Bolsonaro: Faschismus oder Bonapartismus?
Es ist unmöglich, die Entstehung des „Bolsonarismus“ als soziales und politisches Phänomen zu erfassen, ohne die Bedeutung der großen Protesttage im Juni 2013 in Brasilien zu verstehen.
Anmerkung: Dieser Artikel erschien schon 14. Oktober 2018 in der Wochenzeitschrift Ideas de Izquierda, also noch vor dem Wahlsieg Bolsonaros bei der Stichwahl am vergangenen Sonntag.
Es ist kein Zufall, dass der erste politische Mord des „Bolsonarismus“ an Moa do Katendê geschah, einem für seinen Einsatz gegen den Rassismus bekannten Capoeira-Meister. Bolsonaro, der mit 58 Prozent in den Umfragen gegenüber dem PT-Kandidaten Haddad (42 Prozent) der große Favorit ist, will nicht, dass die soziale und politische Polarisierung im Land in politische und soziale Gewalt umschlägt – zumindest bis die Wahlen zu Ende sind. Aber als die Wut und der Hass, die von Bolsonaro geschürt wurden, sich entluden – nicht gegen die fügsame gewerkschaftliche und politische PT-Bürokratie, sondern gegen ein Symbol des Widerstands gegen die Sklaverei –, entluden sie sich mit brutaler Gewalt: Mit 12 Messerstichen wurde der „Konflikt“ gelöst. Trotz Bolsonaros Bemühungen, die durch seine Worte entfachte Euphorie unter seinen Anhänger*innen einzudämmen, wurden in den vergangenen Wochen bereits mehr als 70 vom Hass motivierte Gewalttaten gezählt, durchgeführt von fanatischen Anhänger*innen Bolsonaros. Dabei ist es nur Zufall, dass lediglich einer der Angriffe tödlich endete [zum Zeitpunkt der ursprünglichen Veröffentlichung des Artikels, A.d.Ü.].
Angesichts der Radikalität der Kräfte, die der Bolsonarismus entfesselt hat, sind es nicht wenige gewesen, die dieser Bewegung die Bezeichnung „Faschismus“ gaben. Dieser Begriff wurde ursprünglich im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der 1920er und 1930er Jahre, den Folgen des Ersten Weltkrieges und der Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg verwendet. Er bezeichnete ein spezifisches Mittel im Dienste der Interessen des Finanzkapitals zur Mobilisierung und Organisierung der Kleinbourgeoisie (die im Allgemeinen „Mittelklasse“ genannt wird), von der Wirtschaftskrise in den Ruin getrieben, gegen die Arbeiter*innenparteien und Gewerkschaften.
Das Phänomen des Bolsonarismus ist weit entfernt sowohl vom Kontext als auch vom Grad der Organisation und Radikalisierung, die die faschistischen Kräfte zu jener Zeit aufwiesen. Eine solche Kategorie könnte jedoch dazu beitragen, einige der aufkeimenden Tendenzen in Teilen ihrer sozialen Basis zu erklären. Gleichzeitig ist festzustellen, dass diese Art von Phänomen in den imperialistischen Ländern und in den rückständigen Ländern unterschiedliche Charakteristika haben. Wie Leo Trotzki betont:
In Deutschland, Italien, Japan, sind Faschismus und Militarismus die Werkzeuge des gierigen, hungrigen und damit aggressiven Imperialismus. In den lateinamerikanischen Ländern ist der Faschismus Ausdruck der sklavischen Abhängigkeit vom ausländischen Imperialismus. Es ist notwendig, den wirtschaftlichen und sozialen Inhalt unter der politischen Formel zu finden.
Bolsonarismus: ein ungewollter Sohn des Putschismus
Es ist unmöglich, die Entstehung des „Bolsonarismus“ als soziales und politisches Phänomen zu erfassen, ohne die Bedeutung der großen Protesttage im Juni 2013 in Brasilien zu verstehen. Diese drückten das Aufeinanderprallen zwischen den Hoffnungen auf sozialen Aufstieg – gefördert von Jahren des Wirtschaftswachstums, die das zweite Mandat von Lula kennzeichneten – einerseits, und den strukturellen Grenzen für die Verwirklichung dieser Bestrebungen in einem vom internationalem Finanzkapital ausgebeuteten Land andererseits aus. Es war eine Explosion der Empörung, die bessere Bedingungen im öffentlichen Dienst forderte; so braucht man in Sao Paulo in vielen Fällen drei oder vier Stunden täglich, um zur Arbeit und zurück zu kommen. Das tägliche Pendeln geschieht mit überfüllten Bussen und Zügen und für Preise, die sich die Mehrheit nicht ohne weiteres leisten kann. Zur Empörung kamen auch weitere Forderungen hinzu, wie für bessere Bildung und Gesundheitsversorgung – zwei Bereiche, die trotz des Wirtschaftswachstums während der Lula-Regierung weiterhin zu den teuersten und schlechtesten in ganz Südamerika zählten.
Die von der Jugend auf die Straßen getragene Empörung wurde von einer wachsenden Welle ökonomischer Kämpfe begleitet, wie sie seit dem Ende der Diktatur nicht mehr zu sehen waren. Wilde Streiks fanden statt, an denen die ärmsten Teile der Arbeiter*innenklasse beteiligt waren, und zwar diejenigen, die massiv in die prekären Jobs eingestiegen waren, die während des Lulismus geschaffen wurden. Es gab gleichzeitige Streiks (wenn auch unkoordiniert) von mehr als 200.000 Arbeiter*innen im Bauwesen, verteilt auf die gigantischen Wasserkraftwerke des sogenannten „Plan für Wachstumsbeschleunigung (PAC)“ von Dilma im Norden, und beim Bau von Stadien für die Fußball-Weltmeisterschaft im Südosten und Süden des Landes. Weitere Streiks gab es während der Arbeiten für den Ausbau des petrochemischen Konglomerats von Petrobras.
Die PT als Partei und über die Central Única dos Trabalhadores (CUT, der größte gewerkschaftliche Dachverband Brasiliens) versuchten, die großen Kampfprozesse voneinander zu isolieren und vom Kurs abzubringen. Sie waren sich nicht einmal zu schade, diese Mobilisierungen als reaktionär zu charakterisieren, nur weil sie sich gegen die eigene Regierung richteten. In dem Maße, wie keine gesellschaftspolitische Kraft entstand, um diesen linken Mobilisierungsprozess zu kanalisieren, versuchten die rechten Strömungen, sie für sich zu nutzen, indem sie die progressiven sozialen Forderungen von der Ablehnung des politischen Systems als Ganzes trennten. So richteten sie diese Unzufriedenheit besonders gegen die PT, indem sie ihren „Etatismus“ den liberalen Werten entgegensetzten. In Brasilien entstand so ein neuer sozialpolitischer Akteur aus Jugendbewegungen, die von Instituten wie Atlas Networks finanziert und beeinflusst werden – einer ultra-neoliberalen Denkfabrik, die für ihre Beziehungen mit dem US-amerikanischen Außenministerium und den Koch-Brüder [1] sowie mit Öl-und Erdgas-Multis bekannt ist. Diese Denkfabrik hat 465 Partnerinstitutionen in 95 Ländern (11 davon in Brasilien) und laut eigenen Aussagen hat sie allein im Jahr 2016 fünf Millionen Dollar an seine Mitglieder „gespendet“ [2]. In Argentinien zählt sie die argentinische Pensar-Stiftung des amtierenden Präsidenten Mauricio Macri zu ihren Mitgliedern.
Diese Jugendbewegungen der liberalen Rechten, die Millionen von Anhänger*innen auf sozialen Netzwerkseiten haben, haben ein eigenes Mobilisierungspotential auf den Straßen entwickelt, besonders im Zuge der Proteste der „Anti-Korruptions-Kampagne“ gegen die Regierung von Dilma und die PT, die vom Mediennetzwerk Rede Globo angefacht wurde, mit Hilfe von Erklärungen von „Reumütigen“, die von der Justiz in der sogenannten „Lava Jato“-Operation geleakt wurden. Eine von der italienischen Untersuchung „Mani Pulite“ inspirierte Operation, die über ein Netzwerk aus der Staatsanwaltschaftskaste, Richter*innen, die Bundespolizei als „militärischen Arm“, dem US-amerikanischen Außenministerium und den großen multinationalen Ölkonzernen orchestriert wurde.
Die besonders korrupte Struktur des brasilianischen politischen Systems – genannt „Koalitionspräsidentialismus“ – basiert auf einem Mechanismus der Erpressung bzw. permanenter „legaler“ Bestechung, das zwischen der Exekutive und dem Kongress besteht, um parlamentarische Mehrheiten im Interesse des Finanzkapitals und großer Monopole herzustellen. In einem der ungleichsten Länder der Welt, wo mehr als 40 Prozent des Bundeshaushaltes jährlich allein dafür verwendet werden, um Zinszahlungen und Schuldentilgungen der Staatsschulden an das Finanzkapital zu zahlen, und wo die Verschuldungskapazität der Staaten konstitutionell der Zentralregierung untergeordnet ist, hängt die „Wählbarkeit“ der Parlamentarier*innen vom Haushalt ab, den die nationale Exekutive nach eigenem Gutdünken als Gegenleistung für die Unterstützung ihrer Maßnahmen gewähren kann. Es handelt sich also um eine permanente Aktionärsversammlung, geölt durch die Wahlkampagnenfinanzierung von Politiker*innen und Parteien, die im Dienste der Interessen des Großkapitals stehen. Das ist die besondere Form, die der „Lobby“ zwischen öffentlichen und privaten Interessen in Brasilien annimmt.
In den 90er Jahren führte dieser Mechanismus, der zugunsten des großen einheimischen und ausländischen Kapitals (einschließlich der wichtigsten Medien wie Rede Globo) angewandt wurde, zu einem großen Korruptionsskandal, der als „Fall Banestado“ bekannt wurde. Der Name bezieht sich auf die Staatsbank von Paraná, über die illegal mindestens 520 Milliarden Dollar an Steuern hinterzogen wurden, indem die Leichtigkeit der Geldwäsche an der Dreiländergrenze genutzt wurde. Das Gerichtsverfahren wurde vom Richter Sergio Moro durchgeführt, der den Fall schloss, ohne die Indizien zu untersuchen, die gegen einige der wichtigsten nationalen Anführer*innen der neoliberalen PSDB von Fernando Henrique Cardoso sprachen. Derselbe Moro wurde Jahre später mit Hilfe des Rede Globo zu einem „Volkshelden“ im „Kampf gegen die Korruption“ erhoben.
Als Lula 2003 an die Macht kam, war ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss für die Untersuchung des „Fall Banestado“ zuständig. Die PT nutzte jedoch den Einfluss der Exekutive, um die Untersuchung zu beenden als Gegenleistung für die politische Unterstützung ihrer Reformen durch die an den Machenschaften beteiligten Parteien. Dies gipfelte in der Eingliederung einiger dieser großen Begünstigten in ihre Regierungskoalition, womit die Assimilierung der PT an dasselbe System, von dem sie Jahre später selbst Opfer werden würde, besiegelt wurde. Im ersten PT-Korruptionsskandal im Jahr 2005, als „mensalão“ (Schmiergeld) bekannt, versuchten die PSDB und der mächtige Industrieverband von São Paulo selbst noch, die Bogen zu glätten, und appellierten an die „Verantwortung“ der verschiedenen Akteure des Regimes, um kein Klima der „Absetzung“ zu schaffen. Neben diesem Korruptionsskandal gibt es eine ganze Reihe an Korruptionsskandale, die im Nichts endeten.
Erst mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise und ihren ersten Auswirkungen in Brasilien wurde der „Mensalão“-Prozess wieder aufgenommen, um die Ermittlungen im „Lava Jato“-Prozess auf die PT zu konzentrieren. Warum wurde die PT Ziel der Angriffe, obwohl sie während ihrer Regierungen beispiellose Gewinne für das Großkapital und die Passivität der Gewerkschaften garantierte?
Als Brasilien sich in vollem Wirtschaftswachstum befand und das internationale Finanzkapital Riesengewinne machte – genau wie das einheimische Kapital, das von den staatlichen Banken wie BNDES und dem Konglomerat Petrobras begünstigt wurde –, waren alle zufrieden mit dem Geschäfts-„Schema“ der PT. Die Zufriedenheit war so groß, dass die internationale Presse Brasilien als aufgehender „Stern“ der BRICS preiste. Mit der weltweiten Rezession nach 2008 änderte das imperialistische Kapital seine Strategie; die Justiz und der „Kampf gegen die Korruption“ werden nun dazu genutzt, das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verändern. In diesem Zusammenhang wurde die PT als primäres Ziel ausgewählt, um die Ausdehnungsbestrebungen des brasilianischen Kapitals in Form der großen Bauunternehmen, der Erdöl- und erdölverarbeitenden Industrie sowie der Kühlschrankindustrie zu „dämpfen“, die sich immer mehr als internationale Wettbewerber profilierten. Gleichzeitig pochte das imperialistische Kapital auf die Liberalisierung der gigantischen Erdölreserven, die sich im Pré-Sal-Gebiet [3] befinden und auf die Privatisierung des riesigen Konglomerats der Erdölförderung und -raffination, die von vom Petrobras kontrolliert werden. Hinzu kommt die Notwendigkeit, der PT-Basis klar zu machen, dass diese eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und den Rückgang der Sozial- und Arbeitsrechte akzeptieren müssten, um die kapitalistischen Profite zu gewährleisten und somit die Kürzungen sicherzustellen, die für die Begleichung der öffentlichen Schulden notwendig sind.
Die protofaschistischen Tendenzen in der Basis von Bolsonaro
So ging aus der Ablehnung der „politischen Kaste“, der im Zuge der Proteste von 2013 entstand und sich mit dem „Kampf gegen die Korruption“ verband, der von „Lava Jato“ und dem Rede Globo beschwört wurde, ein Klima der „Absetzung“ der PT-Regierung hervor. Beide Tendenzen (das Gefühl „gegen die da oben“ vom Juni 2013 und die Fans von „Lava Jato“) schafften es, eine soziale Basis für sich zu gewinnen, indem sie auf den Wogen der sich verschlechternden Lebensbedingungen ritten, verursacht durch den 7-prozentigen Rückgang des BIP zwischen 2015 und 2016. Das ebnete den Weg für die massiven Mobilisierungen und verschob das Kräfteverhältnis zu Ungunsten von Dilma Rousseff und für die Amtsenthebung.
In diesen Märschen gegen Dilma war der Bolsonarismus noch eine kleine Minderheit. Das Ziel des institutionellen Putsches war es, die traditionellen rechten Parteien PSDB und DEM an die Macht zu hieven, unterstützt durch die „Fürsten“ der konservativen MDB (ehemals PMDB). Der Aufstieg des Bolsonarismus als Massentenbewegung trat in dem Maße auf, wie die Parteien der traditionellen Rechten, insbesondere die PSDB – die mit dem Scheitern der Regierung Temer und der Korruption des politischen Systems verbunden waren – ihre Fähigkeit verloren, die von „Lava Jato“ geförderte feindliche Stimmung gegen die PT zu kanalisieren. Sie hinterließen einen Raum, der von einer populistischen Figur besetzt werden konnte – eine Figur, die es schaffte, das Image eines „Außenseiters“ zu verkaufen. In Ermangelung eines radikalen Ausweg von links, der die Fäulnis dieses derart ausgelaugten und in Frage gestellten politischen Systems nutzen könnte, erscheint Bolsonaro mit radikalen rechten Lösungen, der mit harter Hand die soziale Gewaltspirale im Land stoppen will, das in der Wirtschaftskrise untergeht, wie der Beispiel von Rio de Janeiro zeigt.
Mit dem Aufstieg von Bolsonaro wird der faschistoide Kern seiner Basis, die ursprünglich aus der militärischen und zivilen Polizei und dem Militär hervorging, ermutigt und sie geht in die Offensive: Nach den letzten Daten gibt es 425.000 Militärpolizist*innen, 118.000 Zivilpolizist*innen, 13.000 Bundespolizist*innen, 327.000 Mitglieder des Heeres, der Marine und der Luftwaffe. Wenn man noch die Rentner*innen und Verwandten in diesem Sektor mitzählt, wird ersichtlich, dass es sich um einen reaktionären sozialen „Kern“ mit nicht weniger als drei Millionen Menschen handelt. Die Projektion dieses sozialen Kerns, der von Bolsonaro als „Opfer“ der Menschenrechte idealisiert wird, um eine harte Hand zu rechtfertigen, ist untrennbar mit den rechtsextremen Angriffen verbunden, die im ganzen Land in den vergangenen Wochen eskaliert sind.
Die letzte faschistische Komponente der Basis von Bolsonaro betrat das Feld in den letzten zwei Wochen des Wahlkampfes: die evangelikalen Kirchen, deren Einfluss auf etwa ein Drittel der Bevölkerung des Landes geschätzt wird. Diese sind zu einem entscheidenden Faktor der ideologischen Polarisierung geworden. Über soziale Netzwerke (insbesondere WhatsApp) verbreiten sie „Fake News“, bei denen die PT-Anhänger*innen als Perverse und „Kommunist*innen“ bezeichnet werden, die religiöse Werte mit Füßen zertrampeln und angeblich einen „roten Terror“ verhängen würden. Nichts wäre ungerechter gegenüber der PT, die während ihre 13-jährigen Regierungszeit die Verweigerung des Abtreibungsrechts garantierte und die Beziehungen des Staates zu den Kirchen ölte; gleichzeitig garantierte sie historische Rekordgewinne für das nicht sehr kommunistische internationale Finanzkapital.
Ausgehend von diesen Definitionen des Ursprungs und der Entwicklung des Bolsonaro-Phänomens können wir genauer auf die anfängliche Frage nach der darin existierenden protofaschistischen Komponente antworten. Ein Phänomen, dass bis vor Kurzem von einer kleinen radikalen Minderheit innerhalb des politisch-sozialen Blocks, die den institutionellen Putsch forcierten, getragen wurde, und von der Zermürbung der traditionellen, mit der Temer-Regierung verbundenen rechten Parteien profitierte, erreichte kurz vor den Wahlen bis zu 20 Prozent der Stimmen. Doch als Bolsonaro einmal als bevorzugter Kandidat der Anti-PT-Wähler*innenschaft konsolidiert war, besetzte er den von der versunkenen PSDB hinterlassenen Raum, mit Hilfe der Justiz, der Rede Globo und des Militärs – die unumwunden die Wahlen gegen Lula und die PT manipulierten –, und der Bolsonarismo wurde zur ernstzunehmenden Konkurrenz mit 35 Prozent in den Umfragen. Mit einer gehörigen Portion Demagogie und begünstigt durch das Image nach dem Messerangriff auf seiner Person, stilisierte er sich als Opfer und vermied öffentliche Debatten. So konnte er auch noch jenen Teil der konservativsten Lula-Wähler*innen für sich gewinnen, die das ultraneoliberale Programm seines Vertrauten Paulo Guedes ignorieren. So erreichte er in der ersten Runde 46 Prozent der Stimmen. Heute zählt er mit 58 Prozent der Wahlabsicht in der Stichwahl als der Favorit, indem er die Stimmen der Anti-PT-Kandidat*innen aus dem Mitte- und dem rechten Lager auf sich vereinigt, die nach der ersten Runde auf der Strecke blieben. Diese Stimmenmehrheit wird natürlich nicht nur von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Teilen des Mittelstands, die die ursprüngliche soziale Basis des Bolsonarismus kennzeichneten, sondern auch von Arbeiter*innensektoren getragen.
Wenn einerseits die protofaschistischen Tendenzen in der sozialen Basis von Bolsonaro eine Minderheit und ein schlecht organisierter Teil sind, der kaum 20 Prozent ihrer „ursprünglichen“ Stimmen ausmacht, bilden sie heute den aktivsten und dynamischsten Pol der Beziehung der sozialen Kräfte. Somit wird das Regime, das aus den Wahlen hervorgeht, zu einem höheren Grad von Autoritarismus und Repression übergehen, das qualitativ höher sein wird als die Angriffe der ersten Etappe des institutionellen Putsches unter Temer.
Die Tendenzen zum Bonapartismus und die mögliche Regierung von Bolsonaro
Um das Wesen einer möglichen Bolsonaro-Regierung zu analysieren, ist es sinnvoll jene Kategorie zu verwenden, die Trotzki für die ersten Regierungen nutzte, die nach dem Wirtschaftscrash von 1929 entstanden. Obwohl sie faschistische Tendenzen aufwiesen, gaben sie sich jedoch ein mehr oder weniger „demokratisches“ Antlitz. Im Allgemeinen definierte Trotzki den „Bonapartismus“ als eine Regierungsform, die sich über die im Kampf befindlichen Lager zu erheben versucht und sich dabei zunehmend direkt auf die Streitkräfte stützt – zu Lasten des Parlaments –, um das kapitalistische Eigentum zu erhalten und um Ordnung aufzuzwingen. Doch im Fall einer Regierung von Bolsonaro scheint dieser das Parlament noch nicht beseitigen zu müssen, weil er eine Verstärkung des Autoritarimus auch mittels der Justiz erreichen kann, die von den Streitkräften unterstützt wird. Für eine solche Regierung, die eher einer bonapartistischen Brutzeit entspricht, ist Trotzkis Kategorie des „Vorbonapartismus“ dienlich.
Die protofaschistischen Tendenzen der Bolsonaro-Basis befinden sich in einem sehr früheren Stadium, weil die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Brasilien (und der Welt) bei weitem nicht so gravierend sind wie die der Depression, die die 1930er Jahren prägten. Zudem finden sie nicht im Rahmen von unmittelbaren Tendenzen zu imperialistischen Kriege wie im Europa in jener Zeit statt. Aber auch wegen der Politik der PT, ihre eigene soziale Basis zu demoralisieren [4]: erstens durch die eigene Umsetzung von starken Kürzungsmaßnahmen während der zweiten Amtszeit von Dilma; zweitens dadurch, dass sie die Unzufriedenheit der Massen mit der Putschregierung von Temer auf ein rein elektorales Terrain kanalisierten, als sie in die Opposition gezwungen wurden. Die PT brachte es fertig, die Entfaltung der enormen Energie zu verhindern, die von der Arbeiter*innenklasse in den beiden Generalstreiks entfaltet wurde, die die Arbeitsreform in der ersten Hälfte 2017 bremsten – eine Reform, die später durchgesetzt wurde. Diese Politik ist hauptsächlich dafür verantwortlich, das Gewicht der Arbeiter*innenklasse im nationalen Kräfteverhältnis zu verflüssigen.
Trotzki behauptete, dess der Bonapartismus den Faschismus nutzte, um an die Macht zu gelangen, aber nur so weit, wie es notwendig sei, um die Arbeiter*innenbewegung zu besiegen. Es ist in diesem Zusammenhang, dass wir die jüngsten Bewegungen einheimischer und ausländischer „Machtfaktoren“ verstehen sollten, um die vom Bolsonarismus entfesselten faschistischen Tendenzen zu „disziplinieren“. Das Rede Globo „schafft“ in ihren Seifenopern und Nachrichten permanent die Illusion eines angeblichen „Wunderlandes“ Brasilien, in dem feministische, anti-rassistische und anti-homophobe „Kämpfen“ sowie „Institutionen der Zivilgesellschaft“ angeblich gesellschaftlich so tief verwurzelt seien, dass eine Bolsonaro-Regierung sie nicht zurückdrängen könnte. Die unterschwellige Botschaft lautet: „Hab keine Angst, du kannst für Bolsonaro stimmen, es ist alles in Ordnung.“
Der Präsident des Obersten Bundesgerichts versucht, gemeinsam mit dem Militäroberkommando, Intellektuellen, Anwält*innen und Journalist*innen aus führenden Universitäten und großen Medien Druck auf Bolsonaro auszuüben, damit er auf die Verfassung schwört und die Fettnäpchen-Aussagen des Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, General Hamilton Mourão, tadelt. In Worten des Armeekommandanten, General Villas Boas, zwei Tage nach der ersten Wahlrunde:
In einer gefestigten Demokratie wie unserer gibt es keine Putschs, auch weil das brasilianische Volk es nicht erlauben würde, dass die Verfassung nicht respektiert wird und Angriffe auf die Institutionen stattfinden. Das heutige Brasilien weist solide Institutionen auf, die nicht erlauben, dass der Lauf der Dinge außerhalb demokratischer Spielregeln geschieht.
Hinzu kommt der von einigen der wichtigsten Organe der imperialistischen Presse verbreitete Diskurs – vielleicht als Teil der Wahlkampagne der US-amerikanischen Demokratischen Partei angesichts der Zwischenwahlen von November –, die Bolsonaro für seine zunehmend autoritären Züge kritisieren. Die Vergleiche von Bolsonaro mit Trump, die diese Medien machen, in dem sie ihn als einen „Trump der Tropen“ definieren, verhüllen einen wichtigen Fakt: Während die bonapartistischen Merkmale des US-amerikanischen Präsidenten einer protektionistischen Politik des Imperialismus dienen, dienen die bonapartischen Züge des Bolsonarismus einer liberalen Politik der wirtschaftlichen Öffnung zugunsten der Interessen des Gebieters aus dem Norden.
Dieser Versuch der „Eindämmung“ des Bolsonarismus ist als Antwort auf das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu verstehen, in dem die Arbeiter*innenklasse sich überwiegend passiv verhält und die Angriffe, Anpassungen und Privatisierungen, die der institutionelle Putsch zum Ziel hatte, ohne weiteren Widerstand durchlässt. Wir stehen vor einem Regime, das heute – legitimiert durch die Wahlen – die grundlegenden Rechte der gerichtlichen Verteidigung angreift, das allgemeine Wahlrecht mit Füßen tritt und die Bevölkerung davon abhält, für die Kandidat*innen zu stimmen, für die sie wollen. Das Ziel hierbei ist, das Kräfteverhältnis weiter nach rechts zu drängen, den Lebensstandard der Massen qualitativ zu verschlechtern, die strategischen Ressourcen des Landes auf einem höheren Niveau zu privatisieren, soziale Rechte abzubauen und die Unterordnung des Landes unter den Imperialismus zu vertiefen. Sollte die Verschiebung des Kräfteverhältnis weiterhin auf vorwiegend demokratischen Weg erfolgen, d.h., ohne auf physische Gewalt setzen zu müssen, dann umso besser für die Interessen des Kapitals. Denn dieses zieht es vor, mittels mehr oder weniger demokratischen Fassaden zu herrschen, was eine viel effektivere Betrugsmethode darstellt.
Es ist offensichtlich, dass die elektorale und parlamentarische Strategie der PT, die auch auf das Vertrauen in den Justizapparat setzt, auf der ganzen Linie gescheitert ist, ohne irgendeine nennenswerte Schlacht geschlagen zu haben. Gerade weil der dynamische Pol der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse heute der Putschismus und vor allem sein harter rechtsextremer Kern ist, der gegen ein gelähmtes Proletariat vorgeht, dessen Führung seine Stellungen kampflos aufgibt, gibt es kein „Gleichgewicht“ der sozialen Kräfte, über den sich ein Schiedsrichter (Bolsonaro) erheben könnte, der sich auf den Militärapparat stützt, um den Streit zugunsten des Kapitals zu lösen. Mit anderen Worten, zumindest für den Augenblick bestehen in Brasilien weder die Notwendigkeit noch die Bedingungen für ein bonapartistisches Regime im engeren Sinne. Allerdings scheinen die von Bolsonaro entfesselten reaktionären Kräfte im wahrscheinlichen Fall, dass dieser die Wahl gewinnt, eine Art vorbonapartistische Regierung vorzubereiten, die sich auf den Justizapparat und die Armee stützt und qualitativ autoritärere und reaktionärere Züge als die Temer-Regierung aufweist.
Die Widersprüche, denen sich eine Bolsonaro-Regierung stellen muss
Eine mögliche Regierung von Bolsonaro hätte große Probleme zu bewältigen, die sich bereits in der Stichwahl äußern und die dem PT-Kandidaten Haddad noch zugute kommen könnten.
Was seine eigenen sozialen Basis angeht, gibt es zwei zentrale Widersprüche: 1) Bolsonaro wird damit umgehen müssen, dass er nun seine „Anti-System“- und „Anti-Korruptions“-Demagogie beenden muss. Er hat sie bereits beiseite gelegt, um Vereinbarungen mit den korruptesten Parteien im Parlament zu treffen, um sich eine Grundlage für seine Regierung zu sichern. Es sind dieselben korrupten Mafia-Banden, die die Regierung des delegitimierten Temers und eines Kongresses der Vetternwirtschaft unterstützten, den Bolsonaro so kritisiert hat. 2) Ein großer Teil seiner Wähler*innenbasis ist sich nicht bewusst, dass seine Regierung viel schlimmer sein wird als die Temers, was Angriffe, die Zerstörung von Rechten und die Verschlechterung der Lebensbedingungen angeht. Dieser Widerspruch verschärft sich noch mit der Eskalation der Demagogie in der zweiten Wahlrunde: Um die ehemaligen Lula-Anhänger*innen ruhig zu stellen, die er in der ersten Runde gewonnen hatte, musste er versprechen, das Weihnachtsgeld und das Sozialprogramm „Bolsa Familia“ aufrechtzuerhalten und Steuererhöhungen nicht die Ärmsten treffen zu lassen. 3) Die Wendungen von Bolsonaro, der zunächst angab, alle öffentlichen Unternehmen zu privatisieren, um später zu behaupten, die „strategische Kerne“ würden behalten, sind ein Vorgeschmack auf die Konflikte, die zwischen dem ultraneoliberalen Programm von Paulo Guedes und den strategischen Interessen von Sektoren der Armee und der brasilianischen Bourgeoisie geben wird.
Was die Wählerschaft von Haddad angeht, sind die landesweiten Streiks, die die Rentenreform von Temer stoppten, einen Beweis dafür, dass die Arbeiter*innenklasse nicht strategisch besiegt worden ist. Die Stimmen für die PT, trotz Lulas Proskription und aller undemokratischen Brutalitäten des Regimes, um ihn zu isolieren, sind Ausdruck (wenn auch sehr verzerrt) des Kräfteverhältnisses der Sektoren, die sich dem Putsch entgegenstellen. Lula – dem etwa 40 Prozent der Wahlabsichten zugeschrieben worden waren, und der potenzieller Gewinner in der ersten Runde gewesen wäre, falls er zur Wahl hätte antreten können – schaffte es, einen Großteil seiner Stimmen zu Haddad zu übertragen, was Meinungsforscher*innen als direkte Unterstützung für die PT als Partei interpretieren. Wenn man die Anti-Putsch-Stimmen für Haddad addiert, mit denen er 42 Prozent der Abstimmungsabsicht bei der Stichwahl erreichen würde, würde dies bedeuten, dass Bolsonaro es schaffte, ca. 8 Prozent der Stimmen aus dem Lulismus für sich zu gewinnen, die über das Wähler*innenpotential der PT hinausgehen.
Trotz aller Unterstützung durch das Finanzkapital und die Großbourgeoisie ist es unwahrscheinlich, dass die Wirtschaft so schnell wächst, dass die Massen es als eine Verbesserung der Lebensbedingungen empfinden werden.
In diesem Rahmen wird eine eventuelle Regierung von Bolsonaro bereits schwach geboren und wahrscheinlich von verschiedenen Formen des Klassenkampfes durchkreuzt. Als Folge dieser Angriffe könnten die Tendenzen zum Bonapartismus, die heute überwiegend durch die Judikative ausgedrückt werden, mit oder ohne Bolsonaro ein Regime entstehen lassen, das direkter vom Militärapparat unterstützt wird. Davon spricht die Reportage, die am 11. Oktober in der britischen Wochenzeitschrift The Economist veröffentlicht wurde:
Die Mehrheit der höheren Offiziere ist moderat und will laut Verteidigungsexperte Alfredo Valladão keine verfassungswidrigen Maßnahmen treffen. ‚Die Armee wird ihre eigenen Entscheidungen treffen‘ und sich sich Bolsonaro nicht unterordnen, sagt er. Wenn Bolsonaro als Sieger hervorgeht, kann sich der Widerstand der Armee gegen die völlige zivile Kontrolle als ein Hindernis für ihn entpuppen.Valladão fügt hinzu, die Armee würde sich nur dann in der Pflicht zu intervenieren sehen, wenn die Konflikte in Brasilien in politischer Gewalt in großen Maße münden würden.(Hervorhebung von uns)
Das Programm und die Strategie, um die extreme Rechte und den Staatsstreich zurückzuschlagen
Gemeinsam mit der Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen Brasiliens (MRT), Schwesterorganisation der PTS in Argentinien, begleiten wir jene Arbeiter*innen und Jugendliche, die ihre kritische Stimme für Haddad geben, um Bolsonaro an den Wahlurnen zu besiegen. Wir müssen jedoch den berechtigten Hass auf den Autoritarismus und das ultraneoliberale Programm von Bolsonaro in eine große Bewegung von Millionen auf der Straße verwandeln, um alles zu bekämpfen, was er repräsentiert.
Entgegen dieser Perspektive begann die PT seine Stichwahlkampagne mit Wahlpropaganda, die den Hass auf den Autoritarismus von Bolsonaro ablehnt, und stattdessen auf eine Politik der Gewinnung von angeblichen „Verbündeten“ aus den neoliberalen Parteien und traditionellen Putschisten abzielt, die in den Wahlen leer ausgingen. Diese Politik geht in die entgegengesetzte Richtung der tatsächlichen Bedürfnisse der 25 Millionen Arbeiter*innen ohne Jobs und zig Millionen verelendeten Leiharbeiter*innen und weiteren Millionen Menschen, die am eigenen Leib die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen spüren, seitdem sich der Putschismus ausbreitet.
Um den Vormarsch des Putsches und der extremen Rechten ernsthaft zu bekämpfen, müssen wir alle reaktionären Reformen der Regierung von Temer niederreißen; eine große Bewegung für die Nichtzahlung der öffentlichen Schulden aufbauen, um stattdessen Ressourcen für öffentliche Infrastruktur, Gesundheit und Bildung bereitzustellen; und wir müssen von den Gewerkschaftszentralen, Studierenden- und Massenorganisationen verlangen, dass sie Basiskomitees aufbauen, um den Widerstand zu organisieren und einen großen nationalen Streik mit Straßenmobilisierungen im ganzen Land vorzubereiten.
Der Staatsstreich und die extreme Rechte können nicht mit einem allgemeinen Diskurs über „Frieden und Liebe“ und allgemeine inhaltsleere Vorschläge bekämpft werden. Wir können Bolsonaro nur ernsthaft mit einem Programm bekämpfen, das radikal auf die wirkliche Ängste der ausgebeuteten und unterdrückten Mehrheit des Landes reagiert. Die einzige realistische radikale Antwort ist die, die die Mobilisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen vorantreibt, um den autoritären Vormarsch zurückzudrängen, damit es die Kapitalist*innen sind, die für die Krise bezahlen.
Fußnoten
(1) Charles und David Koch leiten Koch Industries und finanzieren die US-Politik mit viel Geld, dass sie in Kandidaten, Verbände und Denkfabriken stecken. Sie wettern gegen Steuern und Umweltauflagen, gegen Klimaschutz und werben für freies Unternehmertum.
(2) Ein paradigmatisches Beispiel dieses Prozesses ist der kometenhafte Aufstieg der sogenannten „Bewegung Freies Brasilien“ (MBL), die seit 2013 Millionen Follower in den sozialen Netzwerken hat. Sie war eine der zentralen Organisatorinnen der großen Demonstrationen gegen Dilma und schaffte es bei den Wahlen 2018, ihren wichtigsten Anführer zu einem der meistgewählten Kongress-Abgeordneten im Bundesstaat Sao Paulo zu machen.
(3) Vor Rio de Janeiro befindet sich das Pré-Sal-Gebiet. Dort befinden sich Ölreserven, die laut Schätzungen 15 Milliarden Barrel Rohöl beinhalten; ein Barrel entspricht 159 Litern.
(4) Die brasilianische PT ist entstanden als das, was wir Marxist*innen eine „bürgerliche Arbeiter*innenpartei“ nennen, d.h. nicht als eine weitere bürgerliche oder kleinbürgerliche Partei, sondern als eine reformistische Partei mit Basis in den Gewerkschaften. Daher kommt ihre organische Verbindung zu den Arbeiter*innenorganisationen, besonders zur CUT.