Brasilien: Der Bolsonarismus kann nur unabhängig von der Lula-Regierung besiegt werden

01.11.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Isaac Fontana / Shutterstock.com

Lula hat die Wahlen in Brasilien mit einem geringen Vorsprung gewonnen, aber seine Regierung tritt dem Vormarsch der Rechten nicht wirklich entgegen. Ein brasilianischer Sozialist beschreibt den Kampf, der vor den Arbeiter:innen und der Linken des Landes liegt.

Luis Inácio Lula da Silva wurde mit einem schmalen Stimmvorsprung zum Gewinner der Präsidentschaftswahlen am Sonntag in Brasilien erklärt: Weniger als zwei Prozentpunkte trennen ihn und Jair Bolsonaro. Der ultra-rechte bisherige Amtsinhaber verbesserte sein Wahlergebnis im Vergleich zur ersten Wahlrunde am Anfang des Monats deutlich.

Die ärmsten Einwohner:innen des Landes, die besonders in der nordöstlichen Region leben, verbinden die neoliberale Ultra-Rechte mit der enormen Krise im Land, die sich aus der verheerenden Coronapandemie, weit verbreiteten Hunger und Arbeitslosigkeit zusammensetzt.

Bolsonaro ist der erste Präsident seit Ende der Diktatur, welcher nicht zu einer zweiten Amtszeit gewählt wurde. Sowohl Joe Biden als auch Emmanuel Macron und Olaf Scholz gratulierten Lula telefonisch zum Sieg, womit sie die Unterstützung des US-amerikanischen und des europäischen Imperialismus für die neue Regierung der PT (Partei der Arbeiter) signalisierten.

Lula errang über 60 Millionen Stimmen, während Bolsonaro knapp über 58 Millionen bekam. Der Chef der PT gewann im Vergleich zur ersten Wahlrunde somit 3 Millionen Stimmen hinzu, während Bolsonaro über 7 Millionen zulegte, was erneut zeigt, dass das Land sich in einer reaktionären politischen Situation befindet. Bolsonaros Verbündete gewannen zudem die Mehrheit im Kongress.

Im Bundesstaat Minas Gerais gelang es Bolsonaro, Lulas Stimmvorsprung wesentlich zu verringern. Lula gewann im ersten Wahlgang mit 500.000 Stimmen, im zweiten jedoch mit unter 30.000. In der Region São Paolo schlug Bolsonaro Lula in der ersten Runde mit 1,7 Millionen, in der zweiten mit 2,6 Millionen Stimmen. Sowohl in der Hauptstadt São Paolo als auch in Bahia wurde Lulas Vorsprung um 200.000 Stimmen im Vergleich zur ersten Runde verringert. Der Nordosten des Landes blieb eine Hochburg für Lula – er erreichte ein ähnlich hohes Wahlergebnis wie in der ersten Runde.

Lula hat bereits jetzt erklärt, dass seine Regierung „keine PT-Regierung sein wird“. Tatsächlich plant er zusammen mit Simone Tebet, Marina Silva, Geraldo Alckim und anderen Personen der Rechten oder gemäßigten Rechten zu regieren. Bei seiner Pressekonferenz wiederholte er einen Kurs der nationalen Einheit und der Verhandlung mit den traditionellen Parteien und Staatsinstitutionen, wie etwa der Armee, während er die Idee von zwei getrennt existierenden Brasiliens zurückwies. Er betonte, dass „dies kein Sieg der PT, sondern der enormen demokratischen Bewegung, die über die politischen Parteien hinausgeht“ sei und versicherte der Presse, dass er mit „jedem Gouverneur oder Bürgermeister unabhängig von ihrer politischen Partei“ verhandeln wolle.

Der PT-Chef sprach davon, dass das Land mehr Demokratie benötige, mehr religiöse Freiheit, ein Ende von Rassismus und Vorurteilen, sowie erhöhte Löhne im Angesicht der steigenden Inflation etablieren müsse. Trotzdem gab er zu, dass er in einem „sehr schwierigen politischen Moment“ regiere und somit um Geduld mit seiner Regierung bete, die der Rechten sicherlich viele Zugeständnisse machen wird. Er sendete zudem bewusst Grüße an Papst Franziskus und zitierte mehrere Bibelpassagen.

Lula forderte, starke Wirtschaftsbeziehungen zu den USA und Europa wieder zu etablieren, ohne China zu erwähnen. Er verurteilte die desaströse Umweltpolitik Bolsonaros, ohne jedoch auf die hochgradig zerstörerische Agrarindustrie einzugehen. „Wir sind nicht interessiert an einem Krieg über die Umwelt“, erklärte er, „aber wir sind bereit, [den Amazonas] zu verteidigen“.

In einem so gespaltenen Land wird Lula gezwungen sein, in einer Situation extremer politischer Polarisierung zu regieren, wobei ein erstarkter rechter Flügel und eine geerbte Wirtschaftskrise bestimmend sind.

Bolsonaros Unterstützer:innen unternahmen zahlreiche Versuche, die Wahlergebnisse zu manipulieren. Zum Beispiel behinderten sie Lula-Unterstützer:innen dabei, zu den Wahlstationen zu gelangen, womit sie Bolsonaros Kampagne weiter diskreditierten. Im Nordosten, wo 27 Prozent der Stimmberechtigten leben und Bolsonaro besonders verhasst ist, operierten die föderale Eisenbahnpolizei und die Armee, um Menschen am Wählen zu hindern. Der Chef der Eisenbahnpolizei erklärte am Wahlabend öffentlich seine Unterstützung für Bolsonaro, was diese Aktionen sogar noch skandalöser macht.

Diese Versuche der Wähler:innenunterdrückung haben die Auszählung im Nordosten und in mehreren Städten, wo Lula im ersten Wahlgang vorne lag, beeinflusst. Es war ein neues Beispiel dafür, wie die repressiven Kräfte des Staates, in dem die äußerste Rechte großen Einfluss hat, in die brasilianische Politik intervenieren. Dem Militär wurde zudem durch ein Urteil des rechten Richters Alexandre des Moraes und des Obersten Wahlgerichts das Recht zugesprochen, die Auszählungen zu überwachen.

Es ist unbedingt notwendig, dass wir diese Drohungen seitens der Ultra-Rechten mit Streiks und Aktionen am Arbeitsplatz bekämpfen, ohne uns auf die Gerichte zu verlassen. Diese Gerichte waren für die Rückkehr der Rechten an die Macht seit 2016 verantwortlich und sind für uns keine Verbündeten. Auf jeden Versuch seitens Bolsonaro, die Wahlergebnisse anzuzweifeln oder einen Coup auszuführen, müssen wir auf den Straßen reagieren und von den großen Gewerkschaften fordern, das Land lahmzulegen!

Der Bolsonarismus wird eine starke Kraft sowohl auf der Straße als auch im Kongress bleiben, während Bolsonaro sein gutes Abschneiden nutzen wird, um die Opposition gegen die Regierung Lulas und Alckmins anzuführen. Unterdessen zeigen die Ergebnisse, dass die „breite Front“ von Lula und Alckmin zusammen mit Teilen der Rechten die extreme Rechte nicht von einem Vorrücken abhalten konnte – im Gegenteil: Sie goss noch Öl ins Feuer.

Die Kampagne Lulas versprach, all die rechtsgerichteten Konter-Reformen der letzten Jahre, darunter auch die Reform der Arbeit und der Renten von 2016, die von den großen Unternehmen unterstützt wurden, beizubehalten. Er hat somit offensichtlich die konservative Agenda Bolsonaros übernommen. Als Beweis dafür erklärte Lula, dass er das Recht auf Abtreibung nicht unterstütze – er will stattdessen den Kongress entscheiden lassen – und er richtete einen Brief an evangelikale Führungspersonen, in dem er versprach, sie in die Entscheidung der Regierung einzubinden.

Wir teilen den Hass auf Bolsonaro, den die Arbeiter:innen und die Jugend empfinden, die die Rechten an den Wahlurnen zurückgewiesen haben und jetzt das Ende seiner Präsidentschaft feiern. Gleichzeitig ist es notwendig, sich klarzumachen, dass es nicht möglich sein wird, den Bolsonarismus gemeinsam mit dem rechten Flügel zu bekämpfen, wie Lula und die PT es tun. Lulas Regierung wird Kompromisse mit der Rechten schließen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, gegen den Bolsonarismus und die rechten Attacken seit 2016 komplett unabhängig von der Regierung und mit einer Organisierung der Basis zu kämpfen.

Der Startpunkt für diesen Kampf muss sein, all die von der Rechten durchgesetzten Konter-Reformen, von denen das Kapital profitiert, in die Tonne zu treten. Es ist notwendig, für eine Verringerung der Arbeitswoche auf 30 Stunden ohne Lohnkürzungen und für eine Verteilung der Stunden zwischen den Arbeitenden und den Arbeitslosen zu kämpfen.

Dieser Kampf ist essentiell für den Aufbau einer unabhängigen, proletarischen, sozialistischen Alternative, welche die einzige Kraft sein kann, die den Krisen ein Ende setzt und die Ultra-Rechte ein für allemal auf den Müllhaufen der Geschichte wirft!

Ursprünglich veröffentlicht auf Portugiesisch am 31. Oktober in Esquerda Diário

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