Chile: Warum das Referendum zur Verfassungsänderung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt wurde
In Chile fällt der Vorschlag der neuen Verfassung bei den Wahlen durch. Der Triumph der Ablehnung zeigt auf, wie der "Friedensvertrag" und das Konvent, welches den verfassungsmäßigen Gewalten untergeordnet ist, als auch die Regierung Boric die Rechte stärken.
Das Ergebnis hat alle überrascht. Selbst die Umfragen, die die Ablehnung prophezeiten, ergaben kein so durchschlagendes Ergebnis. Nach Auszählung von mehr als 98 Prozent der Wahllokale erreichte die Ablehnung 61,9 Prozent der Stimmen gegenüber den 38,1 Prozent Zustimmung. In den meisten chilenischen Wahlkreisen siegte die Ablehnung. Große Teile der Metropolregion, die Kast in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen eine Abfuhr erteilt hatten, stimmten heute für eine Ablehnung.
Das Ergebnis brachte aber auch eine breite Ablehnung der wirtschaftlichen und sozialen Situation zum Ausdruck, welche durch die Regierung von Gabriel Boric repräsentiert wird. Trotz der Überraschung ist dieses Ergebnis nicht vom Himmel gefallen. Es ist kein Zufall, dass die Rechten eine völlig demagogische Kampagne über Renten, Gesundheit und Wohnen geführt haben, um das gesamte Erbe der Diktatur zu verteidigen. Die Regierung Boric, die Kommunistische Partei und die Frente Amplio an der Seite der ehemaligen Regierungskoalition Concertación führten eine Kampagne, in der sie ihre Hauptargumente aufgaben. Sie regierten bislang, indem sie die von der Rechten und der ehemaligen Concertación gefeierten Rezepte umgesetzt haben, damit die Krise von der arbeitenden Bevölkerung bezahlt wird: durch finanzielle Kürzungen, ein miserables Wintergeld und schließlich die Absage der Rückzahlungen aus den wucherischen Rentenfonds. Die Reformen von Boric sind auf die Forderungen des Großkapitals zugeschnitten, wie z. B. die Erhöhung des Mindestlohns, die durch die Inflation zunichtegemacht wurde. Die Kampagne der Ablehnung nutzte dabei die Not, über die Runden zu kommen, und die Prekarität des Lebens, um Demagogie zu betreiben.
Die Regierung hat keine grundlegenden Maßnahmen ergriffen, um der wirtschaftlichen und sozialen Krise zu entgegnen. Leider fand in diesem Zusammenhang die demagogische Kampagne der Rechten in weiten Teilen der Bevölkerung Widerhall. Während der Verfassungsgebende Konvent von Plurinationalität zugunsten des Mapuche-Volkes sprach, hielt die Regierung gleichzeitig an der Militarisierungspolitik der Piñera-Regierung fest und vertiefte damit den Anti-Mapuche-Diskurs der Rechten. Diese Kampagne der Rechten war tief verwurzelt in einer Situation, in der durch das niedrige Niveau des Klassenkampfes und der zugrundeliegenden Umlenkung sozialer Spannungen, ein verfaulter verfassungsgebender Prozess entstand.
Dabei blieb es allerdings nicht. Der Diskurs der Regierung und der Kampagne zur Zustimmung hat die „Politik des Konsenses„ der früheren Concertación wieder aufgegriffen. Sie versuchten sogar die Verfassung zu reformieren und den Druck der Massen Umzulenken, bevor die Bevölkerung abstimmen konnte. In den letzten Wochen bereiteten sie zusammen mit der Rechten ein neues „Abkommen zur nationalen Einheit„ vor und bereiteten den Boden für einen neuen, noch betrügerischeren, begrenzten und undemokratischen verfassungsgebenden Prozess. Nach dem gestrigen Ergebnis bekräftigte die Regierung diese Forderung.
Dafür gibt es jedoch Gründe, denn die Regierung von Boric ist eine Fortsetzung des Friedensabkommens und des Prozesses der vorgelegten Verfassung. Doch wie kam es von der Massenrebellion, vor der das gesamte Übergangsregime erzitterte, zu diesem überwältigenden Triumph der Ablehnung? Der Konvent war nicht der Triumph des Volksaufstandes, wie die Frente Amplio, die Kommunistische Partei, die konstituierenden sozialen Bewegungen, die ehemalige „Volksliste“, Coordinadora Plurinacional und Gruppen wie Maria Riveras MIT behaupten. Im Gegenteil, sie war der wichtigste Mechanismus, den sich die Parteien des Regimes und die kapitalistischen Mächte ausgedacht hatten, um den Volksaufstand abzulenken und zu neutralisieren. Boric selbst war einer der Protagonisten des Friedensabkommens und der neuen Verfassung, die die Regierung Piñeras retteten und die Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen aufrechterhielten. Sie alle ebneten den Weg für die Rechten, die an Boden gewannen und sich selbst stärkten, indem sie den Klassenkampf auf das institutionelle Terrain verlagerten.
Der Verfassungskonvent hat das Drängen der Bevölkerung nicht zur Kenntnis genommen und sich allen der alten Verfassung nach festgelegten Gewalten unterordnet. Die Revolte, die nicht die Arbeiter:innenklasse im Zentrum hatte, konnte abgelenkt werden, indem Illusionen in den Konvent und die neue Verfassung gesetzt wurden, und dass die von der Diktatur geerbten strukturellen Probleme Chiles mit einer im Vorhinein kontrollierten Verfassungsänderung gelöst werden könnten, ohne die Säulen des chilenischen Kapitalismus anzutasten. Die Kommunistische Partei und die CUT waren Hauptakteure auf diesem Weg.
Diejenigen, die aus dem Wahlergebnis Kapital schlagen, sind zweifellos die rechten Parteien von Chile Vamos und die Vertrer:innen der ehemaligen Concertación, die sich in die Ablehnung integrierten wie Ximena Rincón (Christdemokratin), Matías Walker (Christdemokrat), dem ehemaligen Präsidenten Ricardo Lagos (Demokratische Partei) und Co. Aber es ist heuchlerisch, der Bevölkerung die Schuld zu geben, ohne zu erklären, wie es von einem Volksaufstand gegen das Erbe der Diktatur zu einem so überwältigenden Triumph der Ablehnung kam.
In diesem Moment wird es von grundlegender Bedeutung sein, gegen die Offensive der Rechten zu kämpfen. Diese wird versuchen, alle Forderungen der Rebellion endgültig zu begraben und den neuen Pakt der nationalen Einheit, den die Regierung mit allen regierungsnahen und oppositionellen Parteien vorantreibt, sowie ihren neuen betrügerischen und antidemokratischen verfassungsgebenden Prozess scharf zu verurteilen. Es ist unumgänglich, ein Programm in den Mittelpunkt zu stellen, welches die Krise von den Großunternehmern und nicht von den Arbeiter:innen bezahlt wird. Es ist notwendig, die Bedingungen vorzubereiten, um die Straßen und die Forderungen des Oktobers zurückzuerobern und für ein endgültiges Ende des gesamten Erbes der Diktatur zu kämpfen. Dies wird der einzige Weg sein, um in einer Perspektive des Generalstreiks zu einer freien und souveränen verfassungsgebenden Versammlung voranzukommen. Um sich auf diese Perspektive vorzubereiten, ist es unerlässlich, den Kampf für ein Notfallprogramm angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise voranzutreiben, in der die Inflation die Löhne auffrisst, die Mieten steigen und die Lebensbedingungen immer prekärer werden. Für diese Perspektive ist es zentral, die verschiedenen gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen zusammenzuführen. Die Führungen der Gewerkschaften und sozialen Organisationen müssen ihren Waffenstillstand mit der Regierung beenden und nicht länger darauf warten, dass die Forderungen durch ihre institutionellen Manöver erfüllt werden, wir müssen für die Unabhängigkeit von der Regierung und den Kapitalist:innen kämpfen.
Es handelt sich um grundlegende Forderungen wie eine allgemeine und sofortige Anhebung der Löhne entsprechend der Lebensmittelinflation und einen Mindestlohn und eine Mindestrente von 650.000 Pesos; die Verkürzung des Arbeitstages und die Aufteilung der Arbeitszeit auf Beschäftigte und Arbeitslose ohne Lohnkürzungen; die Beendigung des Preisanstiegs bei den Grundversorgungsleistungen Wasser, Strom und Treibstoff durch den Vorschlag der entschädigungslosen Enteignung unter Kontrolle der Beschäftigten aller Unternehmen der Grundversorgung, die mit den Preisen spekulieren, wie es im Fall von Metrogas geschehen ist. Außerdem müssen wir für die Verurteilung und Bestrafung der Verantwortlichen der Repression während der Rebellion zu kämpfen.
Dieser Artikel erschien zuerst am 04.09.22 bei Izquierda Diario.