Chancen-Aufenthaltsgesetz: Die Illusion von Inklusion
Mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsgesetz soll es migrantischen Menschen einfacher gemacht werden, den deutschen Pass zu bekommen. Doch was steckt wirklich dahinter?
Die Ampelkoalition stellte im Herbst 2022 das Chancen-Aufenthaltsgesetz vor. Damit soll es Migrant:innen und Geflüchteten einfacher gemacht werden, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Diesbezüglich veröffentlichten wir bereits einen kurzen Artikel als Antwort auf ein heuchlerisches Reel vom Neuköllner SPD-Politiker Hakan Demir. Betroffen vom Chancen-Aufenthaltsgesetz wären laut Angaben Demirs über 130.000 Menschen in Deutschland. Geflüchtete und Migrant:innen, die zum Stichtag am 31.Oktober 2022 mindestens fünf Jahre legal in Deutschland geduldet wurden, ohne straffällig geworden zu sein und ohne gegen die Duldungsauflagen wie der wohnungsgebundenen Aufenthaltseinschränkung zu verstoßen. Diese Menschen bekommen dann eine Aufenthaltsgenehmigung, mit der sie einige Freiheiten genießen können, wie bspw. das uneingeschränkte Arbeitsrecht. Doch gleichzeitig müssen sie weitere Auflagen einhalten. Beispielsweise müssen sie in den ersten 18 Monaten mindestens ein A2-Sprachniveau vorlegen und ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren können, was für die Betroffenen bedeutet, dass sie neben einer wahrscheinlich prekären Vollzeitarbeit gleichzeitig auch in eine Sprachschule mit Integrationskursen, wo oftmals furchtbare Bedingungen herrschen, gehen müssen, um die Auflagen innerhalb der vorgegebenen Zeit auch erfüllen zu können. Noch dazu muss beachtet werden, dass Integrationskurse selbst bezahlt werden müssen, sobald Teilnehmer:innen ihren Lebensunterhalt eigenständig verdienen. In Ausnahmefällen kann das mit einem Antrag bei der Härtefallkommission zwar ausgesetzt und eine Kostenbefreiung für den Kurs bewirkt werden, bewilligt wird dies jedoch nur sehr selten. Doch angenommen, Menschen schaffen es, unter diesen Bedingungen eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, ihre Auflagen einzuhalten und zu beweisen, dass sie sich problemfrei integrieren können: Wie geht es weiter? Nach 18 Monaten haben sie dann zumindest eine bessere Chance auf einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Ist das in jedem Fall gewährleistet? Absolut nicht. Wer die deutsche Gesetzgebung und ihre ausführenden Behörden kennt, weiß zu gut, mit welchen Mitteln und Gesetzeslücken Migrant:innen und Geflüchtete konfrontiert sind. Bei der Ausländerbehörde in Leipzig wartet man beispielsweise mindestens 12 Monate auf einen Ersttermin, um einen unbefristeten Aufenthaltstitel beantragen zu können, was mit der aktuellen Lage der ukrainischen Geflüchteten begründet wird. In dieser Zeit reicht bereits eine Anzeige wegen Erschleichung von Leistungen – kurz Schwarzfahren – völlig aus, um die Chance auf einen dauerhaften Aufenthalt zu verwirken. Gleichzeitig wird mit regelrechten Lügen bereits innerhalb der 18 Monate versucht, Geflüchtete abzuschieben, indem ihnen aufgetragen wird, einen Reisepass ihres Herkunftslandes zu beantragen, um sie danach schnellstmöglich in die Kriegs- und Krisengebiete zurückzusenden, aus denen sie unter den schlimmsten Bedingungen flüchten mussten. Aktuell können Menschen ohne Pass zwar rein rechtlich nicht abgeschoben werden, doch wie lange das noch so bleibt, ist fraglich. Immerhin reden wir von einem Land, das 2022 bereits knapp 13.000 Menschen abgeschoben hat und weiterhin über noch schnellere und einfachere Abschiebungen diskutiert, die erst kürzlich bereits auf EU-Ebene beschlossen wurden.
Doch schauen wir genauer hin. Laut Demir profitieren 130.000 Menschen in Deutschland von dieser Reform. Selbst wenn man das als positiv ansehen wollen würde : Was ist mit allen anderen Geflüchteten und Migrant:innen? In Deutschland leben über 6,3 Millionen Menschen, die weder die deutsche Staatsangehörigkeit haben noch EU-Bürger:innen sind. Warum leben Menschen wie meine Eltern seit 30 Jahren in Deutschland und bekommen immer noch keine deutsche Staatsbürgerschaft, um das eigene Leben in diesem Land etwas zu erleichtern? Warum leben Millionen Geflüchtete zusammengepfercht in Obdachlosen- und Asylheimen, wo sie teilweise mehr als fünf Personen in einem einzigen Zimmer leben müssen? Was ist mit Menschen, die aus finanzieller Not heraus straffällig geworden sind, bspw. durch Schwarzfahren oder Ladendiebstahl und damit automatisch ihre Chance auf das Chancen-Aufenthaltsgesetz verwirkt haben? Statt Menschen eine Chance auf Arbeit zu geben, sind sie zu Straftaten wie dem illegalen Handel von Drogen gezwungen. Statt ihnen Perspektiven zu bieten, zu helfen und zumindest eine versicherte Arbeit zu ermöglichen, wird in der Regierung und in den Medien auf sie gespuckt. Sie werden von Polizist:innen bei Kontrollen als Erstes ins Visier genommen, von ihnen schikaniert und nicht selten mit Pfefferspray. Schlagstöcken und Taser schwer verletzt – oder gar von Schusswaffen getötet. Wieso gilt das Gesetz nicht auch für diese Menschen?
Das Chancen-Aufenthaltsgesetz soll davon ablenken, was eigentlich Sache ist: Strengere Asylbedingungen, schnellere Abschiebungen, mehr Kontrolle und Militär an den europäischen Außengrenzen – und Deutschland zeigt, wie es geht. Nur ca. 22 Prozent aller Anträge auf Asyl von irakischen Staatsbürger:innen hat Deutschland angenommen. Von den knapp über 22.000 Anträgen im Jahr 2022 wurden knapp 12.000 abgelehnt und über 6.000 bekamen nur eine zeitweilige Duldung und sind weiterhin ausreisepflichtig. Von den über 11.000 Asylanträgen aus der Türkei wurden knapp 6.000 abgelehnt. Hierbei handelt es sich mehrheitlich um kurdische Menschen, die vor den Militäroffensiven der Türkei flüchten. Hier spielt auch Deutschland selbst eine entscheidende Rolle: Die Waffen der Türkei kommen größtenteils aus Deutschland. Die Türkei ist seit Jahren immer noch der größte Abnehmer von deutschen Waffen und ihre rassistische Politik und Kriegsführung sind immer noch Hauptursache für Flucht und Vertreibung von kurdischen Menschen. Ebenso wurden von den knapp 7.000 Asylanträgen aus Georgien sage und schreibe 16 angenommen. Ganz genau, nur 16 vereinzelte georgische Menschen, mehr nicht.
Wenn wir genauer hinschauen, stellt sich also heraus, dass diese Reform derselbe Bullshit ist, den wir die letzten Jahre auch schon aufgetischt bekommen haben. Damit wird nur unter den Tisch gekehrt, was die Bundesregierung diesen Menschen schon alles angetan hat und weiterhin antut. Razzien in migrantischen Restaurants, exzessive Gewalt bei Abschiebungen und Kontrollen, etliche Morde durch Schusswaffeneinsatz – all das geht allein nur auf die Kappe des Polizeiapparats. Wo war das Chancen-Aufenthaltsgesetz, das Recht auf Asyl und Schutz, als Oury Jalloh im Gefängnis verbrannt wurde? Wie viele der Opfer und Betroffenen von rechtsextremistischen Brandanschlägen in Geflüchtetenheimen profitieren von diesem Gesetz und dem Schutz der Bundesregierung als Asylsuchende? Wie vielen Menschen soll dieses Gesetz wirklich zugutekommen, wenn im selben Atemzug auf europäischer Ebene für noch mehr militärische und polizeiliche Gewalt, noch mehr Pushbacks, noch mehr Abschiebungen und noch mehr Toten an den EU-Grenzen entschieden wird?
Es braucht keine vermeintlich hilfreichen Chancen-Aufenthaltsgesetze. Es braucht ein unbürokratisches Bleibe- und Arbeitsrecht für alle Geflüchteten und migrantischen Menschen. Damit einhergehend brauchen wir höhere Löhne, die uns sättigen. Wir brauchen sichere Arbeitsbedingungen, die unsere Gesundheit nicht beeinträchtigen. Wir brauchen Arbeitszeiten, mit denen wir reichlich Zeit für uns und unser soziales Umfeld haben. Die Polizei schützt nicht uns, sondern die Profite der Reichen und die Gesetze des Staates. Um uns selbst zu schützen, brauchen wir keine Polizei: Sie muss abgeschafft werden, damit Geflüchtete und Migrant:innen in Sicherheit leben können. Wir können uns nicht auf Reformen von liberalen, bürgerlichen Parteien verlassen, weder auf die Ampelregierung, erst recht nicht auf die GroKo und auch nicht auf die Linkspartei, die lieber Teil der kapitalistischen Regierung ist und die Aufrüstung der Polizei und Abschiebungen, u.a. in Berlin, mitverwaltet. No borders, no nations!