seit den Protesten auf dem Tiananmen-Platz („Platz des Himmlischen Friedens“) 1989 nicht mehr.

Drei Aspekte der aktuellen Protestwelle sind im Vergleich zu den Ausdrücken der Unzufriedenheit der letzten Jahrzehnte kategorisch neu: die die Rolle der Arbeiter:innen, die landesweite Ausdehnung und das politische Ziel der Proteste.

Der Streik der Foxconn-Beschäftigten in Zhengzhou, der Hauptstadt der Provinz Henan, in der weltgrößten iPhone-Fabrik (in der zeitweise 200.000 Arbeiter:innen beschäftigt sind) war der unbestreitbare Auslöser für den Zorn der Massen, der sich in ganz China ausbreitete. Anfang dieses Monats rissen Hunderte von Wanderarbeiter:innen, die in der Produktionsstätte in Guangzhou eingesperrt waren, Barrikaden nieder und plünderten Lebensmittelvorräte. Der proletarische Charakter der Ablehnung der Regierungspolitik war für die Behörden offensichtlich, die ihr Bestes taten, damit die Produktion nicht gestoppt wurde. Foxconn musste angesichts der Proteste nachgeben und fehlenden Lohn ausbezahlen.

Die Beschäftigten waren gezwungen, ihre Schlafräume mit Kolleg:innen zu teilen, die positiv auf Covid-19 getestet worden waren. In der Hochsaison erhöhen die Bosse das Produktionstempo, um ihre Profitmarge für die Feierlichkeiten zum Jahresende zu steigern. Die Arbeiter:innen sind gezwungen, sich an das geschlossene Produktionssystem zu halten – eine Variante des alten „Fabrik-Schlafsaal-Regimes“, eines der perversesten Ausdrücke der Fabrikarbeit aus der Zeit des jahrzehntelangen Wirtschaftswachstums in China. Die Forscherin Jenny Chan erklärt: „Seit Mitte Oktober arbeitet die Foxconn-Fabrik in einem ‚geschlossenen Kreislauf‘, d. h. in einer abgeschlossenen Blase, in der sich die Arbeiter:innen nur zwischen ihren Schlafräumen und den Werkstätten bewegen. Um die iPhone-Produktion aufrechtzuerhalten und die Verbreitung des Covid-Virus zu minimieren, wird ein geschlossenes Peer-to-Peer-System eingesetzt. Die Arbeiter:innen sind dort in der Tat isoliert […] Wenn die Arbeiter:innen es nicht mehr aushalten, kommt es zu Protesten und Streiks.“

Diese erste Demonstration der Arbeiter:innen gegen die autoritären Einschränkungen der Null-Covid-Politik rückt dieses gefährliche Thema wieder in den Mittelpunkt, welches die KP Chinas mittels Zwang und Repression in den letzten Jahrzehnten der kapitalistischen Restauration aufrechterhalten hat.

Ein weiteres Element ist die Ausdehnung der Proteste. Die aktuellen Demonstrationen gegen die autoritären Null-Covid-Beschränkungen sind zwar weniger massiv als die Proteste von 1989, erstrecken sich aber auf mehrere Städte und Regionen wie Peking, Xian, Nanjing, Chongqing, Chengdu und Wuhan. In den letzten Wochen war es bereits zu Protesten in Guangdong, Zhengzhou, Lhasa und anderen Städten gekommen, bei denen die Demonstrant:innen ein Ende der anhaltenden Ausgangssperren und der Covid-Tests forderten, wie die South China Morning Post berichtete. Die Gleichzeitigkeit der Proteste widerspricht der Tradition der letzten Jahrzehnte, als die Proteste streng lokal beschränkt und unkoordiniert waren.

Politisch neu ist, dass der Protest die Zentralregierung betrifft, d. h. Xi Jinping und seine „Vorzeigepolitik“, die er auf dem 20. Parteitag präsentierte. Die Zentralregierung in Peking wird traditionell von den Provinzverwaltungen geschützt, die beschuldigt werden, die Richtlinien der Regierung zu „verzerren“. Jetzt wird Xi Jinping direkt selbst als Verantwortlicher angeprangert. In Shanghai forderten die Demonstrant:innen Xi Jinping und die KPCh in Sprechchören sogar zum Rücktritt auf.

Ein weiterer einzigartiger Aspekt der neuen Welle von Demonstrationen ist die deutliche Konfrontation mit der Polizei. Die Konfrontation mit der Polizei in der Foxconn-Fabrik sorgte für Aufsehen in den Nachrichten, als Arbeiter:innen Fahrzeuge umwarfen und Gitterstäbe und Eisenstangen auf die Polizei warfen. Diese Methode wurde von einer durch die repressiven Quarantänen in mehreren Städten erschöpften Bevölkerung, insbesondere von der Jugend, ebenfalls aufgenommen. Der allmähliche Verlust der Legitimität des repressiven Staatsapparats ist ein wichtiger Bestandteil der entstehenden Subjektivität.

Nicht minder wichtig ist die Anziehungskraft, die die Proteste auf Teile der Mittelschicht ausüben, also auf die soziale Basis, auf die Xi Jinping angewiesen ist. Studierende, die gewaltsam unterdrückt werden, wenn sie sich an Protesten von Arbeiter:innen beteiligen (wie beim Streik von Jasic Technology im Jahr 2018), sind durch Mobilisierungen auf dem Universitätscampus wieder zu Protagonist:innen geworden.

Dies ist ein historischer Moment. Offener Widerstand dieser Art ist in China selten, was unvorhersehbare Perspektiven für die kommenden Wochen eröffnet. Das geht so weit, dass Symbole des Kommunismus wie die Hymne der Internationale gegen die monströse Maschinerie der chinesischen kapitalistischen Bürokratie eingesetzt werden, und zwar an der Universität Peking, aber auch in Shanghai, Chengdu und anderen Städten.

Die weit verbreiteten Proteste wurden vor allem durch einen Wohnungsbrand in Urumqi, der Hauptstadt der Region Xinjiang, ausgelöst, bei dem zehn Menschen getötet und neun weitere verletzt wurden. Xinjiang ist die Heimat der muslimischen Minderheit der Uiguren, die von der chinesischen Regierung verfolgt wird und unter systematischer staatlicher Gewalt leidet – auch wenn der westliche Imperialismus diesen Aspekt in zynischer Weise ausnutzt. Wie der chinesische Journalist Dake Kang sagt, weiß die uigurische Bevölkerung, dass sie für ihre Proteste brutal verfolgt werden wird, aber sie tun es trotzdem.

Die Tragödie löste in den Online-Netzwerken in China große Wut aus, da viele glaubten, dass Covid-Einschränkungen die Opfer an der Flucht hinderten. Am nächsten Tag gingen Hunderte von wütenden Einwohner:innen auf die Straßen von Urumqi und forderten ein Ende der Ausgangssperren, die vier Millionen Einwohner:innen 100 Tage lang daran gehindert hatte, ihre Häuser zu verlassen.

Die Behörden in Xinjiang kündigten am Samstag an, dass die Beschränkungen gegen das Coronavirus „schrittweise“ aufgehoben würden. Doch diese Zusicherungen konnten nicht verhindern, dass sich die Proteste in den wohlhabendsten Städten des Landes und unter jungen Studierenden ausbreiteten, was die wachsende Ungeduld der Bevölkerung unterstreicht.

Die Proteste waren landesweit. Berichten und Videos zufolge, die auf Twitter und anderen sozialen Medien gepostet wurden, versammelten sich am Sonntagnachmittag einige hundert Student:innen an der Tsinghua-Universität, Xi Jinpings Alma Mater, und skandierten „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Redefreiheit“.

Student:innen der Universität Peking skandierten die Internationale und riefen Slogans wie „Wir wollen Freiheit, keine Blockaden“ und „Die schrittweise Lockerung der Beschränkungen ist eine Lüge“. Ein weiteres virales Video zeigte Hunderte von Studierenden der China Communication University in Nanjing, die bei einer Mahnwache für die Opfer des Brandes in Xinjiang am Samstagabend weiße Papierbögen hochhielten und „Lang lebe das Volk, mögen die Toten in Frieden ruhen“ skandierten.

In der Wulumuqi-Straße in Schanghai stellten Student:innen die Wissenschaftlichkeit der Null-Covid-Ausgangssperren in Frage. „Wir wollen, dass jeder unsere Stimme hört […] Das ganze System, das ganze Regime, es ist nicht richtig“, sagte ein junger Demonstrant.

Die Wut gegen Null-Covid und die Politik der autoritären Abriegelungen könnte eine neue politische Situation hervorbringen, in der potenziell Koordinationsinstanzen verschiedener Teile der Klasse entstehen könnten. Einer der Schwachpunkte der chinesischen Proteste ist ihre ständige Isolierung. China wird jedes Jahr von Hunderten von Streiks geplagt, von Arbeiter:innen, die gegen nicht gezahlte Löhne protestieren, bis hin zu Beschäftigten in der Plattformwirtschaft, die für ihre Rechte kämpfen. Was verhindert, dass diese Proteste das Bewusstsein der Massen erreichen, ist, dass sie fast immer lokal bleiben, vor allem wegen des von der KPCh seit 1982 verhängten Streikverbots. Jetzt hat die Wut der Arbeiter:innen die überbordende Frustration von Studierenden und Teilen der verarmten chinesischen Mittelschicht befeuert. Die Verflechtung dieser Sektoren ist für die Regierung höchst brisant.

Xi Jinping hat keine einfache Antwort auf die weit verbreitete Wut. Die staatliche Zensur hat Fotos und Videos von den Protesten schnell entfernt, aber in den sozialen Medien werden weiterhin Bilder von den Protesten und Zusammenstößen mit der Polizei veröffentlicht. Wenn Xi das harte Vorgehen gegen die Demonstrant:innen noch verschärft, könnte dies die Proteste weiter anheizen. Wenn er die Beschränkungen abrupt aufhebt und den Forderungen nachgibt, riskiert er, das Bild der unangreifbaren Autorität zu beschädigen, das er aufgebaut hatte. Das könnte gegenüber seiner starken Verteidigung des Null-Covid-Kurses auf dem 20. Parteitag wie ein Ausdruck von Schwäche gesehen werden. Und die Zunahme lebensbedrohlicher Infektionen bei den schwächsten Sektoren könnte ebenfalls zu einer weiteren Quelle der Unzufriedenheit werden.

„Intellektuelle“ Verbündete – wenn man sie so nennen kann – der chinesischen Regierung, wie beispielsweise Elias Jabbour in Brasilien, nutzen den Zynismus der US-imperialistischen Politik, um die Proteste als „offene Konterrevolution“ zu bezeichnen. Dies ist eine bedauerliche, im wahrsten Sinne des Wortes reaktionäre Einschätzung angesichts der Ängste der Arbeiter:innen und Jugendlichen, die den Totalitarismus der staatlichen Maßnahmen nicht länger hinnehmen wollen. Der „Sozialismus“ von Jabbour wird mit der Unterdrückung der vom Kapital ausgebeuteten Arbeiter:innen und der solidarischen Studierenden gemacht. Es ist nicht überraschend, dass er die diktatorischen Methoden der KPCh zur Aufrechterhaltung der Ordnung verteidigte.

Im Gegensatz zu dieser Einschätzung, die aus den Büros in Peking kommt, ist es für die revolutionäre und sozialistische Linke eine große Ermutigung, den Atem des Klassenkampfes, ausgestattet mit politischen Aspekten, innerhalb des Weltproletariats zu sehen. Die Ablehnung jeglicher Instrumentalisierung durch den US-Imperialismus kann nicht die enorme Bedeutung der Eröffnung einer neuen Situation in China überschatten: der Zusammenbruch der Stabilität, die in den meisten der letzten zehn Jahre der Xi-Ära geschaffen worden war.

Das Bündnis zwischen Arbeiter:innen und Jugendlichen ist eine mächtige Kombination, um ein Programm in die Tat umzusetzen, das die Grundlagen des autoritären Regimes in China sowie das von der KPCh verteidigte kapitalistische System angreift.

Der Artikel erschien am 28. November 2022 auf Spanisch bei La Izquierda Diario.

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