Breite linke Parteien sind eine Sackgasse

03.01.2023, Lesezeit 25 Min.
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Foto: Alexandros Michailidis / shutterstock.com

Syriza, Podemos und andere Parteien der breiten Linken sollten Sozialist:innen helfen, ihren Einfluss zu vergrößern. Die Bilanz ist jedoch ziemlich düster. Eine Debatte mit Tempest.

Es ist Jahrzehnte her, dass sich so viele Menschen in den Vereinigten Staaten als Sozialist:innen bezeichnet haben. Paradoxerweise fehlt diesen Millionen von Menschen jedoch eine unabhängige sozialistische Partei. Die größte sozialistische Organisation in den Vereinigten Staaten, die DSA, führt Kampagnen und stellt Kandidaten als Teil einer kapitalistischen und imperialistischen Partei auf.

Als revolutionäre Sozialist:innen müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um breite Schichten von Arbeiter:innen und jungen Menschen mit unseren Ideen zu erreichen. Wie können wir das am besten tun? Eine Idee, die seit vielen Jahren diskutiert wird, ist die Schaffung „breiter linker Parteien“, die verschiedene linke Strömungen zusammenbringen – die Reformist:innen und Revolutionär:innen (und manchmal sogar bürgerliche Nationalist:innen) vereinen. Diese Idee wurde vom Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale (USec) auf seinem Kongress 2003 vorgestellt, wo es „breite antikapitalistische Parteien“ forderte.1 Bei einer Online-Veranstaltung am 25. September zum Thema „Building the Revolutionary Left Today“ (Aufbau der revolutionären Linken heute) konzentrierte sich das Tempest-Kollektiv in den Vereinigten Staaten auf diesen Vorschlag. Es sprachen Vertreter der Sozialistischen Arbeiterbewegung (MST) aus Argentinien und der Anticapitalistas aus dem Spanischen Staat. Natalia Tylim, die für Tempest sprach, forderte den Aufbau revolutionärer Organisationen und gleichzeitig den „Aufbau breiterer Formationen“. Tylim fuhr fort: „Wir halten es für einen Fehler, die Erfahrungen der breiten Parteien mit einem Schlag zu verwerfen.“

Wir würden sicherlich zustimmen, dass die breiten linken Parteien, die in den letzten 10 oder 20 Jahren entstanden sind, mehr als nur einen Schlag verdienen! Für einen kurzen Moment repräsentierten neoreformistische Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos im Spanischen Staat die Hoffnungen einer Generation, die in der ständigen Krise des Kapitalismus aufgewachsen ist. Doch diese Parteien schlossen sich schnell kapitalistischen Regierungen an und verrieten ihre Anhänger:innen – was zu Enttäuschung, Demoralisierung und Entpolitisierung führte.

Links Antäuschen, rechts Abbiegen – für den Reformismus

Auf dem Tempest-Kongress 2021 hielt Aaron Amaral einen Vortrag über „Vier verschiedene Wege zur revolutionären Organisation„. In diesem Modell sind die vier Ansätze: 1) Wahlkampf; 2) Basisaufbau; 3) Sektierertum; 4) breite Linke. Da wir in unserer Ablehnung der Modelle eins und zwei grundsätzlich mit Tempest übereinstimmen, möchten wir über die Punkte drei und vier diskutieren. Für Marx war Sektierertum, wenn Sozialist:innen sich auf das konzentrierten, was sie von der breiteren Arbeiterbewegung trennte.2 Ist es also „sektiererisch“, wenn Sozialist:innen das Ziel einer breiten linken Partei, die Reformist:innen und Revolutionär:innen vereint, ablehnen?

Für Amaral kann eine „pauschale Ablehnung“ der breit angelegten Parteiexperimente der letzten paar Jahrzehnte nur zu sterilem Propagandismus führen. Der Genosse nennt keine Namen, verweist aber auf einen auf Left Voice veröffentlichten Artikel über das Scheitern von Syriza und Podemos. Was ist mit „pauschaler Ablehnung“ gemeint? Wenn eine neoreformistische Partei in der Lage ist, viele Tausend junge Menschen zu politisieren und zu begeistern, stimmen wir – natürlich – zu, dass Revolutionär:innen sich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Das bedeutet, gemeinsam für die Rechte der Arbeiterklasse und der Unterdrückten zu kämpfen, an der Seite von Mitgliedern und sogar Führer:innen neoreformistischer Parteien. Aber diese Art von Einheit in der Aktion erfordert nicht, dass wir in Parteien eintreten, deren erklärtes Ziel es ist, den kapitalistischen Staat zu verwalten.

Wir können an der Seite von Mitgliedern von Syriza, Podemos und ähnlichen Formationen arbeiten und mit ihnen diskutieren. Wir können Schulter an Schulter mit Mitgliedern reformistischer Organisationen bei Protesten für Abtreibungsrechte oder in gewerkschaftlichen Kämpfen stehen. Doch wir können und müssen auch ganz klar sagen, dass wir eine radikal andere Strategie verfolgen als Reformist:innen, die versuchen, Wahlen zu gewinnen, Koalitionen zu bilden und an der Regierung eines kapitalistischen Staates teilzunehmen.3 Sowohl in Syriza als auch in Podemos gab es revolutionäre sozialistische Gruppen, die beim Aufbau dieser neuen Parteien geholfen haben – nur um dann zu sehen, wie sie Sparmaßnahmen gegen ihre eigenen Wähler:innen anwenden. Das liegt daran, dass diese Parteien nie auf der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von der Bourgeoisie und ihren Staaten basierten. Infolgedessen können sie Aufschwünge im Klassenkampf nicht ausnutzen – die Führer:innen präsentieren sich ständig als potenzielle Verwalter:innen der herrschenden Klasse. Diese Art von Erfahrung kann die jungen Menschen, die ihre Hoffnungen in solche Projekte gesetzt haben, nur demoralisieren.

Eine breite linke Partei ist letztlich ein Euphemismus: Es bedeutet eine Partei, die Reformist:innen und Revolutionär:innen vereint. Um genauer zu sein, sprechen wir über reformistische Parteien, die von Revolutionär:innen unterstützt werden. Wir glauben zwar, dass Revolutionär:innen an allen Arten von Übergangsformationen teilnehmen können, aber wir müssen uns über unser Ziel im Klaren sein, für eine revolutionäre Partei zu kämpfen, die den Reformismus und die Bürokratien, die ihn aufrechterhalten, ablehnt. Das schließt jede Art von langfristiger politischer Unterstützung für reformistische angehende Minister aus.

Das mag alles abstrakt klingen. Schauen wir uns also diese beiden europäischen Fälle im Detail an, bevor wir zu zwei weiteren Fällen in Amerika übergehen.

Griechenland

Syriza wurde zu einer Massenbewegung, als die Arbeiterklasse in Griechenland Dutzende von Generalstreiks gegen die von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds auferlegte Sparpolitik durchführte. Der Parteivorsitzende Alexis Tsipras versprach, dass eine „linke Regierung“ die Austeritätspolitik durch einen Sieg an der Wahlurne beenden könne – ohne dass ein über eintägige Streiks hinausgehender Kampf der Arbeiterklasse erforderlich sei. Syriza war immer ein Wahlapparat ohne Massenbasis. Selbst als sie die Partei mit den meisten Stimmen in Griechenland war, hatte sie nie mehr als 30.000 Mitglieder auf dem Papier und eine minimale Präsenz auf der Straße. Die einzige Aktion, die die Partei ihren Anhängern vorschlug, war die Stimmabgabe.

Syriza gewann eine Wahl und bildete 2015 zusammen mit der Rechtsaußen-Partei ANEL eine Regierung. Ihre Versuche, ein besseres Abkommen mit der Troika – der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem IWF – auszuhandeln, scheiterten jedoch schnell. Am Ende setzten sie genau die Sparmaßnahmen um, für deren Stopp sie gewählt worden waren. Dies bedeutete nicht nur Angriffe auf den Lebensstandard und die Arbeitsrechte der Arbeiter:innenklasse in Griechenland – es war auch ein historischer Schlag für die Moral der Arbeiter:innen, die sich bis heute nicht von diesem Verrat erholt haben.

Was geschah mit den revolutionären Sozialist:innen, die Teil von Syriza waren und der Partei halfen, die Kontrolle über die Regierung zu erlangen? Die trotzkistische Gruppe Arbeiterinternationale Linke (DEA) war seit ihrer Gründung Teil von Syriza.4 DEA gewann zwei Sitze im Parlament als Teil der Syriza-Liste. Diese beiden stimmten für die Koalitionsregierung mit ANEL.

Ein halbes Jahr lang setzte die Syriza-Regierung verschiedene Sparmaßnahmen um. Dem Kabinett gehörten Persönlichkeiten des linken Flügels von Syriza an, wie z. B. Panagiotis Lafazanis, der als Minister für Energie und Bergbau für eine Reihe von umweltschädlichen Projekten verantwortlich war, die von der Polizei verteidigt wurden. Erst nach einem halben Jahr des Verrats spaltete sich der linke Flügel von Syriza, einschließlich der DEA, ab.

Sie gründeten eine neue Partei, die Volkseinheit (LAE), der es jedoch an Glaubwürdigkeit als linke Partei mangelte. Ihre wichtigste programmatische Forderung, weit entfernt von jeder Art sozialistischer Transformation, war der Austritt aus dem Euro und die Schaffung eines neuen Staates mit nationaler Währung – was für die Arbeiter:innen eine andere Form der Austerität bedeutet hätte. Die LAE scheiterte bei ihrer ersten Wahlprüfung mit weniger als drei Prozent der Stimmen und ist seitdem spurlos verschwunden. Das letzte Mal, als man Lafazanis sah, unterstützte er chauvinistische Demonstrationen gegen Mazedonien.

Das Problem war nicht, dass Tsipras und seine Minister:innen nicht hart genug mit der Troika verhandelten oder dass sie generell schlechte Menschen waren (auch wenn sie das waren). Das Problem war, dass sie immer eine Strategie verfolgten, die darauf basierte, Vereinbarungen mit dem Kapital zu treffen und den Klassenkampf zu befrieden – das war die Grundlage ihres Wahlkampfes. Und es gab keine Möglichkeit, diese Kampagne zu unterstützen und gleichzeitig eine völlig andere Strategie zu verteidigen.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die DEA, auch wenn sie sicherlich eine ziemliche Achterbahnfahrt des Reformismus erlebte, aus dieser ganzen Erfahrung mit weniger materiellen Kräften als zuvor hervorging. Diese kleine Gruppe hat vielleicht ein wenig Bekanntheit erlangt, indem sie auf dem Rücken einer reformistischen Partei ritt – aber sie konnte sich nicht von dem Verrat von Syriza und der verkommenen Politik von LAE distanzieren. Im Falle Griechenlands können wir sagen, dass die Unterstützung des Neoreformismus für revolutionäre Organisationen aktiv schädlich war.5

Spanischer Staat

Podemos im Spanischen Staat hatte einen ähnlichen Werdegang. Die neue linke Partei wurde 2014 von dem Universitätsprofessor Pablo Iglesias gegründet. Es war ein Versuch, die jugendliche Unzufriedenheit, die mit der 15M-Bewegung und dem Ruf Sie vertreten uns nicht auf öffentlichen Plätzen ausgebrochen war, in das Parlament zu tragen. Iglesias war sich darüber im Klaren, dass seine Strategie stets auf einer parlamentarischen Einigung mit der neoliberalen sozialdemokratischen Partei Spaniens beruhte. Die Partei hatte nie das Ziel, eine Rolle im Klassenkampf zu spielensie war eine Maschine zum Gewinnen von Wahlen.

Um eine Partei von Grund auf aufzubauen, erhielt Iglesias wertvolle organisatorische Hilfe von einer Gruppe namens Anticapitalistas, die mit dem USec verbunden ist. Innerhalb weniger Jahre konnte Podemos die Kontrolle über mehrere große Rathäuser gewinnen, darunter in Madrid und Barcelona. Im Jahr 2019 trat Podemos in einem Bündnis mit der Kommunistischen Partei und der Vereinigten Linken als Juniorpartner der Sozialdemokratie in die spanische Regierung ein.

Iglesias, der einst die „politische Kaste“ angeprangert hatte, wurde stellvertretender Premierminister eines imperialistischen Staates. Diese Regierung war verantwortlich für eine Reihe von Militärinterventionen in abhängigen Ländern, für die Fortsetzung der nationalen Unterdrückung des katalanischen Volkes und für die Vertreibung zahlloser Werktätiger aus ihren Häusern – eine ganz normale neoliberale Regierung mit einem „linken“ Mäntelchen. Anticapitalistas verließen Podemos kurz vor dem Eintritt der Partei in die nationale Regierung im Jahr 2019. Doch einen revolutionären Bruch haben sie nicht organisiert. Ganz im Gegenteil: Die Anführerin der Anticapitalistas, Teresa Rodriguez, erschien an der Seite von Iglesias in einem Video, in dem sie ankündigte, was die bürgerliche Presse als einvernehmliche Scheidung bezeichnete.

Andreu Coll, der auf der Tempest-Veranstaltung für die Anticapitalistas sprach, argumentierte, dass die Anticapitalistas durch den Aufbau einer Partei, die jetzt den spanischen Imperialismus mitverwaltet, stärker geworden seien. Aber stimmt das? Betrachtet man die Demonstrationen, Streiks, öffentlichen Veranstaltungen usw., so scheint Anticapitalistas seine militanten Kräfte seit den Tagen vor Podemos, als sie noch Izquierda Anticapitalista hießen, nicht erweitert zu haben. Coll erwähnte, dass Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Rodriguez und Miguel Urbans in der bürgerlichen Presse einen höheren Stellenwert haben. Das ist sicherlich richtig – aber sind diese Figuren nicht vor allem dafür bekannt, dass sie mit dem neoliberalen Minister Iglesias befreundet sind? Ähnlich kann man sagen, dass die DSA in den Vereinigten Staaten auch einige sehr bekannte Mitglieder hat – aber die Frage ist, wofür sie bekannt sind.

Im Sspanischen Staat hat Podemos die Hoffnungen einer ganzen Generation junger Menschen aufgenommenund sie böse enttäuscht. Dies ist der Kontext, in dem rechte Phänomene wie Vox wachsen können. Das Scheitern des Neoreformismus ermöglicht es Parteien wie Vox, sich als einzige Alternative zu einem „linken“ Establishment zu präsentieren. Mit anderen Worten: Parteien der breiten Linken sind nicht nur eine Sackgasse für Sozialist:innen, sondern können auch einen Weg für die Rechte eröffnen.

Schauen wir uns nun zwei ähnliche Erfahrungen auf den amerikanischen Kontinenten an.

Argentinien

Wenn wir von der Linken in Argentinien sprechen, werden Sozialist:innen hoffentlich an die Front der Arbeiter:innen und Linken (FIT) denken. Dieses trotzkistische Bündnis kann Tausende von Menschen auf der Straße mobilisieren – ihre Mitglieder führen Kämpfe von prekär Beschäftigten, Universitätsstudent:innen und armen Menschen ohne Wohnung aneinschließlich Streiks, die mit Fabrikbesetzungen und Produktion unter Arbeiterkontrolle endeten.

Die FIT hat bei den letzten nationalen Wahlen 1,3 Millionen Stimmen erhalten und vier Sitze im nationalen Kongress errungen, unabhängig von jeder bürgerlichen Partei. Wir von Left Voice sind seit langem der Meinung, dass die FIT ein inspirierendes Modell darstellt, das zeigt, wie sich Sozialist:innen auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit zusammenschließen können: Wir können Millionen von Menschen erreichen und gleichzeitig unabhängig von bürgerlichen und reformistischen Kräften bleiben. (Die FIT hat nie auch nur annähernd die Wahlergebnisse der neoreformistischen Parteien erreicht. Aber das liegt genau daran, dass die FIT nicht darauf abzielt, eine parlamentarische Mehrheit zu gewinnen. Das Ziel der Trotzkist:innen ist es, eine führende Rolle im Klassenkampf zu spielen.)

Die FIT ist keine breite linke Partei, da ihr keine Reformisten angehören. Aber es gab in Argentinien eine breite linke Partei, die wichtige Lehren über die Grenzen eines solchen Projekts bietet. Vor zwei Jahrzehnten, zum Zeitpunkt des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Argentiniens im Dezember 2001, der zu einem als Argentinazo bekannten Aufstand führte, war die Sozialistische Arbeiterbewegung (MST) die größte trotzkistische Organisation des Landes. Heute sind die Kräfte der MST stark geschwächt, und sie ist die drittgrößte Organisation im FIT-Bündnis. Von den vier Trotzkist:innen im nationalen Kongress sind drei von der Partei der Sozialistischen Arbeiter (PTS, der Schwesterorganisation von Left Voice) und einer von der Arbeiterpartei (PO). Keine:r von ihnen ist von der MST.

Es gibt viele Gründe für den Niedergang des MST, aber der wichtigste für diese Diskussion ist die breite linke Partei, die sie 2007 mit gegründet haben: Proyecto Sur. Diese neue Partei wurde von liberalen Persönlichkeiten wie dem Filmregisseur Pino Solanas geführt, aber die Aktivist:innen dieser nicht-sozialistischen Partei kamen aus zwei sozialistischen Gruppen: dem MST und der maoistischen PCR. Proyecto Sur konnte in den ersten Jahren einige Wahlerfolge verbuchen, ließ aber zunehmend sein linkes Profil fallen und ging im Mainstream-Liberalismus auf.

In der stark polarisierten Gesellschaft Argentiniens wurden die Galionsfiguren des Proyecto Sur schließlich von den beiden Hauptlagern der Bourgeoisie vereinnahmt. Die meisten landeten in der Mitte-Links-Regierung von Cristina Kirchner, einige wenige in der Rechtsregierung von Mauricio Macri. Aus diesem Grund war die MST bei ihrer Gründung 2011 nicht Teil der FIT. Erst als Proyecto Sur faktisch zusammenbrach, entdeckte die MST das Prinzip der Klassenunabhängigkeit.6 Nach dem Zusammenbruch von Proyecto Sur bewegte sich die MST etwas nach links. Es gab keine breite linke Partei, die man unterstützen konnte, und die FIT war mit ihrem Programm der Klassenunabhängigkeit sehr erfolgreich. Die MST schloss sich schließlich 2019 mit der FIT zur FIT-Unidad (Front der Linken und Arbeiter:innen – Einheit, FIT-U) zusammen, nachdem sie gezwungen war, ihre verbleibenden Bündnisse mit „progressiven“ und populistischen bürgerlichen Kräften auf lokaler Ebene aufzugeben. Argentinien ist wahrscheinlich das dramatischste Beispiel dafür, wie eine Strategie der breiten linken Parteien die Sozialist:innen daran gehindert hat, eine Einheit auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit zu schmieden.

Die Vereinigten Staaten

In den Vereinigten Staaten hat es in diesem Jahrhundert keine Partei gegeben, die einer breiten Linken ähnelt. Am nächsten kommen vielleicht die Democratic Socialists of America (DSA), eine große sozialistische Organisation mit vielen verschiedenen Tendenzen. Aber die DSA ist in eine bürgerliche Partei integriert und daher nicht mit Syriza, Podemos oder ähnlichen Projekten zu vergleichen. Um es klar zu sagen: Parteien der breiten Linken bieten keine Klassenunabhängigkeit – sie haben Programme, die zur Vereinigung mit Sektoren der Bourgeoisie aufrufen. Aber zumindest sind sie organisatorisch unabhängig von den Parteien der herrschenden Klasse, auch wenn sie politisch nicht unabhängig sind. Die DSA müsste mit der Demokratischen Partei brechen, um so etwas wie eine breite linke Partei zu sein.

Der jüngste Skandal um DSA-Kongressmitglieder, die sich auf die Seite der Biden-Regierung geschlagen haben, um den nationalen Eisenbahngewerkschaften einen Vertrag aufzuzwingen, hat zu einer gewissen Krise in der Organisation geführt. Viele Mitglieder stellen diese streikbrecherischen Aktivitäten und ganz allgemein die Wirksamkeit einer Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei infrage. Dies bedeutet, dass es für revolutionäre Sozialisten wichtiger denn je ist, für einen politischen und organisatorischen Bruch mit allen bürgerlichen Parteien einzutreten.

Eine weitere US-amerikanische Erfahrung, die breit und links zu sein schien: Von den späten 1990er Jahren bis 2016 unterstützten viele US-Sozialisten die Grüne Partei. Die strategische Hypothese war, dass die Grüne Partei in eine breite linke Partei und schließlich in eine wirklich sozialistische Partei auf der Grundlage der Arbeiterklasse umgewandelt werden könnte.

Ab dem Jahr 2000 setzten sich die International Socialist Organization (ISO) und die Sozialistische Alternative (SAlt) enthusiastisch für den Präsidentschaftskandidaten der Grünen Partei ein. Ralph Nader, ein Verbraucherschützer und Kritiker der Konzernherrschaft, inspirierte einen Teil der jungen Menschen, die von den beiden bürgerlichen Parteien die Nase voll hatten. Dennoch unterstützte er stets ausdrücklich den Kapitalismus, und seine Partei stützte sich auf Aktivist:innen aus der Mittelschicht, ohne organische Verbindung zur Arbeiter:innenbewegung7. Nach seiner Niederlage im Jahr 2000, als viele seiner Anhänger glaubten, sie hätten versehentlich zur Wahl von George W. Bush beigetragen, rückte Nader nach rechts. Die Grüne Partei stellte zunehmend peinliche Kandidat:innen wie Cynthia McKinney und Jill Stein auf, die nichts mit Sozialismus zu tun hatten. Doch die ISO und die SAlt setzten sich weiterhin für sie ein – auch wenn führende Mitglieder unter vier Augen zugaben, dass sie dies nur taten, weil sie glaubten, für jemanden stimmen zu müssen.

Als Bernie Sanders seine Kandidatur für die Vorwahlen der Demokratischen Partei im Jahr 2016 ankündigte, erhielt er weit mehr Unterstützung, als irgendjemand, auch er selbst, erwartet hatte. Dies stellte die ISO und SAlt vor ein Dilemma: Sie hatten immer den sozialistischen Grundsatz verteidigt, weder Republikaner noch Demokraten zu unterstützen. Aber jetzt, wo sie sich für Ralph Nader und sogar für Jill Stein eingesetzt hatten, warum nicht auch für Sanders? Er verfolgte die gleiche reformistische Politik wie die Grünen, war aber etwas radikaler und weitaus populärer. Die prinzipielle Opposition zur Demokratischen Partei klang hohl.

Die SAlt revidierte ihre langjährige Position – und schloss dabei mehrere hundert Mitglieder aus. Mit ihrem #BernTurn begannen sie, für progressive Demokrat:innen zu werben. Die ISO brach 2019 zusammen, sodass es schwer zu sagen ist, wie sich ihre Politik entwickelt hätte. Ihre Führung war zwar zu Recht gegen Sanders, aber sie hatte sich mit ihrer Unterstützung für „grüne“ bürgerliche Kandidaten entwaffnet. Einige dieser ehemaligen ISO-Führer:innen haben sich inzwischen für die Sozialdemokrat:innen in der Demokratischen Partei ausgesprochen.

Eine grüne Partei war nie eine Option für Sozialist:innen. Wie sich in jedem Land gezeigt hat, in dem grüne Parteien erfolgreich waren, sind sie keine Instrumente, um die Massen dem Sozialismus näherzubringen – sie sind bestenfalls Instrumente, um Sozialist:innen in die bürgerliche Politik zu ziehen.

In den Vereinigten Staaten müssen die Sozialist:innen für mehr als nur eine „dritte Partei“ kämpfen. Die Abspaltung von den Demokraten und Republikanern ist ein wichtiger Schritt, aber als Programm völlig unzureichend – fragen Sie nur Ross Perot oder Pat Buchanan! Sozialist:innen sollten für eine Partei der Arbeiterklasse eintreten, die für den Sozialismus kämpft. Bei einer solchen Partei würde es nicht darum gehen, die meisten Stimmen zu gewinnen. Vielmehr geht es bei einer Arbeiter:innenpartei darum, unsere Kämpfe mit einer Strategie zur Überwindung des Kapitalismus zu vereinen. Dazu gehört auch die Teilnahme an Wahlen – aber nur als Mittel zum Aufbau revolutionärer Fraktionen innerhalb der Arbeiter:innenklasse, um Millionen in den Kampf führen zu können.

Der Kampf um Klassenunabhängigkeit

Wir könnten weitere Beispiele aufzählen, bei denen die Strategie der breiten Linken kaum mehr als ein Vorwand war, um eine reformistische Regierung eines kapitalistischen Staates zu unterstützen: Brasilien, Portugal, Dänemark usw. 7. Aber anstatt diesen Artikel noch länger zu machen, können wir sagen, dass die Bilanz der breiten linken Parteien düster ausfällt – sowohl für die Arbeiter:innenklasse als Ganzes als auch für den revolutionären Sozialismus.

Sozialist:innen sollten mit dieser gescheiterten Strategie brechen. Wir sollten nicht für die Einheit mit Reformisten in Form von Parteien der breiten Linken eintreten. Genosse Amaral von Tempest könnte sagen, dass uns dies zu sterilem Propagandismus und zur Isolierung von realen politischen Kämpfen verdammen würde. Aber wir glauben nicht, dass dies der Fall ist. Überall in den Vereinigten Staaten gibt es eine Welle von Aktivitäten der Arbeiter:innenklasse, und die Generation U macht sich wenig Illusionen über die Streikbrecher:innen der Demokratischen Partei. Es ist an der Zeit, für eine Arbeiter:innenpartei zu agitieren, die für die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse kämpft – und nicht nach reformistischen Verbündeten zu suchen, um eine Partei aufzubauen, die den kapitalistischen Staat zu verwalten versucht. Unsere begrenzten Erfahrungen als kleine Publikation, die relativ neu in der US-Linken ist, weisen in dieselbe Richtung: Wir waren in der Lage, Initiativen für große Demonstrationen und Streiks zur Verteidigung der Abtreibungsrechte zu ergreifen – in Zusammenarbeit mit Genoss:innen von TempestSAlt, der DSA und vielen anderen Organisationen. Die konsequente Ablehnung von Sanders, den Demokraten, der Grünen Partei und des Reformismus ist kein Hindernis, um Teil einer breiten Mobilisierung zu sein.

Neoreformistische Parteien sind nicht das einzige Mittel, um Sozialisten zu vereinen. Die Front der Arbeiterlinken (FIT) in Argentinien hat gezeigt, dass sich verschiedene sozialistische Gruppen auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit zusammenschließen können: Anstatt den kapitalistischen Staat zu regieren, ist das Ziel der FIT eine Arbeiter:innenregierung. Dieses Modell ist in Argentinien am erfolgreichsten gewesen, aber nicht nur dort. In Chile zum Beispiel bildeten sozialistische Gruppen eine Front für die Einheit der Arbeiter:innenklasse (FUCT), um einen sozialistischen Gegenpol zur Regierung von Gabriel Boric zu schaffen, der seine Anhänger verriet, sobald er an die Macht kam. Ähnliche revolutionäre sozialistische Projekte wurden auch in Mexiko (FIA) und Brasilien (PSR) ins Leben gerufen.

Eine Arbeiter:innenpartei, die für den Sozialismus kämpft, lässt sich nicht einfach dadurch aufbauen, dass man verschiedene sozialistische Gruppen unter einem gemeinsamen Banner vereint. Aber eine solche Taktik kann nützlich sein, um ein unabhängiges sozialistisches Programm auf nationaler Ebene sichtbar zu machen. Sozialist:innen können sich auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit vereinigen – genau dazu rufen wir die Genoss:innen von Tempest und andere Sozialist:innen auf. Das wird in den Vereinigten Staaten mit ihren unglaublich undemokratischen Gesetzen und ihrer relativ schwachen sozialistischen Tradition nicht einfach sein. Aber wir können erste Schritte unternehmen, indem wir Sozialist:innen zusammenbringen, um für eine antikapitalistische und sozialistische Alternative für die Arbeiter:innenklasse zu agitieren, ohne die vielen politischen Differenzen zu verbergen, die wir haben.

Das ist zwar schwierig, aber weitaus realistischer, als gemeinsam mit Reformist:innen eine weitere breite linke Partei zu gründen und zu hoffen, dass sie nicht zu einer weiteren Katastrophe führt. Anstatt die Einheit mit reformistischen Bürokrat:innen und „grünen“ Kapitalist:innen zu suchen, sollte das Ziel eine Partei der Arbeiter:innenklasse sein, die für den Sozialismus kämpft.

Fußnoten

1. Fourth International, “Role and Tasks of the Fourth International” 2003.

2. „Die Sektierer sehen die Begründung ihrer Existenz in einem „Punkt der Ehre“ – nicht in dem was sie mit der Bewegung der Klasse gemeinsam hat, sondern welche Parole sie besonders davon trennt.“ – Karl Marx, “Brief von Marx an Schweitzer in Berlin” 13 Oktober, 1868.

3. Als ein sehr konkretes Beispiel: Ich half dabei ein Treffen zwischen dem trozkistischem Arbeiter Rául Goday in Athen 2013 zu organisieren. Hauptsächlich wurde dieses von der Syriza Jugend getragen, was Goday jedoch nicht daran hinderte Syrizas Reformismus zu kitisieren. Ähnlich haben wir Kreise in Podemos unterstüzt, welche fpr eine klare revolutionäre Politik eingetreten sind.

4. DEA wurde aus der Internationalen Sozialistischen Tendenz (IST) 2001 ausgeschlossen und war die inoffiziellen Schwersterorganisationen der Internationalistischen Szialistischen Organisation (ISO) in den Vereinigten Staaten.

5. Eine interessante Randnotiz ist, dass die Sozialistische Alternative aus Australien seit langem die Strategie der breiten Linken kritisiert – und insbesondere das katastrophale Projekt RESPECT, das von der Socialist Workers Party in Großbritannien gestartet wurde. Dennoch macht SAlt-Führer Mick Armstrong eine Ausnahme für SYRIZA und argumentiert, dass es für Revolutionäre richtig war, SYRIZA zu unterstützen, bis lange nachdem die Partei eine kapitalistische Regierung gebildet hatte. Sein Argument ist, dass die DEA „in der Lage war, erheblich zu wachsen“. Dies ist schlichtweg falsch. Jeder kann eine Demonstration in Athen besuchen oder in den sozialen Medien nachschauen, um zu sehen, dass die DEA heute eine sehr kleine Gruppe ist – und deutlich kleiner als zu der Zeit, als sie sich von der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands (SEK) abspaltete. Und selbst wenn die DEA gewachsen wäre, würde das rechtfertigen, die Fahne einer Partei zu schwenken, die für immer mit reformistischem Verrat in Verbindung gebracht werden wird? Armstrong lobt außerdem die Volkseinheit (LEA), die linksnationalistische und reformistische Partei, die vom ausgeschlossenen linken Flügel von SYRIZA gegründet wurde, als neues Vehikel für Sozialisten, um Masseneinfluss zu gewinnen. Doch die Volkseinheit ist inzwischen völlig verschwunden. Armstrong lehnt das antikapitalistische Bündnis ANTARSYA, zu dem auch die SEK gehört, wegen seiner schlechten Wahlergebnisse ab. Aber ANTARSYA hat trotz zahlreicher Schwächen eine politische Alternative zum Reformismus dargestellt. Armstrongs generell solide Kritik an der Strategie der breiten Linken wird durch seine unverständliche Unterstützung für das allerschlimmste Beispiel einer solchen Partei untergraben. Dies lässt sich wahrscheinlich durch die internationalen Verbindungen der SAlt erklären: SAlt und DEA wurden etwa zur gleichen Zeit aus der IST ausgeschlossen, obwohl sie sich in sehr unterschiedliche Richtungen bewegten. Die SAlt hat auch „Beobachterstatus“ in zwei internationalen Strömungen, die reformistische Parteien unterstützen, der USec und der MST aus Argentinien. Siehe: Mick Armstrong, „The broad left party question after Syriza„, Marxist Left Review, Nr. 11, Sommer 2016.

6. Ein weiterer wichtiger Faktor war 2008 der Aufstand der Großgrundbesitzer gegen die Regierung Kirchner. Die MST betrachtete dies als „Bauernaufstand“ und erklärte ihre Unterstützung. Die sozialistischen Gruppen, die die FIT bildeten, erkannten dagegen, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen bürgerlichen Fraktionen handelte. Für eine längere Diskussion hierüber und allgemein über den Beitritt der MST zur FIT siehe: Octavio Crivaro und Matías Maiello, „A Short History of the Workers Left Front„, Left Voice #5. Für eine Diskussion darüber, wie Sektoren der trotzkistischen Linken von den Bürokratien vereinnahmt werden, siehe: Matías Maiello und Fernando Scolnik, „Which Way Forward for the Trotskyist Left?“ Left Voice, 18. Juli 2019.

7. Um es ganz offen zu sagen: Meine erste politische Erfahrung als Teenager in Texas war eine Kampagne für Nader. Nach dem kläglichen Scheitern seiner Kampagne suchte ich nach radikaleren Alternativen und war froh zu sehen, dass eine Reihe von sozialistischen Gruppen sich geweigert hatten, Nader wegen seiner pro-kapitalistischen Ansichten zu unterstützen.

8. Es gibt auch den Fall der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich. Diese ist jedoch nicht gerade eine breite linke Partei, da sie von verschiedenen antikapitalistischen Kräften gegründet wurde und keine offenen Reformisten einschließt. Die NPA befindet sich derzeit in einer Krise, gerade weil ihre Führung versucht, sich mit nicht-revolutionären Kräften zu vereinigen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 11. Dezember 2021 bei Left Voice.

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