Chile: Der Versuch, den sozialen Protest zu kanalisieren und zu kriminalisieren

06.11.2019, Lesezeit 5 Min.
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In Chile finden weiterhin Tag für Tag Demonstrationen statt. Studierende und Arbeiter*innen übernehmen das Zentrum von Santiago und blockieren Straßen. Die Regierung antwortet weiterhin mit brutaler Repression. Doch die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú will den Protest in institutionelle Bahnen lenken.

Beitragsbild: laizquierdadiario.cl

Die Demonstrant*innen, die tagtäglich auf die Straße gehen, verdeutlichen nicht nur ihre klare Zurückweisung der Regierung, sondern auch des chilenischen Wirtschaftsmodells. Es wurde von der Pinochet-Diktatur mit Blut und Feuer getauft und in den letzten 30 Jahren von den Regierungen, die ihr folgten erfolgreich umgesetzt, wie denen der Concertación oder der Rechten.

Die Bevölkerung erwachte jedoch aus einer tiefen Lethargie und rebellierte. Der Preis, den sie für die Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung auf den Straßen gezahlt haben, ist hoch. Bereits mehr als 1.574 Menschen wurden verletzt, 157 Menschen haben ein Auge verloren oder schwere Augenschäden erlitten, 132 Menschen haben Klagen wegen Folter und grausamer und erniedrigender Behandlung eingereicht, 4.316 Menschen wurden verhaftet – 664 Frauen, 3.022 Männer und 475 Minderjährige –, es gab Vergewaltigungen von Frauen und Männern auf Polizeistationen und Kasernen, Kreuzigungen in U-Bahn-Stationen. Die Liste ist endlos.

In diesem Zusammenhang kam Rigoberta Menchú, die Trägerin des Friedensnobelpreises (1992), den auch Barack Obama besitzt, nach Chile, um die Situation in dem Land und die Verletzung der Grundrechte zu begutachten, die von Vertreter*innen des Staates begangen wurden. Neben einer leisen Kritik an der mörderischen Regierung von Piñera hob Menchú vor allem den friedlichen Charakter des sozialen Protestes hervor – im Einklang mit der Erzählung, die die Regierung vorantreiben will, dass es gut ist zu protestieren, aber friedlich. So ermahnte sie, „dass die Bevölkerung sich um ihre Sicherheit kümmern soll und dass die Märsche und Demonstrationen und die Forderungen weitergehen, aber im Rahmen des Gewissens als Staatsbürger*innen“, d.h. unter Beachtung des rechtlichen Rahmens der aktuellen Verfassung – oder, um es in Klartext und in Bezug auf die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhung zu sagen: ohne Überspringen der Drehkreuze.

Aus diesem Grund wurde Menchú nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Lösungen für die gegenwärtige Krise vom institutionellen Rahmen ausgehen müssen, der von der Pinochet-Diktatur geerbt wurde. „Hier gibt es keine Anarchie, es gibt Institutionen und es ist der Staat, der Repressionen ausübt, die Verantwortung liegt beim Staat (….) Wir rufen die Justiz an, wir hoffen, dass die Staatsanwaltschaft [oder auch „Ministerium des Öffentlichen“, ein gesonderter legaler Organismus in Chile] ihre Arbeit bei der Untersuchung und Bestrafung leisten, damit ein Präzedenzfall geschaffen wird, damit sich dies nicht wiederholt“, sagte sie.

Seltsam – oder vielleicht auch nicht so sehr angesichts ihrer skandalösen Aussage über die Verwandten der 43 Schüler*innen aus Ayotzinapa, die 2014 von der mexikanischen Regierung entführt wurden. So auch, dass Menchú bei ihrem Spaziergang durch das Zentrum von Santiago vergangenen Montag Zeit für Kameras und Selfies vor dem Kulturzentrum Gabriela Mistral (GAM) hatte, aber nicht für die dortigen Arbeiter*innen, die vor dem Gebäude standen und die eine Koordination der Sektoren im Kampf gegen die Regierung und ihre kriminelle und mörderische Polizei vorantreiben.

Warum ist Menchú also nach Chile gekommen? Es ging darum, einer kriminellen und mörderischen Regierung, die wegen der Mobilisierung von Millionen auf der Straße am seidenen Fäden hängt, ein gewisses Maß an Legitimität zu geben. Dies ist eine politische Operation, die vom Imperialismus unterstützt wird. Nicht umsonst forderte die ehemalige chilenische Präsidentin und derzeitige Hochkommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure auf, den Dialog aufzunehmen und brachte zum Ausdruck, dass sie „sehr besorgt und traurig war, die Gewalt zu sehen“ und damit die staatliche Gewalt auf die gleiche Ebene wie die der Jugendlichen auf den Straßen stellte.

Leider schließen sich auch die Kommunistische Partei und das reformistische Bündnis „Frente Amplio“ dieser Operation an, die dazu dient, den gewaltsamen sozialen Protest zu kriminalisieren, indem sie das legitime Recht der Massen auf Selbstverteidigung gegen die Polizeibrutalität verweigern. Das zeigte auch die letzte Perle der KP-Abgeordneten Camila Vallejo, die zu friedlichem Protest aufrief und Angriffe auf die Polizist*innen, die auf der Plaza Italia Gewalt anwandten, ablehnte und verurteilte, während die gleiche Polizei ein paar Blocks weiter Demonstrant*innen überrollte.

Im Gegensatz dazu erklären wir Revolutionär*innen offen, dass unsere „Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ (Karl Marx & Friedrich Engels: Kommunistisches Manifest).

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