Chile: Was steht bei dem Plebiszit für eine neue Verfassung auf dem Spiel?

24.10.2020, Lesezeit 9 Min.
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An diesem Sonntag, dem 25. Oktober, findet ein in Chile ein landesweites Plebiszit statt, bei dem mehr als 14 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen sind. In Chile basiert das Wahlsystem auf der obligatorischen Eintragung in die Wähler:innenverzeichnisse für Staatsbürger:innen über 18 Jahre, aber die Wahl ist freiwillig.

Das Plebiszit für eine neue Verfassung: Was wird beschlossen?

Beim Plebiszit wird entschieden, ob das Land eine neue Verfassung ausarbeiten soll oder nicht (die aktuelle Verfassung wurde 1980 von der Militärdiktatur geschrieben und mit einigen Reformen der verschiedenen Regierungen in der Demokratie beibehalten), und welche Organismen oder Institutionen sie ausarbeiten würden: ein „Verfassungskonvent“ (der zu 100% im April gewählt werden würde) oder ein „gemischter Konvent“ (zu 50% im April gewählt und zu 50% vom aktuellen Parlament bestimmt).Beide Varianten wären nicht wirklich souverän, sondern hätten nur die Entscheidungsgewalt, eine neue Verfassung zu verfassen, die alle alten derzeitigen Institutionen (Regierung, Parlament usw.) respektiert. Darüber gäbe es Hürden wie ein 2/3-Quorum, die Notwendigkeit der Einhaltung internationaler Verträge und die Straflosigkeit von Repressivkräften. Währenddessen wird es bei der Abstimmung keine Option für eine Freie und Souveräne Verfassungsgebende Versammlung geben.

Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass bei der letzten Wahl die Stimmenthaltung mit rund 60% historisch hoch war. Und insbesondere in der Jugend und in den Gemeinden oder Stadtvierteln am Rande der Stadt (arme Sektoren und Sektoren der unteren Mittelschicht), wo die Zahlen zu Enthaltungen sogar 70% erreichten. Mehrere Analyst:innen sind der Meinung, dass es bei dieser Abstimmung zu einem sprunghaften Anstieg der Wahlbeteiligung kommen wird.

Im ersten Wahlgang wird es zwei Optionen geben: „Ich stimme der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu“ oder „Ich lehne es ab“. Auf dieser Ebene spielt sich der Streit mit der Rechten ab – auf einer ähnlichen Ebene wie bei den Wahlen in Bolivien am Sonntag, dem 18. Oktober. Deshalb ist eine der Schlüsselfragen, ob „Ich stimme zu“ gewinnen wird oder nicht.

Beim zweiten Wahlzettel und für den Fall, dass die Zustimmung gewinnt, wird entschieden, welches Gremium den Verfassungstext ausarbeitet:

1) Ein Verfassungskonvent, der in seiner Zusammensetzung zu 100% in einer allgemeinen Wahl bei den Wahlen von April 2021 gewählt wird, in der 155 Mitglieder gewählt würden; mit Geschlechterparität.

2) Ein gemischter Verfassungskonvent, der sich im Falle eines Sieges dieser Option zu 50% aus Mitgliedern zusammensetzt, die in allgemeiner Wahl gewählt werden, und zu 50% aus Mitgliedern, die vom derzeitigen Kongress gewählt werden. In diesem Fall gäbe es 172 Mitglieder: 86 vom derzeitigen Parlament ernannt und 86, die am 11. April 2021 in allgemeiner Wahl gewählt würden, ohne Geschlechterparität im Falle der vom Parlament ernannten Mitglieder.

Wie kam das Plebiszit zustande?

Dieses Plebiszit ging aus dem so genannten „Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung“ hervor, das vom Parlament und im Einvernehmen mit der Regierung von Sebastian Piñera ausgearbeitet worden war.

Es wurde am 15. November 2019 in den frühen Morgenstunden abgeschlossen, mitten in einer tiefen politischen Krise. Nur zwei Tage zuvor hatte ein Generalstreik, der wichtigste Streik in Jahrzehnten, stattgefunden, der die Regierung Piñera und das gesamte politische Regime herausforderte. Es handelte sich um eine „historische unabhängige Aktion“ der Massen, die revolutionäre Züge hatte und die die Möglichkeit des Sturzes der Regierung durch Massenaktionen auf die Tagesordnung setzte.

Dies war der Höhepunkt der Rebellion der armen Massen, die am 18. Oktober letzten Jahres begann, als Millionen Menschen der Regierung, ihren Repressionskräften und den Streitkräften die Stirn boten, die zum ersten Mal seit der Diktatur die Straßen unter Ausnahmezuständen und Ausgangssperren kontrollierten. Fast 30 Tote, mehr als 450 Menschen, die ihr Augenlicht verloren (einer der emblematischsten Fälle war der 24-jährige Gustavo Gatica, der beide Augen durch Polizeibleikugeln verlor, als er über Zusammenstöße berichtete); mehr als 2.500 politische Gefangene, Hunderte von ihnen noch in Untersuchungshaft ohne Verurteilung; Folter, Schläge und politisch-sexueller Missbrauch. Alle von der Polizei und den Streitkräften begangen.

Das „Friedensabkommen“ garantierte Straffreiheit für diejenigen, die politisch und materiell für die Repression verantwortlich waren. Aber im Grunde hat es die Regierung Piñera vor einem möglichen Sturz bewahrt, hätten sich die Massenaktionen und der Generalstreik verstärkt; aber nicht nur die Regierung, sondern das gesamte Regime konnten überleben, dessen Parlament eine Vereinbarung zur „Kanalisierung“ der Krise und zur Eindämmung oder Ablenkung des Kampfes auf den Straßen anstrebte.

Dieses Abkommen, das von allen politischen Parteien unterzeichnet wurde, von der UDI (Unabhängige Demokratische Union, ein enger Verbündeter des Diktators Augusto Pinochet) über die Concertación bis zur Frente Amplio (FA), wurde später in eine „Verfassungsreform“ umgewandelt, bei der das alte Regime den Beginn des Verfassungsprozesses genehmigte, dessen erster Meilenstein die Volksabstimmung am Sonntag sein wird.

Der neuen Verfassung und ihren Normen müssen zwei Drittel zustimmen, was nichts anders ist als ein Vetorecht zugunsten der Rechten darstellt; internationale Verträge dürfen nicht angetastet werden, die in ihrer großen Mehrheit die Ausplünderung des Landes durch die großen multinationalen Konzerne vom Bergbau bis hin zur Rente (AFP) zulassen; Jugendliche der Sekundarstufe, d.h. diejenigen, die den enormen Volksaufstand initiiert haben, den das Land durchlebt hat, können weder wählen noch gewählt werden; Gewerkschaftsführer:innen oder Anführer:innen sozialer Kämpfe dürfen nicht kandidieren, ohne diese Rolle aufzugeben; die Konvente werden nach den Regeln des derzeitigen parlamentarischen Wahlsystems gewählt, was den großen Parteien der Bosse zugute kommt.

Und das Wichtigste dabei ist, dass sie von den bestehenden Organismen überwacht wird: Sie ist weder frei noch souverän, da sie nur einen neuen Verfassungstext entwerfen können, sie kann über nichts anderes entscheiden, und sie wird im Rahmen der Regierung Piñera und der derzeitigen Institutionen in einem Szenario zahlreicher Wahlen im Jahr 2021 handeln.

Die Mobilisierungen wieder aufnehmen

Die Straßen kämpften für ein anderes Programm: eine Verfassungsgebende Versammlung und die Beseitigung von Piñera, um das gesamte Erbe der Diktatur zu beseitigen. Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre! Die Revolte hat die 30 Jahre des demokratischen Übergangs seit der Diktatur, in dem das gesamte Erbe der Diktatur bewahrt und gefestigt wurde, entlarvt. Unsere Forderungen sind nicht erfüllt worden, und es wird eine „konstitutionelle“ Periode eingeläutet, in der die Straßen viel zu sagen haben werden.

Die herrschende Klasse Chiles und ihre Freund:innen im Parlament unternehmen den Versuch, die Volksrebellion abzulenken, jedoch tun sie dies in einem Szenario, das von enormen Widersprüchen geprägt ist, von der Wirtschaftskrise und dem Verlust von rund 2 Millionen Arbeitsplätzen im Rahmen der Gesundheitskrise bis hin zu der tiefen Krise, in der die alten Institutionen des Regimes stecken.

Davon zeugt die Tatsache, dass am ersten Jahrestag der Rebellion am 18. Oktober mehr als 100.000 auf der Plaza Dignidad in Santiago und Tausende in anderen Regionen auf die Straße gingen.

Es gibt Kraft, um wieder auf Kurs zu kommen. Die FA und die KP (Kommunistische Partei), die die großen Massenorganisationen anführen und über Wahlgewicht verfügen, setzen jedoch ihre ganze Kraft auf den „institutionellen Weg“ und rufen sogar dazu auf, nicht direkt zu mobilisieren, wie sie es zum Jahrestag getan haben. Sie versuchen, die Illusionen in den Verfassungsprozess zu schüren, rufen dazu auf, die „verfassungsmäßigen Organe“ zu respektieren, darauf zu vertrauen, dass wir dort unsere Forderungen durchsetzen und das System und das Regime der „30 Jahre“ besiegen können, sowie neue Bündnisse mit der alten Concertación zu schließen, um angeblich „die Rechten zu besiegen“.

Die Partei Revolutionärer Arbeiter:innen (PTR), treibende Kraft von La Izquierda Diario Chile und Schwesterorganisation von RIO in Chile, ist die einzige politische Organisation links von der KP und der FA, die in den Städten Antofagasta, Temuco, Valdivia und Puerto Montt zu den Wahlen antreten wird und am Freitag auch in in der Metropolregion Santiago, Valparaíso und Arica die Unterschriften für den Wahlantritt beim Wahlamt eingereicht hat. Die PTR hat sich aktiv für das „Comando por la Asamblea Constituyente Libre y Soberana“ (Kommando für die Freie und Souveräne Verfassungsgebende Versammlung) eingesetzt, das gemeinsam mit Hunderten von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen auf nationaler Ebene Kampagne macht, um diejenigen zu begleiten, die mit dem „Ja“ zu einer neuen Verfassung beim Plebiszit der Verfassung Pinochets ein Ende bereiten wollen, um aber zugleich die Fallen der Konvente anzuprangern. Das Kommando ruft dazu auf, beim zweiten Wahlgang ungültig zu wählen und stattdessen den Wahlzettel mit „freier und souveräner Verfassungsgebender Versammlung – Piñera raus!“ zu kennzeichnen.

Um die Forderungen der Werktätigen nach Gesundheit, Brot, Arbeit, Rente, Lohn zu erfüllen, um weitere Angriffe und Prekarisierung zu verhindern, um polizeilicher Repression und Brutalität entgegenzutreten, muss der Weg der Mobilisierung und des „Programms der Rebellion“ wieder beschritten werden, für eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung und Fuera Piñera (Raus mit Piñera).

Die Kraft der Zustimmung zu einem Verfassungsprozess muss in den Weg des Klassenkampfes geleitet werden, damit die Werktätigen nicht für die Krise bezahlen. Deshalb wird es immer dringlicher, die Elemente der Selbstorganisation von Komitees und Versammlungen wieder aufzugreifen, was insbesondere an den Arbeitsplätzen weiterentwickelt werden soll.

In diesem dynamischen Szenario ist es notwendig, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die konsequent für die Forderungen der Rebellion kämpft, damit die Krise von den Großunternehmer:innen bezahlt wird, in der Perspektive einer Arbeiter:innenregierung. Eine kampffähige Partei von Tausenden von Kämpfer:innen in Krankenhäusern und Gesundheitszentren, in Schulen, in Bergwerken, Häfen, Industrien, Dienstleistungen, an Studienorten und in der Bevölkerung, auf den Straßen, die eine antikapitalistische und sozialistische Alternative der Arbeiter:innen aufbaut.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch bei La Izquierda Diario Chile.

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