Brasilien: Kommt Temer zum G20-Gipfel oder muss er davor gehen?
Als einer von 20 Staatschefs ist auch der brasilianische Präsident Michel Temer eingeladen. Doch eine neue Krise seiner Regierung stellt infrage, ob er sich bis dahin überhaupt noch im Amt halten wird.
In nicht einmal zwei Monaten findet der G20-Gipfel in Hamburg statt. Doch einer der geladenen Gäste kann sich in diesen Tagen nicht sicher sein, ob er das Treffen der 20 mächtigsten Staats- und Regierungschefs besuchen wird. Noch vor wenigen Monaten sah die Situation für den brasilianischen Präsidenten Michel Temer ganz anders aus.
Zwar rief er aufgrund seines Programms, das aus Privatisierungen, Entlassungen und Kürzungen besteht, und der illegitimen Form, mit der er sich in die Präsidentschaft putschte, von Beginn an den Unmut der Massen hervor. Doch beim internationalen Finanzkapital, den imperialistischen Regierungen und der brasilianischen Bourgeoisie galt er als Messias, der mit seinen unbeliebten Reformen das Land aus der größten Krise seit den 30ern ziehen könnte. Auch die deutschen Konzerne, von denen schon jetzt 1.400 in Brasilien angesiedelt sind und durch enge Verbindungen und Abkommen Rohstoffe und Arbeiter*innen ausbeuten, setzten große Hoffnungen in Temer.
Was ist also passiert, dass der Präsident zu solch drastischen Äußerungen wie dieser greifen muss: „Wenn sie wollen, können sie mich niederreißen, denn wenn ich zurücktrete, ist das ein Schuldeingeständnis.“?
Direkter Auslöser der aktuellen Krise ist die Veröffentlichung von Aussagen des Unternehmers des weltweit größten Fleischverarbeiters JBS, nach denen Präsident Temer über Jahre hinweg Schmiergelder von insgesamt 15 Millionen US-Dollar erhielt. Noch brisanter ist jedoch die Aufnahme eines Gesprächs zwischen dem Unternehmer und Temer aus diesem Jahr, in dem Temer seinen Gesprächspartner dazu auffordert, mit der Zahlung von Schweigegeld an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha weiterzumachen.
Schon lange fanden Untersuchungen gegen Temer wegen des Korruptionsverdachts und Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampagne 2014 gemeinsam mit Ex-Präsidentin Dilma Rousseff statt. Doch solch direkte Beweise kamen bisher noch nicht an die Öffentlichkeit.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist keineswegs zufällig. Vielmehr kommen in ihm tiefgründige Entwicklungen innerhalb der Klassen zusammen. Ein Teil des Kapitals, der bürgerlichen Presse, der Justiz und der konservativen Parteien – allesamt Stützen der Temer-Regierung – sieht in ihm nicht mehr den Garanten für die notwendige Stabilität, um den Privatisierungs- und Sparplan durchzusetzen.
Das lässt sich nur verstehen, wenn man die Bedeutung des größten Generalstreiks der letzten Jahrzehnte vom 28. April erkennt. Denn es handelte sich nicht, wie noch beim Streiktag am 15. März, um eine teilweise Stilllegung des Landes. Ganze Industriezweige und Branchen wurden lahmgelegt. im Industriegürtel um São Paulo, wo zahlreiche multinationale Konzerne wie General Motors, VW, Daimler oder Basf angesiedelt sind, lag die Beteiligung bei 80 Prozent. Zudem handelte es sich nicht um ein vereinzeltes Aufflackern der Kampfbereitschaft, sondern ist nur der Höhepunkt einer Reihe von massiven Mobilisierungen und Bewegungen von Arbeiter*innen, Jugendlichen und Frauen.
Der Motor der Mobilisierung war neben der allgemeinen Unbeliebtheit der Regierung, die aus rechten Klerikern, Erzkonservativen, Unternehmenschefs und korrupten Politikern besteht, die zudem ausschließlich weiß und männlich sind, die Reformpläne des Arbeitsmarktes und des Rentensystems. Auf dem Arbeitsmarkt sollten Entlassungen vereinfacht werden, sowie die schon jetzt beschlossene Ausweitung des Outsourcings auf alle Branchen. Zudem sollen durch massive Entlassungen und der Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe, darunter der halbstaatliche Ölkonzern Petrobras und die Wasserbetriebe von Rio de Janeiro, die Lohn- und Arbeitsverhältnisse nach unten gedrückt werden. Die Rentenreform sieht eine Anhebung des Renteneintrittsalters von 55 auf 65 Jahre vor. Eine Rente, von der die Wenigsten überhaupt anständig leben können.
Die Infragestellung einer illegitimen Regierung mit einem brutalen Kürzungsprogramm, die von einem passiven Unmut zu einer aktiven Massenbewegung auf der Straße und in den Betrieben umschlug, war für die Bourgeoisie eine Warnung. Deshalb haben sich Teile des politischen, juristischen und wirtschaftlichen Establishments, die Temer stützen, dazu entschieden, auf eine neue Figur zu setzen, die das gleiche unbeliebte Programm durchsetzen soll.
Diese Putschist*innen, die heute den Rücktritt von Temer fordern, treten für indirekte Wahlen an. Es würde also der aktuelle Parlamentspräsident Rodrigo Maia, der die unsozialen Angriffe unterstützt, oder ein anderes Mitglied der politischen Kaste wie der Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso der neoliberalen PSDB durch die Wahl der mehrheitlich korrupten Abgeordneten als Interimspräsident gewählt werden, der bis zu den regulären Wahlen 2018 die Regierungsgeschäfte übernimmt.
Eine andere Fraktion des Establishments, vertreten von der ehemaligen Regierungspartei PT von Dilma Rousseff (2010-2016) und Lula (2003-2010) und der Gewerkschaftsbürokratie der CUT, setzt auf direkte Neuwahlen. Damit wollen sie dem angeschlagenen System eine neue Legitimität verleihen, um die gleichen arbeiter*innenfeindlichen Reformen durchzuführen, jedoch gemischt mit sozialem Antlitz. In der aktuellen Situation hätte Ex-Präsident Lula große Chancen auf eine Neuwahl, doch in seiner Zeit als Präsident hat er genauso wie seine Nachfolgerin Dilma die neoliberalen Privatisierungen und Reformen der 90er nicht angetastet und die Privatisierung und Öffnung des Landes für imperialistische Konzerne vertieft.
Innerhalb der sich mobilisierenden Massen finden jedoch auch antikapitalistische Ideen einen immer größeren Anklang. Die Revolutionäre Arbeiter*innenbewegung (MRT, Herausgeberin von Esquerda Diário, Teil des gleichen internationalen Zeitungsnetzwerks wie Klasse Gegen Klasse) stellt sich gegen die beiden bürgerlichen Lösungen der Krise, die entweder einer korrupten politischen Kaste die Entscheidungsgewalt geben oder nur die Figuren austauschen, die Struktur des Systems aber intakt lassen.
Deshalb fordern sie die Einberufung einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung, die sofort die Reformen von Temer zurücknimmt und darüber hinaus alle an Korruptionsskandalen beteiligten Unternehmen – zu denen so gut wie alle Großunternehmen gehören – unter Arbeiter*innenkontrolle verstaatlicht. Eine Versammlung, die mit dem Imperialismus bricht und die Zahlung der Auslandsschulden ablehnt, allen Nicht-Beschäftigten einen Job gibt und die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich reduziert und einen Plan zum massiven Ausbau des Bildungswesens, des Gesundheitssystem und dem öffentlichen Wohnungsbau beschließt, sowie Notprogramme gegen die sexualisierte Gewalt und die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung durchführt.
Eine solche verfassungsgebende Versammlung kann nur durch die aktive Massenmobilisierung gestützt werden, weshalb ein unbefristeter Generalstreik bis zum Sturz von Temer nötig ist sowie die Gründung von Komitees in Fabriken, Unternehmen und Schulen und Universitäten, die diesen Streik sowie weitere Aktionen planen und koordinieren.
Aktuell ist unklar, ob Temer im Juli noch im Amt ist, oder ob ein*e andere*r verhasste*r Politiker*in die Interessen der brasilianischen Bourgeoisie in Hamburg vertreten wird. Klar ist jedoch, dass die Massen im Verlauf der Ereignisse eine wichtige Rolle spielen können. Dafür ist es notwendig mit einer unabhängigen und klassenkämpferischen Perspektive in die politische Krise zu intervenieren, um sie zu ihren Gunsten auszunutzen, den korrupten Regierungen der Kapitalist*innen ein Ende zu setzen und eine revolutionäre Arbeiter*innenregierung der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufzubauen.
In Deutschland ist es wichtig, diesen Kampf zu unterstützen und die deutschen Konzerne und die Merkel-Regierung für die Unterstützung der neoliberalen und korrupten Temer-Regierung anzugreifen. Ein solches anti-imperialistisches Programm, dass sich gegen den deutschen Imperialismus als Hauptfeind der Arbeiter*innen in Deutschland, Brasilien und weltweit stellt, gilt es auch im Hinblick auf den G20-Gipfel und auf den Gegenprotesten zu verteidigen.