Brot und Rosen Chile: „Vor wenigen Tagen wurde Pinochets Großnichte zur neuen Frauenministerin ernannt“

13.05.2020, Lesezeit 6 Min.
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Interview mit Joseffe Cáceres, Reinigerin und Sprecherin von Pan y Rosas (Brot und Rosen) und der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Chile über die aktuelle Situation in dem Land und die Politik der Linken.

Joseffe Cáceres, Reinigerin und Sprecherin von Pan y Rosas (Brot und Rosen) und der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Chile

Hallo Joseffe, danke dass du dir für das Interview Zeit genommen hast. Kannst du uns etwas über die nationale Situation bezüglich des Coronavirus erzählen, über die Politik der Regierun und über die Situation der Arbeiter*innenklasse und der Frauen?

In der letzten Woche ist die Zahl der Neuinfektionen auf mehr als tausend pro Tag angestiegen, und es gibt bereits Krankenhäuser, die anfangen, zusammenzubrechen. Das sind vor allem diejenigen, die sich um die peripheren, arbeitenden und ärmeren Gemeinden der Metropolregion des Landes kümmern. Der exponentielle Anstieg der Zahl der Infizierten kam erst nach dem Aufdecken eines Skandals des Gesundheitsministers ans Licht. Es stellte sich heraus, dass asymptomatische Fälle nicht gezählt worden waren. Mit anderen Worten, die Regierung behandelte die Daten, wie es ihr in den Kram passte, und verbarg Informationen, um vorzutäuschen, die Infektionskurve sei abgeflacht. Dies führte zu mehr Infektionen, und heute steht das Gesundheitssystem am Rande des Zusammenbruchs.

Zusätzlich zur Verschleierung asymptomatischer Positivbefunde führte die Regierung nie Massentests durch. Es wurden nur für kleine Teile der Bevölkerung Quarantänemaßnahmen eingeführt, während die Arbeiter*innen in den nicht lebennotwendigen Bereichen weiterhin der Ansteckungsgefahr ausgesetzt bleiben. Erst in der vergangenen Woche wurde eine Ausgangssperre für 80% der Bevölkerung der Stadt Santiago angekündigt. In den Vierteln der Arbeiter*innen und der Armen bleiben die Betriebe in nicht lebensnotwendigen Bereichen jedoch geöffnet. Gleichzeitig verfügen gerade diese Viertel über weniger Krankenhauskapazität, wie z.B. die Gemeinde Puente Alto, die die zweithöchste Zahl von Infektionen aufweist und deren Krankenhauskapazität zu 81% ausgelastet ist.

Darüber hinaus ist es der Regierung noch nicht gelungen, das Problem der Versorgung mit medizinischen Geräten zu lösen. Nach Angaben der chilenischen Gesellschaft für Medizin ist 68% der Gesamtkapazität der Intensivbetten ausgelastet, was mit der Zunahme von Infektionen und kritischen Fällen in sehr kurzer Zeit zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen könnte.

Wie in allen anderen Ländern auch stehen wir Frauen meist an vorderster Front im Kampf. Wir sind am stärksten vom Mangel an medizinischer Versorgung, persönlicher Schutzausrüstung und doppelten Arbeitstagen betroffen. Der Umgang der Regierungen mit der Pandemie hat uns mehr Ausbeutung und größere Krankheitsgefährdung für uns und unsere Familien beschert. Der erste Todesfall durch das Virus im Gesundheitssystem ereignete sich vor einigen Wochen und betraf eine weibliche Beschäftigte.

Darüber hinaus ist eine Zunahme von Femiziden und Gewalt gegen Frauen im häuslichen Bereich zu verzeichnen, für die die chilenische Regierung direkt verantwortlich ist. Vor wenigen Tagen wurde Pinochets Großnichte zur neuen Frauenministerin ernannt, welche bis heute eine überzeugte Verteidigerin der Diktatur, frauenfeindlich und rassistisch ist.

Was ist die Position der reformistischen und zentristischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokratien?

Bis jetzt haben die Kommunistische Partei und Sektoren der reformistischen Frente Amplio so reagiert, dass sie für arbeiter*innenfeindliche Gesetze gestimmt haben, wie das so genannte „Gesetz zum Schutz der Beschäftigung“, das in Wirklichkeit zur Sicherung der kapitalistischen Profite auf Kosten der Löhne der Arbeiter*innen dient. Unternehmen, selbst transnationale Konzerne, können dieses Gesetz nutzen, um die Zahlung ihrer Löhne einzustellen und stattdessen die Arbeitslosenversicherung zu beanspruchen. Die von der Kommunistischen Partei geführte Gewerkschaftszentrale Central Unitaria de Trabajadores wiederum wäscht ihre Hände in Unschuld. Sie hat weder zu Aktionen noch zur Organisierung der Arbeiter*innen mobilisiert oder aufgerufen, um den Prekarisierungsplänen der Regierung entgegenzutreten.

Welche Politik und welches Programm schlägt Pan y Rosas (Brot und Rosen Chile) in dieser Situation vor?

Wir Frauen von Pan y Rosas nahmen aktiv an der Revolte s teil und organisierten uns an unseren Arbeits- und Studienorten, insbesondere im Gesundheitssektor, wie im Krankenhaus Barros Luco und im Notfall- und Rettungskomitee von Antofagasta. Nachdem die Pandemie das Land traf, organisieren wir uns weiter und suchen die Solidarität zwischen den Arbeiter*innen. Im Gegensatz zur völlig passiven Gewerkschaftsbürokratie wollen wir einen Schwerpunkt des Widerstands gegen die Regierung und die Anpassungspläne der Unternehmen aufzeigen.

Wir verurteilen auch die Ernennung der neuen Frauenministerin. Mit ihr bekräftigt die Regierung ihre Leugnung der Menschenrechtsverbrechen der zivil-militärischen Diktatur, die für Tausende von Folterungen, Morden und Verfolgungen von Frauen und sexuellen Dissidenten verantwortlich ist. Außerdem legitimiert sie damit ihre eigenen systematischen Menschenrechtsverletzungen seit dem Massenaufstand vom 18. Oktober 2019. Die Ernennung ist ein Augenzwinkern von Piñera in Richtung der rückschrittlichen und fundamentalistischen Sektoren des Landes und eine Provokation gegenüber der Frauenbewegung und den Feministinnen, die sich der Diktatur widersetzten und in den letzten Jahren unsere Forderungen und Ansprüche weiterhin auf der Straße durchsetzten.

Deshalb schließen wir uns als eine Gruppe von Frauen und sexueller Vielfalt, Pan y Rosas Teresa Flores, bestehend aus Dutzenden von jungen Frauen, Arbeiterinnen in der Industrie, im Bildungs- und Gesundheitswesen und vielen anderen, der Kampagne #NoTenemosMinistra („Wir haben keine Ministerin“) an, die auf nationaler Ebene von verschiedenen Frauenorganisationen  ins Leben gerufen wurde. Gleichzeitig kämpfen wir für ein Entlassungsverbot und gegen die von dieser Regierung befürworteten Lohnsperren, für einen Mindestlohn von 500.000 Pesos (umgerechnet 555€), für einen Produktionsstopp in nicht wesentlichen Sektoren und für die Umstellung von Unternehmen und Fabriken auf die Produktion von Gütern für die Beschäftigten an vorderster Front. Wir wollen nicht noch mehr Femizide oder Gewalt gegen Frauen, wir kämpfen für einen Notfallplan gegen männliche Gewalt, in dem der Staat Wohnraum und eine monatliche Vergütung in Höhe der Kosten für den Lebensunterhalt der Familie und die psychologische Betreuung sichert, alles finanziert durch die Steuer auf Immobiliengeschäfte und große Vermögen.

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