Chemnitz: „Rechtsstaat“ und Polizei werden uns nicht vor den Faschist*innen schützen, das können wir nur selber tun!
Die faschistischen Mobilisierungen von Chemnitz halten die ganze Republik in Atem. Den Hetzjagden wird von allen Seiten der Ruf nach "Rechtsstaat" und mehr Polizei entgegengestellt. Doch wir können uns nur selbst verteidigen – Arbeiter*innen, Jugendliche und Migrant*innen gemeinsam.
Die faschistischen Mobilisierungen am Sonntag und Montag in Chemnitz sendeten Schockwellen durch das ganze Land. Die Schnelligkeit der Mobilisierung und die Größe der Demos, als erst 1.000 und dann 5.000 Menschen angeführt von Rechtsradikalen durch Chemnitz zogen und Migrant*innen, Linke und Journalist*innen angriffen, waren erschreckend.
Es waren am Montag zwar auch 1.500 Gegendemonstrant*innen zur Stelle, und in ganz Deutschland wird in diesen Tagen zu Demonstrationen gegen rechte Gewalt aufgerufen. Doch es ist abzusehen, dass das Kräftemessen weiter gehen wird: Für den kommenden Samstag haben AfD und Pegida gemeinsam zu einem „Schweigemarsch“ in Chemnitz aufgerufen.
Drei Fragen werden in der Linken und in der Öffentlichkeit breit diskutiert: Wie konnte die rechte Mobilisierung so stark werden? War die Polizei „überfordert“? Und wie können wir uns der wachsenden Militanz der Rechten entgegenstellen?
Die Hetzjagd in Chemnitz zeigt die Verschmelzung der AfD mit den faschistischen Kräften
Der AfD-Bundestagsabgeordnete und „Sprecher“ von Alice Weidel, Markus Cornel Frohnmaier, gehört zum Nazi-Netzwerk im Bundestag. Auf Twitter verteidigte er die faschistische „Selbstjustiz“: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ‚Messermigration‘ zu stoppen!“
Die AfD-Fraktionsvorsitzenden Weidel und Gauland beziehen sich ebenfalls auf die Legitimität der faschistischen Gewalt, wenn sie schreiben: „Wenn die abscheuliche Tötung eines Menschen auf offener Straße weniger Beachtung und Empörung erfährt als der wütende Protest dagegen, dann haben wir hier eine fatale Schieflage.“
Besonders dreist ist, dass gerade der Mord an Daniel H. So instrumentalisiert wird. Er war antifaschistisch eingestellt, hätte bei der Mobilisierung eines faschistischen Mobs wahrscheinlich auf der anderen Seite gestanden. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Ereignisse von Chemnitz zeigen: Die Verschmelzung der AfD mit faschistischen Terrorbanden besteht nicht nur in Aussagen, sondern strukturell. Die angebliche Abgrenzung zwischen der AfD und rechtsextremen Gruppen wie „III. Weg“ und Neonazi-Kameradschaften ist reine Show. Längst hat sich eine Symbiose zwischen der AfD als „parlamentarischem Arm“ und der „außerparlamentarischen“ rechten Szene ergeben. Die AfD, die zahlenmäßig stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag, ist inzwischen sowohl eine Bühne für die faschistischen Kader als auch eine Quelle, wie gerade das Beispiel Björn Höcke zeigt: Seine Versuche, mit einer sozialdemagogischen und rassistischen Agitation eine Basis zu gewinnen, sind bekannt. Außerdem gehen seine Vernetzungen bis in die Bundeswehr und die Polizei.
Warum Chemnitz?
Es ist kein Zufall, dass Chemnitz zum Kristallisationspunkt wurde. Die strukturelle Grundlage bildet die kapitalistische Restauration, wie wir an anderer Stelle analysiert haben:
„Auf der einen Seite schufen Privatisierung, Ausverkauf und Abtransport der ehemals sozialisierten Industrie durch das deutsche Großkapital mittels der Treuhand eine soziale Misere, die bis heute zu massiv ungleichen Lebensbedingungen in Ost und West, zur Zerstörung von hunderttausenden von sozialen Existenzen, zur permanenten Deindustrialisierung ganzer Landstriche und somit zur strukturellen Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geführt hat. Sie ist der Nährboden und die soziale Grundlage für die Entstehung und Ausbreitung faschistischer Strukturen in Ostdeutschland.
Auf der anderen Seite haben sich faschistische paramilitärische Gruppen mit Unterstützung der Geheimdienste, wie auch im NSU-Prozess wieder offenbar wurde, erst ausgehend von Westdeutschland ab Anfang der 90er Jahre in Ostdeutschland etablieren können. Die Polizei tolerierte den rechten Terrorismus und die Parteien bis zur SPD verwendeten ihn zur Einschränkung des Asylrechts 1993, das ein neues auf Illegalisierung basierendes Migrationsregime brachte.“
In Sachsen ist die AfD am stärksten, und in Orten wie Freital, Heidenau, Clausnitz oder Bautzen waren in den vergangenen Jahren immer wieder ähnliche Situationen wie zuletzt in Chemnitz zu erleben. Die schon seit den 90er Jahren starke rechtsextreme Szene in Sachsen bekam durch den Aufschwung der AfD noch mehr Zulauf. Diese organisatorische Stärke und ihre Verschmelzung mit der AfD verleitete beispielsweise die Rechtsextremismus-Expertin Andrea Röpke zu der Aussage, die pogromartige Stimmung von Chemnitz sei qualitativ gefährlicher als die Pogrome in den 90er Jahren in Rostock-Lichtenhagen und anderen Orten.
Zudem zeigt sich gerade in Sachsen – aber nicht nur – die tiefe Verstrickung von Staatsapparat und rechter Szene. Die Bilder von Nazis, die in Chemnitz den Hitler-Gruß zeigten, und tatenlos danebenstehenden Polizist*innen, sprechen Bände.
Gleichwohl hat es in den vergangenen Jahren nicht nur in Sachsen faschistische Mobilisierungen gegeben, wie gerade die 2014 stattfindenden „HoGeSa“-Demonstrationen von militanten rechtsextremen Strukturen in Dortmund und anderen Orten, oder die tausenden Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte in den vergangenen Jahren im ganzen Bundesgebiet zeigen. Es wäre also verkürzt und geradezu gefährlich, die Ereignisse von Chemnitz als regionales Problem abzutun. Vielmehr zeigt Chemnitz nur, wie offen und mit welchem Massenanhang die Faschist*innen heute auftreten können. Zweistellige Umfragewerte für die AfD bundesweit zeigen, dass solche Szenen auch anderswo mit Leichtigkeit stattfinden können.
Vorwand für innere Militarisierung
In der bürgerlichen Presse wurden die Hetzjagden von Chemnitz zuweilen sogar als „Ausschreitung zwischen extremistischen Lagern“ definiert. Überall ist zudem von der „Überforderung der Polizei“ zu lesen und zu hören. Solche Interpretationen verfolgen zwei Ziele: zum einen eine Verharmlosung der faschistischen Gewalt, zum anderen, die innere Militarisierung voranzutreiben.
Zunächst gehen wir auf die Verharmlosung der faschistischen Gewalt ein: Die Situation in Sachsen ist hochexplosiv, die Hetzjagd in Chemnitz hat es bewiesen. Es braucht nur einen Anlass für eine Demagogie, um Tausende für eine Hassparade zu mobilisieren. Sie zeigten den Hitlergruß. Sie riefen Parolen wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ oder „frei, sozial und national“ und griffen die migrantischen und antifaschistischen Gegendemonstrant*innen an.
Doch vor allem werden von Politiker*innen aller Parteien Rufe nach einer Stärkung des „Rechtsstaats“ und mehr Polizei laut. Der Bundesinnenminister Seehofer zieht aus Chemnitz die Schlussfolgerung nach mehr Polizei und für Grenzkontrollen in anderen Bundesländern. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im bayerischen Landtag, Katharina Schulze, fordert ebenfalls mehr Polizei und stärkeren Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutz soll sich um die AfD kümmern, sagt sie. Der Verfassungsschutz, der in die NSU-Morde verwickelt war! Aus dieser Haltung der Grünen geht nur eine noch stärkere AfD und faschistische Zellen hervor.
Die Polizei sagt, sie sei überfordert. Das Problem liegt aber nicht an einem angeblichen „Personalmangel“ der Polizei in Chemnitz (oder anderswo). Vielmehr geht es darum, dass die Polizei als Repressionsapparat den Aufträgen des deutschen Staates folgend, sich auf die Bekämpfung antifaschistischer, geflüchteter und migrantischer Aktivist*innen konzentriert. Das sächsische SEK hat seit kurzem eigene Panzer. Und als letztes Jahr 400 Menschen in der sächsischen Kleinstadt Wurzen auf die Straße gegangen sind, um gegen Rassismus und Neonazis zu demonstrieren, fuhr das SEK mit Maschinengewehren auf.
Während die Polizei gegenüber antifaschistischen, prokurdischen und antirassistischen Kundgebungen massive Einsätze durchführt, verteidigt sie das „Recht“ der faschistischen Demonstrationen gegen antifaschistische Aktivist*innen: beispielsweise durch die gewaltsame Räumung von Blockaden, wie zuletzt bei den Mobilisierungen gegen den Rudolf-Heß-Marsch in Berlin.
Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann hat den Haftbefehl gegen einen mutmaßlichen Täter im Fall des in Chemnitz getöteten 35-Jährigen veröffentlicht. Dies bedeutet, dass ihm das geheime Dokument aus Kreisen der Polizei zugespielt wurde. Diese Polizei in Sachsen hat besondere Beziehung zu faschistischen Banden. Es gibt innerhalb der Polizei große Sympathie für den deutschen Nationalismus. Würde die Justiz einen transparenten und konsequenten Prozess gegen die NSU-Morde durchführen, gäbe es eine umfassende Aufklärung über die heutige Lage in Sachsen und Chemnitz. Denn Chemnitz ist ein Hotspot der NSU-Anhänger*innen.
Die Polizei kann uns also nicht behilflich sein, vielmehr ist sie Teil des Problems. Stattdessen müssen wir uns auf der Straße, in den Betrieben, Schulen und Universitäten mobilisieren, wie es unter anderem die Linkspartei fordert. Leider stimmen auch Partei– und Fraktionsspitze der Linkspartei in den bürgerlichen Chor der „Überforderung der Polizei“ ein.
Nebenbei bemerkt macht selbst die AfD Demagogie mit der Forderung nach einer „Rückkehr des Rechtsstaats“ – nur eben, um mehr Repression gegen Migrant*innen zu fordern. Das zeigt, dass die Anrufung des Rechtsstaats nur eine Augenwischerei sein kann. Nur selbstorganisiert können wir uns gegen die Faschist*innen – und die Polizei, die sie schützt – wehren.
Diese Forderung nach mehr Polizei und Rechtsstaat steht in einem gesellschaftlichen Kontext der inneren Militarisierung. Dazu zählen mehrere neue Polizeiaufgabengesetze in verschiedenen Bundesländern, verbunden mit der Beschneidung demokratischer Freiheiten. Nicht zu vergessen auch der #pegizei-Skandal, der die Forderung nach mehr Polizei noch fragwürdiger erscheinen lässt. Nicht eine durchsetzungsfähige Polizei hat in Chemnitz gefehlt, sondern eine starke sozial und gewerkschaftlich verankerte Linke, die sich den Faschist*innen in den Weg stellt.
Kampf dem Faschismus: Einheitsfront in Chemnitz und überall!
Die Hetzjagd in Chemnitz sollte auch der*dem letzten gezeigt haben, dass es sich bei AfD und Co. nicht um „besorgte Bürger*innen“ handelt, denen man nur etwas besser zuhören müsste. Die AfD ist heute auf allen großen Bühnen der Republik angekommen – in Chemnitz hat sie öffentlich ihr Bekenntnis zur Fusion mit dem Faschismus abgelegt.
Angesichts dieser Entwicklung kann die Hoffnung auf den Rechtsstaat oder auf eine polizeiliche Eindämmung rechter Mobilisierungen nur in die Sackgasse führen. Zum Einen, weil es gerade im Staatsapparat immer mehr Unterstützer*innen für faschistische Umtriebe gibt, zum anderen – und vor allem – deshalb, weil die staatlich vorangetriebenen Verschärfungen von Asylgesetzen, Arbeitsmarktreformen und Prekarisierung die soziale und ideologische Grundlage für die rechten Mobilisierungen gegeben haben. Seehofer und Co. schaffen mit ihrer Abschottungspolitik dem faschistischen Mob einen Nährboden. Ihnen gleich tun es auf europäischer Ebene Salvini, Orban und Kurz, die korrupt, rassistisch und arbeiter*innenfeindlich sind.
Es ist richtig, wenn in den Medien heute zwischen dem Zusammenhang von „Wendeverlierer*innen“ und dem Aufstieg von AfD und Co. gesprochen wird. Doch es ist nicht so, dass „Abgehängte“ automatisch nach rechts gehen. Stattdessen ist die Frage, welche Antworten die Linke und die Gewerkschaften auf die soziale Misere geben. Wenn sie nicht überzeugend sind, profitieren die Rechten. Das zeigt sich gerade in Ostdeutschland extrem stark, wo die Arbeiter*innenbewegung mit der kapitalistischen Restauration eine harte Niederlage erlitten hat, von der sie sich bis heute nicht erholt hat.
Aber wenn wir eine tatsächlich glaubwürdige Antwort auf die Krise geben, können wir den Aufstieg der Faschist*innen stoppen. Ein erster Schritt sind Mobilisierungen von Linken und Gewerkschaften, ausgehend von den Betrieben, Dienststellen, Schulen und Universitäten, gegen die rassistische Gewalt, aber gleichzeitig mit einem sozialen Programm gegen Armut, Prekarisierung, Pflegenotstand und Wohnungsnot.
Heute sind es noch vor allem Geflüchtete und Migrant*innen, die faschistischen Angriffen zum Opfer fallen. Doch nicht nur gibt es immer mehr direkte Angriffe von Rechten auf Gewerkschafter*innen, wie zuletzt in Hanau. Sondern die Arbeiter*innenklasse in Deutschland ist selbst immer migrantischer. Es gehört zu den grundlegenden Selbsterhaltungsmaßnahmen der Arbeiter*innenklasse, migrantische Arbeiter*innen gegen physische Angriffe zu verteidigen. Die Trennung zwischen „deutschen“ und „nicht-deutschen“ Arbeiter*innen hat viel zu lange existiert und die faschistische Demagogie begünstigt. Heute geht es darum, dass die Gewerkschaften und alle ihre Mitglieder realisieren, dass die Arbeiter*innenklasse in Deutschland multiethnisch ist – und ein Angriff von Faschist*innen ein Angriff auf uns alle ist.
Dagegen müssen wir uns gemeinsam wehren, mit Demonstrationen, Blockaden, in den Betrieben, Schulen und Universitäten – und überall wo nötig mit Strukturen der Selbstverteidigung, um solchen Angriffen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Bisher sind die Nazis in Chemnitz „nur“ durch die Innenstadt gezogen – es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie direkt auch linke, migrantische und auch gewerkschaftliche Strukturen angreifen.
„Selbstschutz“ bedeutet in allererster Linie eine organisierte Masse. Es geht darum, dass Gewerkschaften mit linken und migrantischen Organisationen sich und andere auf der Straße verteidigen. Im Schutz der Massenorganisationen des Proletariats erst ist der effektive Selbstschutz möglich.
Es ist nötig, eine Einheitsfront aller linken und Arbeiter*innenorganisationen aufzubauen. DGB, SPD und Linkspartei müssen zu großen Demonstrationen aufrufen, ausgehend von den Betrieben und Stadtteilen. Gerade in Chemnitz müsste jetzt eine Großdemonstration von diesen Organisationen organisiert werden.
Vor allem muss eine solche Einheitsfront ein soziales Programm vertreten. Den Nazis auf der Straße entgegenzutreten, ist nur der allererste Schritt. Nötig ist es, den sozialen Nährboden zu entziehen, indem wir der Spar- und Kürzungspolitik von Bossen und Regierung – vergessen wir nicht, dass beispielsweise in Leipzig Halberg-Guss von der Schließung bedroht ist, was hunderte weitere Familien in die Misere stürzen könnte – eine Kampfperspektive zur Rückeroberung all unserer sozialen und demokratischen Rechte entgegenstellen.