Boykott bis zur Befreiung?

23.02.2024, Lesezeit 10 Min.
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Bild: Maxi Schulz

BDS und ähnliche Boykott-Kampagnen versuchen ein Ende von Genozid, Apartheid und Besatzung in Gaza zu erwirken, indem sie zivilgesellschaftlichen Druck auf Regierungen und Konzerne ausüben. Welches Subjekt ist tatsächlich in der Lage, Palästina zu befreien?

Die Kampagne Boycott, Divestment and Sanction (BDS) ist eine der einflussreichsten Kräfte in der globalen pro-palästinensischen Bewegung. Zahlreiche Prominente wie die Musiker:innen Roger Waters, Tom Morello und Lauryn Hill, die Schriftsteller:innen Annie Ernaux und Sally Rooney sowie Akademiker:innen wie Ilan Pappe und Judith Butler unterstützen die Kampagne öffentlich. Im Zuge des Genozids in Gaza konnte BDS noch einmal viele Unterstützer:innen dazugewinnen, was sich auch am rasanten Wachstum ihrer Social-Media-Kanäle zeigt. Erklärtes Ziel ist, wie der Name sagt, den israelischen Staat durch den Boykott israelischer Produkte, die Auferlegung von Sanktionen und den Abzug von Investitionen politisch und ökonomisch zu isolieren. So sollen Apartheid und Kolonialismus bezwungen werden. 

Die BDS-Kampagne wurde 2005 von 170 palästinensischen Organisation, darunter Gewerkschaften, Frauenorganisationen und Geflüchtetennetzwerken ins Leben gerufen. Sie stellt drei Hauptforderungen auf, die der israelische Staat umsetzen soll:

“1. Die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes beenden und die Mauer abreißen. Das Völkerrecht erkennt die West Bank, einschließlich Ostjerusalem, Gaza und die syrischen Golanhöhen als von Israel besetzt an;

2. Das Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger:innen Israels auf völlige Gleichheit anerkennen;

3. Die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektieren, schützen und fördern.”

Die grundsätzliche Legitimität des israelischen Staates wird von BDS nicht in Frage gestellt, ihre Kritik beschränkt sich auf bestimmte Gesetze und Praktiken. So wird umgangen, dass der Zionismus nicht vom Siedlerkolonialismus gereinigt werden kann, sondern dieser für ihn konstituierend ist. Begründet werden die Forderungen von BDS mit dem Verweis auf das Völkerrecht, welches in den UN-Verträgen festgeschrieben wurde.

Die Kampagnen von BDS zeigen durchaus Wirkung, so deuteten H&M und Starbucks etwa im vergangenen Jahr an, sich aufgrund von eingebrochenen Umsätzen aus ihren Geschäften in Marokko zurückziehen zu wollen. Auch geopolitisch steht der israelische Staat vor einigen Herausforderungen. Infolge der massiven Unterstützungswelle für die palästinensische Sache haben Länder in ganz Afrika ihre Beziehungen zum Apartheidstaat verringert oder abgebrochen. Die Zeitung Le monde diplomatique schrieb: „In Dakar, Kaduna und Kapstadt bekunden die Menschen derweil in großen Demonstrationen ihre Solidarität mit Palästina. Wohin die Diskrepanz zwischen den Völkern und ihren politischen Vertretern führen wird, ist noch nicht absehbar. Aber eines ist schon jetzt sicher: Der Krieg in Gaza hat den israelischen Bemühungen um eine Normalisierung seiner Beziehungen mit dem afrikanischen Kontinent einen schweren Schlag versetzt”.

Die Kampagne hat auch seit Anbeginn ihrer Existenz viel Gegenwind erfahren, insbesondere in Westeuropa und den USA. Der deutsche Bundestag verabschiedete 2019 eine Resolution, in der die BDS als antisemitisch eingestuft wurde. Im US-amerikanischen Senat wurde der sogenannte „Combating BDS Act” verabschiedet, der staatliche Institutionen zum Boykott der Boykottbewegung zwingen soll. Der Staat und auch pro-imperialistische Linke gehen immer wieder gegen Unterstützer:innen der Kampagne vor und schließen diese von Veranstaltungen und öffentlichen Räumen aus. Sie tun dies im Gleichschritt mit dem israelischen Staat, der ebenso vehement gegen die Kampagne vorgeht. Als Yossi Kuperwasser 2009 zum Generaldirektor des Ministeriums für strategische Angelegenheiten ernannt wurde, verwandelte er diese in seine Kommandozentrale „für den Kampf gegen BDS”, wie er es formulierte.  

Neben der prominenten BDS-Bewegung gibt es noch viele weitere ähnliche Initiativen. Beispielsweise „Strike Germany”, bei der prominente Künstler:innen und Intellektuelle zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen aufrufen. So kündigte Philosoph:in und Genderforscher:in Judith Butler kürzlich an, den Verkauf deren Bücher in Deutschland verbieten zu wollen. Ebenso wurde der berühmte Berliner Technoclub Berghain infolge der Absage des Auftritts eines palästinensischen Künstlers zum Ziel von Boykottaufrufen. Diese Initiativen haben teilweise unterschiedliche Forderungen, im Kern aber einige Gemeinsamkeiten, auf welche wir uns in diesem Artikel konzentrieren wollen. 

Das Völkerrecht als Ausweg?

Die Taktik des Boykotts ist eine Form des zivilgesellschaftlichen Protestes, bei dem Staatsbürger:innen durch öffentlichkeitswirksame Aktionen Druck auf Regierungen und Unternehmen ausüben, um ihre Beziehungen mit (in diesem Falle) Israel zu verändern. Indem sich Regierungen und Unternehmen dem Boykottprogramm anschließen, soll wiederum die israelische Regierung gezwungen werden, zu reagieren.

Anstatt dass die Aktivist:innen in den offenen Kampf mit Staat und Kapital treten, sollen diese dazu bewegt werden, auf die Belange der Zivilgesellschaft einzugehen und gleichzeitig gemahnt ihrer eigenen „Pflicht”, der Umsetzung des internationalen Rechts, nachzukommen. Dabei beziehen sich die Aktivist:innen häufig auf das Prinzip der Gewaltfreiheit. Diese Rhetorik mag nützlich sein, um etwa in akademischen Kreisen salonfähig zu sein und werden. Das Beschwören der Gewaltfreiheit bedeutet jedoch ein Ausweichen vor den objektiven Erfordernissen des Kampfes um Befreiung. Die Forderungen nach einem Ende der Kolonisierung und des Rückkehrrechts der palästinensischen Diaspora stehen in direktem Widerspruch zu den Zwecken des israelischen Staates und den imperialistischen Regierungen der USA, Großbritannien und der führenden EU-Staaten. Diese verfügen mit Armee, Geheimdiensten und Polizei über ungemeine Machtmittel, um ihre Interessen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Eine Strategie, die diese entscheidende Tatsache außer Acht lässt, ist langfristig zum Scheitern verurteilt.

Die Kraftlosigkeit des internationalen Rechts wird aktuell an der schmerzhaften Folgenlosigkeit des IGH-Urteils deutlich. Südafrika stellte einen Eilantrag beim Internationalen Strafgerichtshof (IGH) in Den Haag, der an die Vereinten Nationen (UN) angegliedert ist. In ihrem Urteil forderten sie den israelischen Staat auf, alle genozidalen Handlungen zu unterlassen, Aufstachelung zum Genozid zu verhindern und humanitäre Hilfe für die Bewohner:innen Gazas zu gewährleisten. Doch anstatt seine Methoden zu mäßigen, verschärft Israel den Völkermord, bereitet eine weitere Bodenoffensive vor und bombardiert Rafah. Die Stadt war der letzte mögliche Zufluchtsort in Gaza, in ihr leben nun etwa 1,5 Millionen Palästinenser:innen. Die humanitäre Lage ist katastrophaler denn je, die Hungersnot verschärft sich und die medizinische Versorgung ist kollabiert. 

Die IGH-Klage war bei weitem nicht der erste Versuch, Israel über den Weg des internationalen Rechts Einhalt zu gebieten. Der UN-Menschenrechtsrat hat zwischen 2006 und 2023 Israel 103 Mal wegen Nicht-Einhaltung der Menschenrechte verurteilt – ohne spürbare Auswirkungen. 

Die imperialistischen Zentren, deren Einfluss durch ihre ökonomische und militärische Stärke weit über die eigenen Landesgrenzen hinausgeht, protegieren Israel ungeachtet aller Völkerrechtsverletzungen. Dies bedeutet nicht, dass andere Staaten das Völkerrecht und die Menschenrechte grundsätzlich konsequent befolgen würden. Die Kritik der Regierungen vieler nicht-westlicher Länder an Israels Vorgehen entspringt nicht aus einem genuinen Kampf gegen Unterdrückung, sondern eigenen strategischen Erwägungen. Wenn sich das Völkerrecht mit den Interessen von Staaten deckt, wird es gerne als moralische Rechtfertigung herangezogen, wenn dies nicht der Fall ist, wird es geflissentlich ignoriert. Jegliche Hoffnungen in ein eigenständiges fortschrittliches Potenzial des internationalen Rechts sind also fehlgeleitet.

Welche Strategie für die Befreiung?

Die BDS-Kampagne hebt sich positiv von anderen zivilgesellschaftlichen Protestformen ab, indem sie bei der Ökonomie ansetzt und damit die materielle Grundlage des Regimes angreifen will. Allerdings liegt der Fokus häufig auf der Ebene des Konsums. Dabei ist die viel zentralere Ebene die der Produktion. Diese entzieht sich zu großen Teilen der Kontrolle der Konsument:innen. Dadurch, dass bestimmte Produkte weniger gekauft werden, werden beispielsweise Thyssenkrupp, Boeing und Elbit Systems nicht aufhören, Waffen für den Genozid zu produzieren. Innerhalb der BDS-Bewegung gab es aber sehr fortschrittliche Aktionen, die über Konsumverweigerung hinausgingen und wegweisend für die Bewegung als Ganzes sein sollten. Dazu zählt die Block the Boat-Kampagne, bei der Hafenarbeiter:innen in verschiedenen Ländern dem Aufruf palästinensischer Gewerkschaften folgten und israelische Handelsschiffe blockierten.

Die Schwäche des Boykott-Ansatzes besteht in der Beantwortung der Frage, wer das Subjekt der politischen Veränderung ist. Diese ist unklar und meist läuft es darauf hinaus, dass die Regierungen kapitalistischer Staaten, Unternehmensführungen und die Abstraktion des internationalen Rechts diese Rolle spielen sollen. Dahinter steht ein falsches Verständnis von staatlichen Institutionen. Diese sind eben keine neutralen Plattformen, in denen gleichberechtigt die Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zur Geltung kommen können. Sie verfolgen ein bestimmtes Interesse: den Schutz des kapitalistischen Eigentums und die Sicherung von möglichst günstigen Bedingungen für die Kapitalakkumulation. Die bestehenden Staatsapparate können nicht einfach mit ausreichendem zivilgesellschaftlichem Druck in Akteure der progressiven Veränderung umfunktioniert werden, denn sie sind Instrumente in den Händen der herrschenden Klasse. Und für genau diese herrschende Klasse, die großen Konzerne und Banken, vertreten von der politischen Führungsriege der imperialistischen Staaten, ist das Fortbestehen des israelischen Apartheid- und Kolonialregimes unverhandelbar. Dies lässt sich beispielsweise am Predigen der deutschen Staatsraison oder auch der Dämonisierung einer pazifistisch geprägten Kampagne wie BDS klar erkennen. Der Grund dafür liegt nicht etwa in falschen Überzeugungen über den Schutz jüdischen Lebens, sondern in dem objektiven Interesse des westlichen Imperialismus, für den Israel als Brückenkopf in der Mashriq–Region überaus wichtig ist.

Doch welches Subjekt ist dann in der Lage, Krieg und kolonialer Unterdrückung tatsächlich ein Ende zu bereiten? Dafür müssen wir zur Ökonomie zurückkehren. Es ist die internationale Arbeiter:innenklasse, deren praktische Tätigkeit die Voraussetzung für die Produktion ist. Die Benutzung der Arbeitskraft durch die Kapitalist:innen schafft die materielle Grundlage für das imperialistische System, Kriege und auch die Existenz des israelischen Regimes. Dies bedeutet wiederum, dass die Arbeiter:innen, wenn sie sich organisieren und entschlossen handeln, diese Grundlage zerstören können. Sie haben die Macht, im ersten Schritt durch die Niederlegung ihrer Arbeit Produktion und Transport zum Stillstand zu bringen. So wäre es durch umfassende Streiks und Blockaden, etwa möglich, Waffenlieferungen an Israel zu stoppen. Im zweiten Schritt kann die Arbeiter:innenklasse die Produktion grundlegend umzugestalten und ein neues Gesellschaftssystem erschaffen, das keine Ausbeutung, Kriege und Unterdrückung kennt. Damit dies gelingen kann, braucht sie einen politischen Ausdruck, eine Kraft, die in einem revolutionären Prozess die Kapitalist:innen entmachtet, ihre Staatsmaschine zerschlägt und durch Organe der proletarischen Demokratie ersetzt.

Beim Aufbau einer solchen Kraft ist die beständige Skandalisierung der Verbrechen des Apartheidsregimes und der multinationalen Konzerne, die es unterstützen, wie sie auch von BDS vorangetrieben wird, ein wichtiger Bestandteil. Bei moralischer Empörung darf es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht den Kampf in den Gewerkschaften und Betrieben, auf der Straße und an den Universitäten, in denen wertvolle Erfahrungen mit der Konfrontation mit der Staatsmacht gemacht werden können. Es braucht die Organisierung von möglichst großen Schichten der Arbeiter:innen und Unterdrückten, die Sammlung von materiellen Kräften und damit einhergehend die Entwicklung einer Strategie, wie die Macht von Staat und Kapital gebrochen werden kann. Hierbei ist auch eine Einbeziehung der israelischen Arbeiter:innenklasse in den antizionistischen Kampf notwendig, denn die israelische Bevölkerung ist keine homogene Masse, die gleichermaßen vom Zionismus profitiert. 
Einen Ausgangspunkt bilden die Streiks und Blockaden von Arbeiter:innen, die Waffenlieferungen an Israel verhindern konnten. Diese Kämpfe müssen ausgeweitet und zentralisiert werden. Auch die Forderungen von internationalen Gewerkschaftsverbänden nach einem Waffenstillstand in Gaza und einem Ende der Besatzung weisen in die richtige Richtung. Mit den Kampfmitteln der Arbeiter:innenklasse können sie in die Tat umgesetzt werden. Diesen Aufgaben muss sich die Palästina-solidarische Bewegung stellen, wenn sie sich nicht der Chance berauben will, Krieg und Unterdrückung wirklich zu beenden.

Als marxistische Hochschulgruppe Waffen der Kritik kämpfen wir für eine Zeitenwende in unserem Sinne gegen die Kapitalist:innen und ihre Regierungen. Anhand der marxistischen Theorie und den Erfahrungen der Arbeiter:innenklasse wollen wir als Studierende einen Beitrag im Klassenkampf leisten. Wir haben eine Welt zu gewinnen – ohne Klassen und Staat, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir sind aktiv in Berlin, Bremen, Kassel, Leipzig, Münster, München und haben Genoss:innen in verschiedenen weiteren Städten. Schreibe uns, wenn du dich in Waffen der Kritik organisieren willst, per Mail oder auf Instagram. Hier kannst du mehr über uns erfahren.

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