„Boric hat die rechte Opposition gestärkt“
In Chile ist die Illusion zerplatzt, den Kampf gegen den Neoliberalismus im Parlament gewinnen zu können. Ein Gespräch mit Dauno Totoro.
Der chilenische Verfassungsentwurf wurde von einer unerwartet großen Mehrheit bei einer Volksabstimmung Anfang September abgelehnt. Warum?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir auf den Aufstand von 2019 zurückblicken. Am 12. November 2019 fand der wichtigste Generalstreik der letzten 40 Jahre statt, bei dem Millionen von Menschen gegen das neoliberale System auf die Straße gingen. Politiker:innen und Journalist:innen waren sich einig, dass Präsident Piñera stürzen würde, wenn die Streiks weitergehen. Mit ihm würde auch die gesamte politische Kaste fallen. Drei Tage später unterzeichneten die traditionellen Parteien – darunter auch Teile des Frente Amplio und der damalige Abgeordnete und heutige Präsident Gabriel Boric – das „Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung“. Dieser Pakt ließ Piñera, der für systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, straffrei und bescherte dem Land einen verfassungsgebenden Prozess, der sich den bestehenden Mächten und den Spielregeln der Reichen unterordnete, weil er eine Reihe zuvor festgelegter Themen nicht aufgreifen konnte und den neoliberalen Kräften ein Vetorecht gab. Die politische Rechte und die Regierung wurden mit dem Ankommen wiederbelebt.
Wie kann es sein, dass bei den Präsidentschaftswahlen vor einem halben Jahr der linke Kandidat Boric gewonnen hat und jetzt die Verfassung so deutlich abgelehnt wurde?
Die Wahl von Boric war mit vielen Hoffnungen verbunden, die sich jedoch sehr schnell in Luft auflösten. Er integrierte die ehemalige Concertación – die chilenische Sozialdemokratie – in das Kabinett und militarisierte Gebiete der Mapuche. Die rechte Politik von Boric hat die rechte Opposition gestärkt. Andererseits hat die Verfassung keine Antworten auf die dringlichsten Bedürfnisse der Massen geliefert: Die Forderungen nach staatlichen Renten, kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung sind nicht erfüllt.
Diese Forderungen wurden in dem Entwurf nicht berücksichtigt?
Die Säulen des chilenischen Großkapitals wurden nicht angetastet. Die Privatisierung der Renten wurde nicht zurückgenommen. Mehr noch: Analyst:innen sagten, die neue Verfassung könne „neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen“. In dem Entwurf ist nur von der Wahlfreiheit zwischen öffentlicher und privater Gesundheitsversorgung die Rede. Den privaten Krankenhauskonzernen gab die Regierung sogar Garantien, dass ihr Geschäft nicht angerührt wird. Und die Verfassung hat das Problem der Bildung, die zu den teuersten der Welt gehört, nicht gelöst. Jetzt sehen wir eine neue Studierendenbewegung, die sich für bessere Bildungsmöglichkeiten mobilisiert.
Hat die Wahl gezeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung linke Ideen ablehnt?
Das ist die Deutung, die die Rechte durchzusetzen versucht und auch von der Regierung aufgenommen wird. Dennoch ist es Fakt, dass die Forderungen eines besseren Bildungssystems, öffentliche und kostenlose Gesundheitsversorgung, anständige Renten, die Ablehnung des AFP, sowie die Herausforderung gegen die Diktaturerb:innen noch alle offen stehen. Was gescheitert ist, ist die Vorstellung, dass wir durch die Einhaltung der Spielregeln der Mächtigen über den institutionellen Weg das Erbe Pinochets beseitigen könnten. Entweder können wir eine große Veränderung erkämpfen, oder uns mit dem jetzigen Erbe der Pinochet-Diktatur abfinden. Trotzdem folgt die Regierung von Boric jetzt der Interpretation der Rechten und vertieft diesen Weg zusammen mit der politischen Rechten sogar noch. Er versucht mit den rechten Parteien ein Abkommen für einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu schließen, der noch antidemokratischer sein wird – überwacht von einer „Expert:innenkommission“ und unter viel stärkerer Kontrolle der Parteien, die traditionell die Interessen der Unternehmer:innen vertreten.
Viele sehen im Scheitern des Verfassungsreferendums eine historische Niederlage, die die Linke um Jahrzehnte zurückwirft. Sie auch?
Die Teile der Linken, die sich der Illusion hingegeben haben, dass die neue Verfassung dem Neoliberalismus ein Ende setzen kann, sind stark demoralisiert. Für mich ist das keine Niederlage der Linken, sondern eine Niederlage der Idee, dass der Kampf gegen das Erbe der Diktatur von der Straße ins Parlament getragen werden kann. Um mit diesem Erbe zu brechen, müssen wir die Interessen der großen Kapitalgruppen in Chile angreifen. Dazu war weder die Regierung Boric noch die verfassunggebende Versammlung bereit. Die Linke kann gestärkt werden, wenn sie aus diesem Prozess ihre Lehren für die nächsten Kämpfe zieht, die eher früher als später kommen. Wir kämpfen für eine Linke des Klassenkampfes: revolutionär, internationalistisch und sozialistisch.
Zuerst erschienen in der jungen Welt