Brasilien: Der Putsch und der Untergang des Nach-Diktatur-Regimes

30.04.2018, Lesezeit 10 Min.
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Der Putsch und der Bruch mit der Legalität normaler bürgerlicher Mechanismen, sowie die wachsende Macht in den Händen nicht gewählter Akteur*innen, sind grundlegende Tendenzen einer "organischen Krise" (Gramsci).

Der institutionelle Putsch in Brasilien war ein Bruch mit der bürgerlichen Legalität und eine partielle Antwort auf die „organische Krise“, d.h. auf eine Krise des Staates als Ganzes, die wirtschaftliche, soziale und politische Krisen umfasst. Zu der politischen Gelegenheit kam die wirtschaftliche Gelegenheit, im Land und auf dem Kontinent das Ende des Zyklus der sogenannten „post-neoliberalen“ Regierungen zu nutzen, um die Rückkehr eines altersschwachen Neoliberalismus zu ermöglichen. Das heißt, eine Offensive von Privatisierungen und Angriffen auf soziale und Arbeitsrechte, aber ohne dass diese Offensive eine nachhaltige geopolitische Basis hätte, die die Schaffung einer Hegemonie erleichtern könnte. Es handelt sich um ein Wirtschaftsprogramm von äußerst geringer Legitimität, wodurch die Eigendynamik des Putsches weiter an Schwung gewinnt.

Der institutionelle Putsch ist eine Form des „Staatsstreiches“: Er ist eine Art, die zentrale Exekutivgewalt umzuformen (oder den Aufstieg zu ihr zu verhindern), durch schnelles, koordiniertes Handeln einer politischen Minderheit mit eigenen Klasseninteressen oder einer Fraktion einer Klasse ohne Rechtsgrundlage, d.h. eine politische Aktion, die die Legalität bricht. Der institutionelle Putsch ergibt sich dann, wenn es keine aufstrebende Arbeiter*innenbewegung gibt, die angesichts des Bruchs der Legalität für die Bourgeoisie die Notwendigkeit schafft, gegen die Arbeiter*innen physische Gewalt anzuwenden.

Ein „Staatsstreich“ (ob institutionell oder militärisch) ist kein einziger Akt, sondern ein Prozess, wie Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte zeigte. Verschiedene Akteure handeln nach ihren Interessen, und der Staatsstreich muss immer wieder mit neuen Maßnahmen durchgesetzt werden, die die Legalität brechen, da der Putsch zu Reaktionen „von unten“ führen könnte – solange, bis eine Stabilität oder gar Hegemonie hergestellt werden kann.

Diese theoretische und historische Sichtweise hilft, die Prozesse der Kontinuität des Putsches und seine Aspekte des Bruchs mit der Legalität normaler bürgerlicher Mechanismen zu beleuchten. Mehr Macht wird in die Hände von nicht gewählten Akteuren wie den Kirchen, den Medien, der Justiz und der Armee gelegt. Das ist eine der grundlegenden Tendenzen dessen, was Gramsci als „organische Krise“ bezeichnet.

Wie bilden sich diese Situationen des Zwiespalts zwischen Repräsentierten und Repräsentanten heraus, die sich vom Terrain der Parteien aus (Parteiorganisationen im engeren Sinn, parlamentarisch-wahlbezogenes Feld, journalistische Organisation) im ganzen Staatsorganismus widerspiegeln und die Machtposition der (zivilen und militärischen) Bürokratie, der Hochfinanz, der Kirche und allgemein aller von den Fluktuationen der öffentlichen Meinung relativ unabhängigen Organe stärk? – A. Gramsci, Gefängnishefte, Heft 13, §23

Es kommt zu einer Verschiebung des Zentrums der bürgerlichen Macht: von der Exekutive und der Legislative zur Justiz, dem Militär und anderen „nicht stimmberechtigten“ Akteuren (wie dem Finanzkapital). Sie stellen sich immer mehr die Frage, wie viel von ihrem Programm sie unter Beachtung der Wahlurne erreichen können. Dies zeigt sich in Erklärungen von besorgten Ökonom*innen wie Zeina Latif von XP Investments, oder Pedro Malan und ihrer Artikelserie über die strukturellen Schwierigkeiten, die bürgerliche Demokratie mit den Interessen des Marktes zu verbinden, oder sogar des ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique und seinem Pessimismus gegenüber der Wähler*innenschaft.

Die Verschiebung der Macht auf nicht gewählte Akteure hat die am Ende der Diktatur 1988 entstandene bürgerliche Machtverteilung gestört und der brasilianischen Krise „institutionelle“ Elemente hinzugefügt. Die institutionellen Probleme selbst spiegeln das Ende einer Hegemonie wider, die auf Klassenversöhnung beruhte. Die Krise, die mit dem Ende der Hegemonie unter Lula da Silva entstand, und das „Noch nicht“ einer neuen Hegemonie sprengten den langen Prozess des Übergangs von der Diktatur zur bürgerlichen Demokratie.

Das politische und institutionelle Arrangement von 1988

Die 1985 einberufene Verfassungsgebende Versammlung trat erst 1986 zusammen – sieben Jahre nach der Amnestie, die Folterer und Folteropfer gleich machen sollte, und sechs Jahre nach der Niederlage des historischen Metallstreiks von 1980. Diese Rahmenbedingungen zeigen auf, warum versucht wurde, die Verfassungsgebende Versammlung so weit wie möglich vom Einfluss des heißen Atems des Klassenkampfes fern zu halten. Dante de Oliveira, Initiator des 1984 gescheiterten Antrags auf Direktwahl des Präsidenten, schreibt in seinem Buch, dass wichtige Akteure des Militärregimes Angst vor einer Verfassungsgebenden Versammlung hatten, die durch die Massenbewegung Anfang der 1980er Jahre durchgesetzt werden sollte.

Die institutionelle Ausgestaltung der Verfassungsgebenden Versammlung zeigte die Kontinuität des alten Regimes. Die Delegierten waren nicht nur die 1986 gewählten Abgeordneten und Senator*innen gemeinsam mit den 1982 gewählten Senator*innen, sondern auch die Mehrheit der von niemandem gewählten Senator*innen, die 1978 inmitten der Diktatur durch indirekte Wahlen eingesetzt wurden. Neben unzähligen Manövern zur Vermeidung von Reformen, die die Kräfteverhältnisse gefährdet hätten, wurde die Verfassungsgebende Versammlung zusätzlich direkt vom Militär überwacht. Es wurde sogar der Abgeordnete Bernardo Cabral entführt, um seine Zustimmung dazu zu erzwingen, dass der Verfassungstext die Befugnisse der Streitkräfte garantiert, in die Politik einzugreifen, die so genannte „Garantie von Recht und Ordnung“ (Artikel 144).

Trotz der klaren Bemühungen, die Verfassungsgebende Versammlung zu vereinnahmen, brachte sie am Ende auf verzerrte Weise einige der vom Klassenkampf durchgesetzten Errungenschaften zum Ausdruck. Sie garantierten sozialen Rechte, wie jene auf universelle und kostenfreie Gesundheit und Bildung, sowie eine Reihe von Mechanismen, um zu gewährleisten, dass diese Rechte zumindest eine gewisse Existenzgrundlage haben. So wurden zum Beispiel verpflichtende finanzielle Mittel für diese Bereiche festgelegt. Schon damals sagten die am stärksten gefestigten bürgerlichen Sektoren und ihre Fürsprecher*innen, dass die dort geforderten Rechte unmöglich durchzusetzen seien, dass sie reformiert und beseitigt werden müssten. Genau das ist es, was die großen Zeitungen, die imperialistische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und das statistische Organ der Regierung, IPEA, heute wiederholen.

Andererseits hat diesselbe Verfassungsgebende Versammlung dazu beigetragen, die materiellen Kräfte einer politischen und wirtschaftlichen Oligarchie zu festigen, die mit ihren Radio- und Fernsehsendern Teil des „große Zentrums“ waren. Das „große Zentrum“ – die Allianz der rechten bürgerlichen Parteien in der Verfassungsgebenden Versammlung – verfolgte das Ziel der Aufrechterhaltung einer politischen und wirtschaftlichen Oligarchie aus Zeiten der Diktatur. Es besaß in der Verfassungsgebenden Versammlung eine Mehrheit mit Vetomacht über alles, was die Interessen des Militärs, der Großgrundbesitzer*innen und der Kapitalist*innen angreifen würde. José Serra , ein Bourgeois, der Teil des „progressiven“ Flügels der Verfassungsgebenden Versammlung war, hat folgenden berühmten Satz geprägt: „Das große Zentrum war nicht die Rechte, es war Rückständigkeit.“

Das institutionelle Arrangement von 1988 stellte die Exekutive in den Mittelpunkt, um die sozialen Konflikte dieser „Rückständigkeit“, die Unterwerfung unter den Imperialismus und gleichzeitig den von unten kommenden Druck auf mehr Rechte zu vermitteln. Dafür musste die Exekutive das Gesicht des Regimes sein. Es wurde also so gestaltet, dass sie – supermächtig – noch von der Diktatur vermachte Befugnisse besaß, wie z.B. provisorische Änderungen (Dekrete), die automatisch in Gesetze umgewandelt wurden, und eine Befugnis, einen Teil des Haushalts ohne die Kontrolle der Legislative frei zu verwenden.

Gleichzeitig richtete die Verfassungsgebende Versammlung die Zeitbombe des „juristischen Bonapartismus“ ein: Es wurde ein weit verzweigtes Justizministerium gebildet (das „Ministério Público Federal“, MPF), das nur durch selbst kontrolliert wird – ein Prozess, der von der Verfassungsgebenden Versammlung und dem damaligen Abgeordneten Temer geleitet wurde. Im Zuge dieser Stärkung der Justiz wurde auch die Staatsanwaltschaft in eine eigenständige und unabhängige Macht umgewandelt. Da niemand im MPF zur Rechenschaft gezogen werden kann – außer von seinen Kolleg*innen im Nationalrat des Justizministeriums –, muss jeder, der sich an die Generalstaatsanwaltschaft der Republik wendet, den verschiedenen internen Flügeln die Ehre erweisen. Das erklärt, wie eine Frau wie Raquel Dodge aus der politischen Kaste, ernannt von Temer und unterstützt von Richter Gilmar Mendes, trotzdem die juristische Operation „Lava Jato“ des MPF befürwortet, wie in den neuen Ermittlungen gegen Temer. Dieser „Lava Jato“-Flügel wird durch gesetzliche Bestimmungen noch weiter gestärkt, die einen Teil des Geldes, das von korrupten Geschäftsleuten zurückgegeben wird, direkt in die Taschen der MPF und der Richter*innen spülen.

Entgegengesetzte Tendenzen: die Kontinuität des Putsches und seine Krisen

Neunundzwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung ist nur noch wenig von ihrem Regime übrig geblieben. Die Krise der Regierung von Dilma Roussef bot auch eine Gelegenheit für die Legislative und die Justiz, das Gewicht der Exekutive zu schwächen und die Regelungen für die Umsetzung von Dekreten zu ändern. Sie werden nun nicht mehr automatisch Gesetz, wie es noch in den Regierungen von Fernando Collor, Fernando Henrique und Lula geschah. Dies wiederum zwang das Regime, größere „semi-parlamentarische“ Merkmale anzunehmen, um die Regierung aufrechtzuerhalten.

Dieses „semi-parlamentarische“ Arrangement wird durch die innere Fragmentierung aller Parteien und des Kongresses als Ganzem erschwert. Die Parteien werden immer weniger national und mehr zu einem Konglomerat von regionalen Parteien mittlerer Größe, die sich jeweils um einen „Häuptling“ scharen.

Diese Züge sind mit Zahlen belegbar: Während die Wahlen von 1989, die als eine der fragmentiertesten in der Geschichte galten, zur Wahl von elf Parteien mit jeweils mehr als zehn Abgeordneten führten, wurden bei den Wahlen von 2014 16 Parteien mit jeweils mehr als zehn Abgeordneten gewählt. Zudem sank die durchschnittliche Zahl der Abgeordneten der „großen“ Parteien. Die Summe der fünf größten Parteien (PMDB, PSDB, PT, DEM, PP) machte 1998 72% des Parlaments aus, und heute beträgt die Summe der fünf größten Parteien (einschließlich der PT) miserable 48%. Die größte Partei im Jahr 2018, die PT, mit ihren 58 Abgeordneten, hat nur noch fast halb so viel wie die größte Partei im Jahr 1989, die PMDB mit 108.

Die Wahlprognosen zeigen eine Tendenz zur gleichen oder stärkeren Fragmentierung im Jahr 2018. Das wird die gewählte Regierung, wie auch immer sie sein mag, zu einer notwendigen komplexen Zusammensetzung mit dem Parlament zwingen. Dies bringt zunehmende Aushandlungsprozesse mit sich. Zu nennen sind da berüchtigte Fälle wie zuerst mit Fernando Henrique (unter anderem der Kauf von Abgeordneten, um ihre Wiederwahl zu sichern), dann mit dem während der Regierungszeit Lulas als „Mensalão“ bekannt gewordenen Bestechungsskandal, jene in der Krise der Regierung von Dilma Roussef und ganz zu schweigen vom offenen Kauf von Abgeordneten durch Temer. Dadurch wird die potenzielle Schwäche einer neuen Regierung, welche sie auch immer sein mag, um einen doppelten Aspekt gesteigert: eine größere Zersetzung ihres Bildes in den Augen der öffentlichen Meinung, und die zunehmende Abhängigkeit vom Kongress.

Im gleichen Zeitraum der letzten 29 Jahre machte die Justiz einen Sprung nach vorn, um ein großer politischer Akteur zu werden. Ein Akteur, der die Verfassung entsprechend seinen eigenen Interessen interpretiert, krümmt und bricht, um unabhängig zu werden und sich in die verfassungsmäßigen Befugnisse der Exekutive und der Legislative einzumischen: Wer kann Minister*in sein oder nicht, wer stellt illegale Mandate in Frage oder nicht, und wer kann oder kann nicht eine Begnadigung des Präsidenten erhalten. Der Oberste Gerichtshof (STF), der von der Verfassungsgebenden Versammlung entworfen wurde, ist auf Lebenszeit bis zum obligatorischen Rentenalter (75 Jahre) festgelegt, sodass Richter*innen, die jung ernannt werden, jahrzehntelang an der Macht bleiben können. Zum Beispiel hat Richter Moraes noch 26 Jahre im Amt, Toffoli 25 und Gilmar Mendes, der bereits vor 16 Jahren ins Amt kam, noch 13 Jahre im Amt. Der Dekan Celso de Mello ist seit 29 Jahren an der Macht und hat noch 3 Jahre im Amt.

Das Militär hat sich in den letzten Jahren, insbesondere seit der Regierungskrise von Dilma, von einem Zuschauer wieder zu einem politischen Akteur mit eigenem Gewicht entwickelt. Es hat eine Politisierung der Streitkräfte gegeben, die es seit dem Ende der Diktatur nicht mehr gegeben hat. Angesichts der Schwächen des juristischen Bonapartismus haben sie gehandelt, um diese Macht zu bedrohen und die „Lava-Jato-Fraktion“ innerhalb dieser Macht zu stärken.

Es gibt keinen Mangel an Akteuren und Tendenzen, die miteinander in Konflikt geraten können. Jede*r sieht sich selbst als „Retter*in des Vaterlandes“, was sich in die von unten wahrgenommene Unordnung der Institutionen und eine Krise der Hegemonie übersetzt. Dieser Zusammenprall der Institutionen allein ist ein weiterer Faktor für die Verschärfung der organischen Krise und die Tendenz zum Staatsstreich als „Prozess“. In dem Röcheln und den Trümmern des Regimes von 1988 (das aber noch nicht tot ist), wird der Kampf um die Vorherrschaft so lange weitergehen, bis sich eine neue Hegemonie inmitten der zunehmenden Angriffe auf die Arbeiter*innen und ihre sozialen und politischen Rechte herausbildet. Doch die Zusammenstöße zwischen denen an der Spitze und ihren Institutionen öffnet den Weg für die Untersten. Eine analytische Hypothese, die das strategische Handeln darauf ausrichtet, dass diese Möglichkeit umgesetzt werden kann.

Dieser Artikel bei Esquerda Diário und La Izquierda Diario.

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