Brexit: Ein Erdbeben erschüttert die Welt
Am Ende passierte tatsächlich das, was viele Umfragen, liberale Zeitungen und westliche Staatschef*innen für unmöglich gehalten hatten: Die Kampagne für das „Leave“ (Austreten), hauptsächlich von rechten und rechtsextremen Kräften vorangetrieben, besiegte „Remain“ (Bleiben). Die Europäische Union hat damit Großbritannien, die zweitgrößte Wirtschaft in der EU und seine wichtigste diplomatische und militärische Macht, verloren. Das Land hat auch die stärksten Verbindungen zu den USA.
Es ist noch zu früh, um die politischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Konsequenzen des britischen Austritts aus der EU vollständig zu verstehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gesamtfolgen dieses historischen Meilensteins sich in Etappen entwickeln werden. Der Ausgang wird aber die britische (und auch die europäische) politische Arena der nächsten Jahre bestimmen.
Unmittelbar sind wir aber in eine Periode eingetreten, die von Unsicherheit und politischer und wirtschaftlicher Instabilität geprägt sein wird. Die weltweiten Märkte sind eingebrochen. Der britische Pfund hatte nach dem Votum den größten Absturz an einem Tag seit 1985 (10 Prozent gegenüber dem Dollar). Premierminister David Cameron ist zurückgetreten. Er hatte das Referendum selbst anberaumt, um die interne Krise in seiner Partei zu lösen, und hatte für die „Remain“-Kampagne geworben. Jeremy Corbyn, der zum Labour-Parteichef gewählt wurde, um den linken Flügel der Labour-Partei wieder aufzubauen, steht vor großen Schwierigkeiten, wenn er im Amt bleiben will.
Separatistische Tendenzen in Schottland wurden erneut aktiviert, die die Weiterexistenz des Vereinten Königreichs in Frage stellen. Diese Tendenzen spalten sich nach Alter, Geographie und Klasse, im Kontext einer tiefen sozialen und politischen Polarisierung. Nationalistische und fremdenfeindliche rechtsextreme Gruppen sehen sich gestärkt. Der Mord an der Labour-Parlamentarierin Jo Cox durch einen Rechtsextremen war der tragischste und gewaltsamste Ausdruck dieser Polarisierung.
Auf der politischen Ebene beginnen die Schockwellen gerade erst. Der große Gewinner des Referendums war die UKIP, eine rassistische und fremdenfeindliche rechte Partei. Die Konservative Partei der Tories von David Cameron ist tief gespalten: Fast die Hälfte ihrer Mitglieder unterstützt den Brexit, was die Ersetzung von Cameron schwierig machen wird. Die Möglichkeit von Neuwahlen kann nicht ausgeschlossen werden.
Diese kurzfristigen Konsequenzen, so katastrophal sie scheinen mögen, sind nichts weiter als der Vorgeschmack auf die tiefen Widersprüche, die sich durch das Öffnen der Büchse der Pandora namens Brexit ergeben werden. Die meisten Ökonom*innen gehen davon aus, dass in Großbritannien, das trotz der eigenen Währung von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat, eine Rezession einsetzen wird. Großbritanniens wichtigster Absatzmarkt ist die EU, die 47 Prozent der britischen Exporte erhält. Wahrscheinlich wird Londons Rolle als Finanzzentrum für EU-Transaktionen stark sinken. Die Schockwellen des Brexit gefährden sogar die Weltwirtschaft.
Der Prozess der Abspaltung von der EU
Großbritannien muss nun auf der Grundlage von Artikel 50 des Lissabonner Vertrages den Prozess der Abspaltung von der EU beginnen. Dieser Artikel garantiert den unilateralen Austritt eines Mitgliedsstaates, auch wenn es dafür keine historischen Präzedenzfälle gibt. Technisch gesehen könnte das ein einverständnisvoll verhandelter Prozess sein, der bis zu zwei Jahre dauern könnte. Politisch jedoch ist es unklar, wie die EU-Kommission in Brüssel antworten wird. Es ist möglich, dass Deutschland und Frankreich versuchen werden, andere Länder vom Folgen des britischen Beispiels abzuhalten, indem sie den Prozess des Austritts aus der EU so schwierig und schmerzhaft wie möglich machen. Außerdem werden die Vertreter*innen Großbritanniens nicht mehr das Recht haben, die Treffen der 27 anderen Mitglieder zu besuchen, welche über sein Schicksal entscheiden werden, wodurch wahrscheinlich die Spannungen steigen werden.
Auf dieser Grundlage sind zwei Arten von Übereinkünften möglich: Eines ist das norwegische Modell – Großbritannien könnte Teil des Europäischen Wirtschaftsraums bleiben und den Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt behalten. Wie Norwegen würde Großbritannien wirtschaftliche Beiträge zum EU-Budget leisten und sich den Regulierungen des Binnenmarktes unterwerfen müssen, ohne über ihr Zustandekommen mitreden zu können. Außerdem müsste Großbritannien die Bewegungsfreiheit von EU-Bürger*innen akzeptieren.
Die andere Möglichkeit ist die Schaffung von Freihandelsabkommen oder die Regulierung durch die Welthandelsorganisation. Dieser Weg würde unzweifelhaft Exportzölle zur Folge haben und die finanzielle Rolle Großbritanniens mindern. Beide Optionen scheinen schlechte Optionen.
Die Krise der EU, bis hin zu ihrer möglichen Fragmentierung als Block, stellt ernsthafte geopolitische Probleme für die USA und den gesamten „Westen“ dar. Insbesondere ist der Brexit eine Niederlage für Obama, der aktiv für das „Remain“ geworben hatte. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU verliert die USA den direkten Einfluss auf die europäische Außenpolitik. Nun wird die USA eine privilegierte Beziehung zu einem isolierten Land haben, welches eine verringerte Rolle in den internationalen Beziehungen spielen wird (obwohl es eines der permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats ist und Atomwaffen besitzt). Außerdem war die EU mit britischem Einfluss eine der Pfeiler der Stabililät der USA und ein wichtiger Partner im „Krieg gegen den Terror“. Die EU wurde dafür benutzt, ein gewisses Level an Stabilität in den Konflikten im Nahen Osten zu erlangen, und seine wirtschaftlichen Sanktionen hielten Russland in Schach.
Der Brexit ist ein großer Schlag für die Europäische Union, die von vielen Analyst*innen als das ambitionierste Projekt der Bourgeoisie in der Ära nach dem Kalten Krieg angesehen wird.
Krise der imperialistischen Einheit Europas
Die kapitalistische Krise von 2008 hat die Risslinien der EU und des Versuches von Deutschland aufgezeigt, seine Hegenomie auf den gesamten Block auf Kosten der verschuldeten Länder und der peripheren Mächte auszuweiten. Diese fürchten den Verlust von Souveränität an die Brüsseler Bürokratie. Beispielhaft dafür steht Griechenland, das dazu verurteilt wurde, brutale Sparpläne unter Kontrolle der „Troika“ durchzusetzen, um innerhalb der Union bleiben zu dürfen.
Mit der massenhaften Ankunft von Geflüchteten aus Afrika und dem Nahen Osten, die vor den Kriegen zahlreicher EU-Mitgliederländer fliehen, verschärfte sich die Krise des europäischen Projektes weiter.
Diese auseinandertreibenden Tendenzen fanden ihren politischen Ausdruck in den euroskeptischen Parteien, vor allem der extremen Rechten, mit einem fremdenfeindlichen Programm gegen Geflüchtete und Migrant*innen. Diese befinden sich in einigen europäischen Ländern bereits in der Regierung oder sind dazu in der Lage.
Es gibt auch einen „linken Souveränismus“ (es gab sogar eine Kampagne von linken Gruppen für den Austritt von Großbritannien aus der EU), der sich besonders im Laufe der griechischen Krise entwickelte. Er ist jedoch wesentlich schwächer.
Im „souveränistischen“ Lager der Rechten befindet sich der Front National aus Frankreich, UKIP in Großbritannien, die Österreichische Freiheitspartei, die Alternative für Deutschland, die Wahren Finnen, die Schwedendemokraten, die Lega Norte und die Bewegung Cinque Estrella aus Italien, die die Bürgermeisterschaftswahlen in Rom und Turin gewannen, Jobbik in Ungarn, Goldene Morgenröte in Griechenland, etc.
Diese Welle reichte bis in die Vereinigten Staaten. Das sogenannte „Trump-Phänomen“ basiert auf den gleichen Bedingungen, die von der Großen Rezession geschaffen wurden, dem Hegenomieverlust der Globalisierung und dem neoliberalen Modell in breiten Schichten der Bevölkerung, vor allem den Sektoren der alten Industriearbeiter*innenklasse. Sie fürchtet, ihre Jobs zu verlieren und öffnet sich deshalb für einen Diskurs der „einfachen Lösungen“ wie dem Wirtschaftsprotektionismus und dem Nationalismus.
Mit Sicherheit wird der Sieg des Brexit diese demagogischen rechtsextremen Parteien. Doch die traditionellen konservativen und sozialdemokratischen Parteien sind daran nicht unschuldig. Sie haben mit ihrem staatlichen Rassismus, den wir in den letzten Monaten der Migrationskrise beobachten konnten, diese Monster zum Aufstieg geholfen. Aufnahmelager, Massenabschiebungen und ein Massengrab im Mittelmeer – all das wurde nicht von der extremen Rechten, sondern von den liberalen Regierungen, die die EU in eine Festung verwandelt haben.
Wenn wir die Situation der USA mit denen zahlreicher Länder der EU vergleichen, stellen wir fest, dass die Krise oder der Verfall der traditionellen Parteien sowie die soziale und politische Polarisierung nach rechts und links der neue „Zeitgeist“ zu sein scheinen. Dies könnte reiner Zufall sein, oder – wonach es eher aussieht – Ausdruck einer gemeinsamen Grundlage sein.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts theoretisierte der italienische Marxist Antonio Gramsci über die Auswirkungen des Scheitern einer großen Unternehmung der herrschenden Klasse. Dieses könnte eine Periode „organischer Krisen“ öffnen, die im Gegensatz zu den „konjunkturellen Entwicklungen“ grundlegende Widersprüche aufdeckt, die sich nicht durch die gewöhnliche Politik lösen lassen. Das führt dazu, dass breite Sektoren der Massen sich von den traditionellen politischen Vertretungen hin zu neuen Denkweisen wenden. Gramsci dachte dabei an einen Nationalstaat in den 20er-Jahren. Doch wenn wir die Unterschiede bei Seite stellen und uns die EU oder besser gesagt den Neoliberalismus als „große gescheiterte Unternehmung“ der Bourgeoisie der letzten Jahrzehnte, die mit der Großen Rezession seit 2008 in Krise geraten ist, vorstellen, können wir feststellen, dass diese oben beschriebenen Phänomene Ausdruck von Tendenzen einer organischen Krise sind.
Weder in der Zeit von Gramsci noch heute bedeutet dies notwendig einen Linksruck. Doch nur davon auszugehen, dass der Brexit ein dunkles Zeitalter von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Protektionismus öffnet wäre eine einseitige Sichtweise. Es gibt wichtige Gegentendenzen wie die kämpfende Arbeiter*innenbewegung in Frankreich, die Millionen Jugendlichen, die für Sanders in den US-Vorwahlen gestimmt haben und sich mit dem „Sozialismus“ identifizieren. Sie können das Panorama sehr schnell drastisch verändern. Dieser Kampf steht noch bevor.
Dieser Artikel auf Left Voice vom 28. Juni.