Buchbesprechung: „Rassismus nach Apartheid. Herausforderungen für Marxismus und Antirassismus“

22.12.2019, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil rezensiert den Band "Racism After Apartheid. Challanges for Marxism and Anti-Racism", der dieses Jahr in Südafrika herausgegeben wurde.

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Der Titel des in der Serie „Democratic Marxism“ (Demokratischer Marxismus) erschienenen Sammelbandes beschreibt die unterschiedlichsten geografischen und historischen Kontexte, die dieses wichtige Buch zusammenfasst, ungenügend. Denn anders als man vom Titel vermuten würde, geht es nicht ausschließlich um Südafrika nach 1994. In 11 Kapiteln stellen Forscher*innen aus Kenia, Südafrika, Indien, Deutschland und den USA aktuelle Analysen zu den Grundlagen rassistischer Exklusion und/oder Stigmatisierung vor, welche auf materialistischen Analysen fußen. Materialistische Rassismusanalysen, vor allem solche, die von marxistischen Gesellschaftsanalysen ausgehen, sind außerhalb der US-Akademie ungewöhnlich. Umso erfrischender sind Perspektiven, die nicht nur die US-Gesellschaft unter die Lupe nehmen und anhand von Erfahrungen in anderen Teilen der Welt versuchen, verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen.

Trotz der sehr unterschiedlichen Gesellschaften und entsprechenden Entwicklungen von Rassismen schaffen es die Autor*innen des Sammelbandes gut, verallgemeinerbare Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die sich vor allem in der materiellen Notwendigkeit für rassistische ideologische Formationen aufzeigen lassen. Der südafrikanische Kontext wird genauso kritisch besprochen wie Afrikanisch-Sein auf dem afrikanischen Kontinenten sowie Rassismus in den USA, in Deutschland und in Indien.

Vishwas Satgar, Politikwissenschaftler an der University of Witwatersrand in Südafrika und Herausgeber des Bandes, erklärt in der Einleitung (S. 1-27), dass das Projekt des Sammelbandes ist, „die Beziehung zwischen Rassismus und Marx‘ Denken“ zu verstehen (S. 3). Dabei erläutert er überzeugend, wie mit dem Vorwurf des Eurozentrismus in Marx‘ politischem Werk fruchtbar umzugehen ist: Anders als Edward Said, eine der Ikonen der Postkolonialen Theorie, welcher eurozentristische Wissensproduktion an einen „geografischen Essentialismus“ (S. 4) knüpfte – also an Europa als Ort, an dem Marx seine Theorien formulierte –, argumentiert Satgar mit Bezugnahme auf Gilbert Achcar, dass Marx nachweisbar über eine orientalistische Lesart nicht-westlicher Gesellschaften hinaus ging (ebd.). Hierbei ist die Beleuchtung der Entwicklung von Marx selber wichtig, denn auch er war kein Monolith, revidierte Perspektiven und veränderte bzw. passte seine Theorien an. Dabei ist eine wichtige Unterscheidung diejenige zwischen epistemischen Eurozentrismus (epistemic Eurocentrism) und rassistisch-vorherrschaftlichem Eurozentrismus (supremacist Eurocentrism) (ebd.). Hierzu erklärt Satgar:

Ersteres erschien definitiv als ein Moment in Marx‘ Verständnis von außereuropäischen Gesellschaften, insbesondere von Indien. Das hat mit den Wissensbegrenzungen zu tun, mit denen Marx als externer Beobachter dieser Gesellschaften konfrontiert war, und mit der Tatsache, dass er sich auf die Beobachtungen anderer aus Europa verlassen musste, einschließlich eurozentrischer Berichte über diese Gesellschaften, ohne auch nur eine Erfahrung mit diesen Gesellschaften zu haben. Darüber hinaus stellt Achcar weiter klar, dass Marx sicherlich kein Rassist war, der an die ethnozentrische Überlegenheit des Westens glaubt. Tatsächlich war Marx ein entschiedener Kritiker des bürgerlichen Denkens des Westen (S. 4-5).

Dazu können Marx‘ Schriften zur jüdischen Frage, zur Diskriminierung und Überausbeutung irischer Arbeiter*innen in England, sowie seine Schriften und Briefe zum Bürgerkrieg in den USA (1861–1865) herangezogen werden, in denen er klar formulierte, dass die Befreiung der Schwarzen Sklav*innen ein Schlüsselmoment des Klassenkampfes weltweit darstellen wird und deswegen das Weltproletariat für genau diese Befreiung einstehen muss. 1864 organisierte Marx selbst eine Demonstration von Arbeiter*innen in England, welche gegen das Vorhaben der Britischen Regierung aufbegehrten, Waffen an die Südstaaten-Sklavenhalterarmee zu schicken1.

Auch Fabian Georgis Beitrag „Die Rolle von Rassismus in der Europäischen ‚Migrationskrise‘: Eine Historisch-Materialistische Perspektive“ (S. 96-117) zeichnet sich durch eine fundierte materialistische Analyse des europäischen Grenzregimes und vor allem Deutschlands Migrationspolitik und den daraus resultierenden Anstieg von Rassismus gegen Asylsuchende und Menschen, die für Asylsuchende gehalten werden, aus. Für Georgi besteht der Mehrwert einer historisch-materialistischen Grenzregimeanalyse aus der Möglichkeit, „[…] die Politiken, Institutionen und Staatsapparate von Grenzregimen [als] das Ergebnis sozialer und politischer Kämpfe, die grundlegend von einer Reihe migrationsbedingter struktureller Widersprüche innerhalb eines kapitalistischen und rassistischen Weltsystems geprägt sind“, zu verstehen (S. 100). Durch diesen Ansatz können „[…] die Kategorien, Politiken und Institutionen dieser Regime (z.B. Illegalität oder Aufenthaltskategorien) entnaturalisiert und historisiert werden(ebd.).

Der „lange Sommer der Migration“ (S. 99), der vom Sommer 2015 bis März 2016 andauerte, endete mit dem EU-Türkei-Abkommen, Fliehende nicht länger über die türkische Grenze nach Griechenland zu lassen und diese – wenn sie bei der Migration erwischt werden – auch massenhaft in türkische Gefängnisse zu sperren; eine bis heute andauernde Praxis. Seit 2016 ist die Migrationspolitik der EU insgesamt wesentlich restriktiver geworden; hierzu gehört auch die Externalisierung des Grenzregimes nach Nordafrika (ebd.), wo mit EU-Geldern die Regierungen vor Ort dafür bezahlt werden, Asylsuchende von der Überquerung des Mittelmeeres zurück zu halten – eine EU-finanzierte Todesfalle für Tausende.

Georgi beschreibt überzeugend, wie die rassistische Atmosphäre 2015 dazu beitrug, dass Schutzsuchende als „Gefahr“ für Deutschland und sein Sozialsystem dargestellt wurden – ein Mechanismus, um deutschen Arbeiter*innen und länger in Deutschland lebenden Immigrant*innen durch eine Mischung aus Nationalismus, Sozialstaatschauvinismus und Rassismus eine Option des Nach-Unten-Treten zu geben: Die weltweite Finanzkrise von 2008 hat europaweit zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt bzw. zu Unterbeschäftigung mit prekärer Lohnarbeit im Niedriglohnsektor, eine Erhöhung der Erfahrung des Sozialen Abstiegs sowie von (Alters-)Armut; hierzu kommt die schwierige Wohnungslage sowie Einschnitte in der staatlich garantierten Gesundheitsversorgung sowie anderer Sozialstaatsleistungen (S. 107). Dies führt zu sozialem Stigma und workfare-Regimen, also Mechanismen wie solche der Agentur für Arbeit und vor allem des Jobcenters in Deutschland, wo unter hohen Sanktionen nicht- oder unterschäftigte Menschen zur Vollbeschäftigung gezwungen werden (ebd). Die „multidimensionale Krise des Neoliberalismus“ zeigt, wie selbst in Ländern mit recht niedriger Arbeitslosenquote – wie Deutschland, Dänemark oder den Niederlanden – die stark verbreitete Prekarität und Arbeitsunsicherheit (durch Outsourcing z.B.) zu „Gefühlen von Frustration und Machtlosigkeit“ führt, was zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen beiträgt (ebd.).

Der erstarkte Rassismus gegen Asylsuchende ist damit nicht einfach ein „irrationaler“ Hass am rechten Rand, sondern hat konkrete „psychologische, politische und wirtschaftliche Funktionen für einen Großteil der europäischen Bevölkerung“ (ebd.) und wird, wie Georgi überblicksartig zeigt, aktiv von europäischen Regierungen befördert, durch eine Reihe von Grenzregime- und Migrationsgesetzen, aber auch von einer nachweisbaren rassistischen medialen Stimmung von rechter und bürgerlicher Presse.

Ein Fehler, den nicht nur Georgi macht, besteht darin zu behaupten, die christdemokratische deutsche Regierung unter Angela Merkel hätte im Spätsommer 2015 die deutschen Grenzen für Asylsuchende geöffnet (S. 98). Was am 5. September 2015 geschah, nachdem es Tausende Asylsuchende mehrheitlich aus Syrien, Afghanistan, Kurdistan, dem Irak, dem Iran und Pakistan unter massiver medialer Begleitung gemeinsam über die Balkan-Route bis an die Deutsche Grenze schafften, war die Passivität der Deutschen Regierung: Auch wenn AfD und andere Rechte die aktive Schließung der deutschen Grenze forderten und sogar danach riefen, auf über die Grenze kommende Schutzsuchende zu schießen2, wusste Merkels CDU, dass dies zu einer unhaltbaren Krise des deutschen Regimes führen würde. Also tat sie nichts. Sie öffnete keine Grenzen, sondern schloss ihre Grenzen einfach nicht.

Für Südafrika wird das Konzept eines „Kolonialismus besonderen Typs“, welches von der bürokratischen und stalinisierten South African Communist Party (SACP) – früher Communist Party of South Africa – in der Koalition mit Nelson Mandelas African National Congress (ANC) angewendet wurde und ab den 1950er Jahren bereits Diskussionen um Rassismus in der südafrikansichen Linken dominierte, auseinander genommen (siehe S. 174ff und S. 209f). Khwesi Mabasa untersucht in seinem Beitrag „Demokratischer Marxismus und die Nationalfrage: Rasse und Klasse in Post-Apartheid-Südafrika“ (S. 173-193) warum die Theorie des „Kolonialismus besonderen Typs“ ein verheerendes Etappenmodell implizierte:

[…] das erste Ziel war es, die rassenbasierte Unterdrückung zu beseitigen und dann den Klassenkampf für eine sozialistische egalitäre Gesellschaft zu führen. Der revolutionäre Nationalismus wurde von dieser […] Strategie geleitet, die allgemein als Zwei-Etappen-Theorie bezeichnet wird (S. 175).

Diese Interpretation von Lenins Theorien zur Nationalen Frage von Seiten der stalinisierten Kommunistischen Parteien implizierte bald die Idee einer notwendigen National-Demokratischen Revolution, welche in abhängigen, halbkolonialen Ländern des Globalen Südens vor einer proletarisch angeführten sozialistischen Revolution passieren müsse (S. 176). Diese lineare und schematische Vorstellung zeichnet sich dadurch aus, dass ein national-demokratischer Kampf mit allen Fraktionen der nationalen herrschenden Klasse, der nationalen Kapitalist*innen, gegen die kolonialistische oder imperialistische Dominanz geführt werden müsse. Dieses Zwei-Etappen-Modell spielte auch die wichtigen Unterschiede und strategischen Uneinigkeiten in den Nationalen Befreiungsbewegungen kolonisierter Länder herunter. Im südafrikanischen Kontext entstanden somit zwei sich gegenüberstehende antirassistische Analysen und Kämpfe: eines für den Sozialismus und eines für einen nicht-rassistischen Kapitalismus.

Der erste legt den Schwerpunkt auf die Beseitigung des Kapitalismus, der vom rassenbasierten Autoritarismus und der Überausbeutung billiger Schwarzer Arbeit abhängig ist, während der zweite die Schaffung einer nicht-rassistischen Form des demokratischen Kapitalismus betont. Diese Perspektive betrachtet die Entstehung einer Schwarzen Bourgeoisie als fortschrittlich für die Entrassialisierung des Kapitalismus. Das Hauptziel besteht nicht darin, kapitalistische Produktionsbeziehungen zu überwinden, sondern darin ein politisches System zu etablieren, das dazu beiträgt, rassistische Vorurteile bei der Entwicklung des Kapitalismus in Südafrika zu beseitigen. Diese Sichtweise stimmt ironischerweise mit der Ideologie der liberalen politischen Ökonomie überein, die Rassismus als Hindernis für die objektive rationale Logik der kapitalistischen Entwicklung wahrnimmt (ebd.).

Die Theorie des „Kolonialismus besonderen Typs“ führte laut Mabasa in Südafrika dazu, dass die subjektiven politischen Interessen der südafrikanischen Arbeiterklasse in einem „Einheitskampf“ verschwanden, welcher schlussendlich nicht zu einer sozialistischen Revolution führte, sondern zum Übergang in eine „Regenbogennation“ mit verschärfter kapitalistischer Ausbeutung, immer noch verheerendem Rassismus gegen Nicht-Weiße und vermehrt gewalttätiger Hetze und Pogrome gegen Immigrant*innen aus anderen afrikanischen Ländern.

Insgesamt zeigt sich „Rassismus nach Apartheid. Herausforderungen für Marxismus und Antirassismus“ als spannendes Sammelband mit unterschiedlichen, über den gängigen US-Zentrismus marxistischer Rassismusanalysen hinausweisenden Untersuchungen. Schwachstellen stellen teils nicht haltbare Verallgemeinerungen dar, wenn zum Beispiel „orthodoxer Marxismus“ ins Feld geführt wird, was sich bei fast allen Autor/innen wiederfinden lässt. Hier wäre es ratsam, sich an konkreten Kategorisierungen verschiedener Strömungen zu üben, statt alle kommunistischen Parteien oder Gruppierungen bzw. marxistische Theoretiker*innen in einen Topf zu werfen. Auch weist keiner der Beiträge konkrete programmatische Perspektiven für Revolutionär*innen heute auf – so können die unterschiedlichen in diesem Sammelband präsentierten Analysen ohne weiteres auch in einem reformistischem Programm münden. Dies schmälert die starken politischen Analysen und wertvollen Kritiken nicht.

Vishwas Satgar (Hg.): Racism After Apartheid. Challanges for Marxism and Anti-Racism. Wits University Press, 2019. 254 Seiten, Open Access hier.

Fußnoten

1. Heidemann, Paul (Hg.): Class Struggle and the Color Line. American Socialism and the Race Question 1900-1930, S. 7.

2. Deutsche Welle: „Auf Flüchtlinge schießen!“, 30. Januar 2016.

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