Bolivien: Versuchter Staatsstreich, erster Test oder Inszenierung?
Nachdem der versuchte Staatsreich in Bolivien am Mittwoch gescheitert ist, ergibt sich eine instabile Situation, in der die Streitkräfte als Akteur in den Vordergrund treten. Wir veröffentlichen die Erklärung unserer bolivianischen Schwesterorganisation, der Liga Obrera Revolucionaria.
Der Aufstand des Militärs in Bolivien vom 26. Juni hat den erheblichen Einfluss der Streitkraft auf die Politik des Landes deutlich gemacht. Gegen 15 Uhr am Mittwoch ist ein irregulärer Aufmarsch der Streitkräfte unter der Leitung des Generals Juan José Zúñiga mit Gewehren und Panzern auf die Plaza Murillo im Zentrum der Hauptstadt La Paz marschiert. Dort befindet sich auch der Präsidentenpalast.
Die Militärpolizei hat die Entlassung des Personals der exekutiven und gesetzgebenden Organe angeordnet, rücksichtslos Reizgase eingesetzt und die Kontrolle des Platzes übernommen. Der ehemalige Oberkommandant der Armee hat die Bildung eines neuen Kabinetts angekündigt sowie die Befreiung aller „politischen Gefangenen“. Damit waren nicht zuletzt Luis Fernando Camacho Vaca, Jeanine Áñez und andere Militärs gemeint, die wegen des Staatsreichs von 2019 inhaftiert wurden. Außer einem einzigen Panzer ist jedoch niemand in den Präsidentenpalast Quemado eingedrungen.
Um 17:18 Uhr hat Präsident Luis Arce Catacora aus seiner amtlichen Residenz, der Casa Grande del Pueblo, heraus ein neues militärisches Oberkommando vereidigen lassen. Damit hat er die Führung der drei Gruppen der Streitkräfte ersetzt. Der neue Kommandant der Armee José Wilson Sánchez hat sofort die Demobilisierung und den Rückzug der Truppen angeordnet und die Plaza Murillo erfolgreich räumen lassen. Die allgemeine Beunruhigung im ganzen Land hat aus Furcht vor möglichen Engpässen nach dem Staatsstreich viele Verkehrswege, Geschäfte, Tankstellen und Geldautomaten zusammenbrechen lassen.
Die Krise kommt nicht aus dem Nichts
Der Auslöser der jetzigen Krise waren provokante Äußerungen des nun ehemaligen Oberkommandanten der Armee Juan José Zúñiga in einem Fernsehinterview in der Sendung No Mentirás am 24. Juni. Dort brachte er seine absolute Ablehnung einer möglichen erneuten Kandidatur von Evo Morales bei den Wahlen im kommenden Jahr zum Ausdruck. Er drohte damit, die ganze Macht des „bewaffneten Armes des Vaterlandes“ einzusetzen, um „die Achtung der Verfassung sicherzustellen“ und Evo Morales, Präsident Boliviens zwischen 2006 und 2019, festzunehmen. Letzterer befindet sich gerade in einem Machtkampf mit dem amtierenden Präsidenten Luis Arce, obwohl beide Mitglieder der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) sind.
Schon heute, mit dem versuchten Staatsstreich beziehungsweise der angeblichen Inszenierung – der Putschistengeneral Zúñiga behauptet, im Einverständnis mit Präsident Arce gehandelt zu haben – heben einige Analyst:innen hervor, dass sich die bolivianische Politik in einem zentralen Aspekt verändert hat: Die Streitkräfte, denen sich auch einige Einheiten der Polizei angeschlossen haben, konnten ihre politische Rolle festigen und ihre Stellung als eigenständiger Akteur mit zunehmend ausschlaggebender Bedeutung für die Politik des Landes konsolidieren. Dieser Fakt wird immer offensichtlicher, vor allem in den sozialen Netzwerken. Es lässt sich vermuten, dass das Interesse der Militärs einerseits in der Forderung nach der Freilassung der Strippenzieher des Staatsstreichs von 2019 zum Ausdruck kommt und andererseits in der Ablehnung dessen, was sie als Misshandlung ihrer Institution betrachten. Darin zeigt sich, dass die Streitkräfte sich mehr und mehr als eigenständiger politischer Faktor zwischen den Klassen, Parteien und Institutionen positionieren und damit die politische Situation immer weiter nach Rechts rücken werden.
Die repressiven Kräfte in Bolivien, wie auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent, haben eine dunkle Vergangenheit der Unterordnung unter die Interessen des Imperialismus. Das Wesen der gesamten Staatsgewalt gründet auf der Herrschaft einer Klasse, also auf dem Kapitalismus und auf der Verteidigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Die Ausbildung lateinamerikanischer Militärs in der School of the Americas, einer US-amerikanischen Institution, dauert bis heute an. Zahlreiche hohe Offiziere wurden in dieser Einrichtung ausgebildet und in der Militärdoktrin der Vereinigten Staaten unterrichtet.
Unter Evo Morales, der sich zum Ende seiner Amtszeit mit einer Hegemonie im Niedergang konfrontiert sah und so immer autoritärer regieren musste, verstärkten sich bonapartistische Tendenzen, die unter Arce nicht nachgelassen haben. Weil er keine Hegemonie herstellen kann, werden die autoritären Tendenzen immer stärker und nehmen zunehmend ein Eigenleben an.
Die Gefahr, die eine immer wichtigere Rolle von Militär und Polizei in der Politik darstellt, ist eine Folge der Straflosigkeit der großen Mehrheit der Putschist:innen von 2019, die aus dem vereinbarten Übergang von der Putschregierung unter Präsident Áñez und der Regierung von Luis Arce Catacora, der 2020 von der MAS gewählt wurde, hervorging. Die Magnaten der Agrarindustrie, die offen zugeben, den Putsch 2019 finanziert zu haben, trafen sich danach mit der MAS-Regierung und profitieren nun vom 10-Punkte-Plan, der Anfang des Jahres unterzeichnet wurde und der eine Aufstockung der Dollarreserven vorsieht.
Die Politik von Evo Morales und Luis Arce hat diese Stärkung und Verselbstständigung des Militärapparates vorangetrieben und die vorhandenen putschistischen Tendenzen in der Armee genährt und gefestigt. Zúñiga ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die wachsende Legitimationskrise der zentralen staatlichen Institutionen wie des Parlaments, das seit Monaten von der Regierung paralysiert wird, verstärken diese putschistischen Tendenzen wiederum.
Angebliche Inszenierung: Sind Arce und Zúñiga Komplizen?
Nachdem Luis Arce das Oberkommando der Armee entließ und durch José Wilson Sánchez ersetzte, verbreitete sich schnell das Gerücht, dass die ganze Operation vom Präsidenten selbst vorgetäuscht und veranlasst wurde, „um an Beliebtheit zurückzugewinnen“, wie Zúñiga bei seiner Festnahme erklärte. Zúñiga hat behauptet, dass die Bewegung der Panzer und Truppen von Präsident Luis Arce selbst angeordnet worden seien, im Rahmen einer vorgetäuschten Operation, um seine eigene Beliebtheit wieder herzustellen. Diese Hypothese, die von Moral-Unterstützer:innen wie auch rechten Oppositionellen weit verbreitet wird, kann genauso wenig wie viele andere Annahmen ausgeschlossen werden. Sie leidet aber an einigen logischen Schwächen. Zum Beispiel an der Tatsache, dass sich die ökonomische und politische Situation nach dem Staatsstreich noch weiter verschlechtert hat als zuvor. Wenn man die Hypothese eines „Selbst-Putsches“ oder gar einer Inszenierung aufrechterhalten möchte, muss man erklären, wie eine Verschlechterung der internationalen Kreditwürdigkeit der bolivianischen Wirtschaft, die aus der wachsenden politischen und institutionellen Instabilität folgt, dazu beitragen kann, das prekäre makroökonomische Gleichgewicht in Bolivien zu verbessern und die starke Tendenz zu einer Dollar-Knappheit zu schwächen. Das sind nämlich die zentralen Probleme, vor denen Arces Regierung steht.
Andererseits ist die Behauptung, die Geschehnisse vom Mittwoch seien eine bloße Inszenierung gewesen, gefährlich für die Arbeiter:innen und die unteren Volksschichten. Sie zielt nämlich darauf ab, die Organisierung und Mobilisierung dieser Sektoren angesichts der putschistischen Tendenzen, die in der Armee und auf allen Seiten der Politik gären, zu verhindern. Der Putschversuch ist gescheitert, weil er von keinem sozialen oder politischen Sektor Unterstützung erfahren hat. Wie Zúñiga selbst hervorgehoben hat, stand er ganz alleine da, nachdem die Truppen in der Stadt Viacha und die bolivianische Luftwaffe anders als erwartet nicht interveniert haben. Darin kommen Spannungen und zahlreiche Spaltungen innerhalb der Streitkräfte zum Vorschein. Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, dass die Streitkräfte ein zentraler Faktor der bolivianischen Politik geworden sind. In diesem Sinne war das Scheitern des Staatsstreichs am Mittwoch eine reaktionäre „Erfahrung“, die die Arbeiter:innen und das Volk auf keinen Fall unterschätzen dürfen.
Worin unterscheidet sich der Militäraufstand 2024 vom Putsch 2019?
Der Putsch 2019 war das Produkt der detaillierten Planung zwischen Fraktionen des nationalen Kapitals, verschiedenen Botschaften (die USA, das Vereinigte Königreich und Brasilien waren direkt beteiligt), paramilitärischen Gruppen, der bolivianischen Polizei, der Armee und der Kirche. Die soziale Basis des Putsches war im Wesentlichen die städtische Mittelklasse, die sich anhand einer Reihe mehr oder weniger legitimer, sektorenbezogener Konflikte zusammengefunden hatte. Diese soziale Basis wurde durch all die autoritären Maßnahmen, die Evo Morales nach der Annahme der neuen Verfassung 2009 ergriff, noch gestärkt.
Der brutalste Aspekt des Autoritatismus von Morales war die Missachtung des Referendum vom 21. Februar 2016, die eine erneute Kandidatur Morales‘ bei den Wahlen 2019 abgelehnt hatte. Entgegen dem Referendum ist Morales dennoch zur Wahl angetreten, auf Grundlage einer perfiden Entscheidung des Verfassungsgerichts, das erklärt hatte, auf Basis der Menschenrechte müsse ihm die Wiederwahl ermöglicht werden. Die vorbereitende Phase des Putsches 2019 war Teil der Strategie des „sanften Staatsstreiches“, die Gene Sharp vorgeschlagen hatte, aber seine letztliche Ausführung und die Massaker, die in Sacaba und Senkata stattgefunden haben, haben den Putsch durch die Gewalt des Militärs gefestigt. Die Anklage von Morales‘ „Wahlbetrug“ durch die Organisation Amerikanischer Staaten hat die Hauptachse der Opposition gegen die MAS dargestellt und wurde benutzt, um einen Bruch mit der verfassungsmäßigen Ordnung zu rechtfertigen.
Der versuchte Putsch im Juni 2024 andererseits wurde von keinem politischen Sektor öffentlich unterstützt. Die Sprecher der extremen Rechten wie Luis Fernando Camacho Vaca – zur Zeit in Chonchocoro inhaftiert –, Jorge „Toto“ Quiroga und Carlos Mesa haben den Putsch verurteilt und zur „Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats“ aufgerufen. Evo Morales, der die Tage zuvor wegen der Möglichkeit eines eigenen Putsches in Gewahrsam genommen worden war, rief schließlich dazu auf, zu mobilisieren und sich dem versuchten Staatsstreich entgegenzustellen. Alle Regierungen der Region – bis auf Argentiniens Präsidenten Miliei, der beredtes Schweigen an den Tag legte – haben den Putsch verurteilt. Der höchste Diplomat der EU, Josep Borrell, hat „jeden Versuch eines Bruchs mit der verfassungsmäßigen Ordnung in Bolivien“ verurteilt, während die US-Botschaft sich damit begnügt hat, eine Sicherheitswarnung angesichts der erhöhten Militärpräsenz im Zentrum von La Paz auszugeben.
Im Hintergrund ein wackeliges wirtschaftliches Gleichgewicht und Grabenkämpfe in der MAS
Wie schon beim Putsch von 2019 gingen mit den politischen Ereignissen Sprünge an den Finanzmärkten einher. Die Tesla-Aktien von Elon Musk haben am 26. Juni erneut ihren höchsten Stand seit drei Monaten erreicht. Die Aktien von Albermarle, ein anderer wichtiger Akteur auf dem globalen Lithiummarkt, sind auch in die Höhe gegangen. Die Bewegungen der Lithiummärkte auf dem internationalen Finanzmarkt sind kein Zufall – sie sind verbunden mit den Geschehnissen im lithiumreichsten Land der Erde, was Bolivien ins Zentrum regionaler geopolitischer Konflikte gerückt hat. Die wiederholten Ankündigungen, Diesel aus Russland einzuführen, die Arce bei einer Reise nach der Moskau machte, wurden von der US-Regierung kritisiert. Sie zeigt sich beunruhigt davon, wie die bolivianische Regierung versucht, die Folgen der globalen Wirtschaftskrise abzufedern, indem sie sich auf die Achse Russland-China-Iran stützt, die im Entstehen begriffen ist.
Doch selbst der Gewinn ausländischer Sponsoren wurde für die Arce-Regierung eine echte Niederlage. Durch anwachsende Differenzen mit Evo Morales hat sie die Kontrolle über das Parlament verloren. Die Herausbildung der Strömung des „Evismo“ um Evo Morales als zusätzliche Oppositionskraft hat zur Folge gehabt, dass sich die Regierungspartei im Parlament in der Minderheit befindet. Die Opposition aus Repräsentant:innen des Evismo, der zentristischen Comunidad Ciudadana und der extrem rechten Partei Creemos, die zusammen mehr als zwei Drittel der Sitze haben, können nun verschiedene Forderungen an die Regierungen stellen und Zugeständnisse fordern, wenn die Regierung im Parlament internationale Kredite absegnen lassen möchte. Die Differenzen innerhalb der MAS haben sich also in die Regierung und den Staat verschoben, was die politische Krise anheizt und die weitere Entwicklung zunächst offen lässt.
Gegen putschistische Tendenzen braucht es die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Massen
Wie man die Ereignisse von Mittwoch auch interpretiert – als Putschversuch, „Selbst-Putsch“ oder Inszenierung –, es steht jedenfalls fest, dass die zunehmend ausschlaggebende Rolle der Streitkräfte der entscheidende Fakt ist sowie das immer dreistere zur Schau Stellen putschistischer Tendenzen, um Teile der Armee für den Staatsstreich zu gewinnen.
Deshalb ist es für uns nun zentral, gegen die Politik der Demobilisierung, die sich auch in der Behauptung einer Inszenierung ausdrückt, zu kämpfen und uns der Politik der Klassenkollaboration und der Glorifizierung der Streitkräfte und der Polizei entgegenzustellen, in denen das Erbe der MAS-Regierungen besteht. Wir stellen dem eine Politik entgegen, die fordert, dass die Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen und sozialen Bewegungen, die indigenen und Bäuer:innenbewegungen, die Frauenbewegung und die Bewegung von Dissident:innen die Koordination untereinander verstärken und Versammlungen von Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der Volksmassen fördern. Das ist notwendig, damit wir gemeinsam darüber diskutieren können, wie wir uns den putschistischen Tendenzen entgegenstellen können, die aus verschiedenen politischen Sektoren hervorgehen, und wie wir uns als Arbeiter:innen eine Rolle im öffentlichen Leben erkämpfen können, so wie die Militärs es auf ihre Weise getan haben. Das Bedürfnis nach einer unabhängigen, sozialistischen und revolutionären Organisation der Arbeiter:innen wird das zentrale Problem des Landes. Wenn so eine Organisation nicht entsteht, dann hängt die Zukunft Boliviens ab von Regierungen, die sich auf die Streitkräfte und ausländische Mächte stützen, um den natürlichen Reichtums des Landes zu plündern und die Arbeiter:innen, die Bäuer:innen und die Armen auszubeuten.
Bauen wir einen anderen Ausweg von unten auf! Ausgehend von der Selbstorganisierung und politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innen und der anderen Ausgebeuteten in Stadt und Land. Nur wenn wir unabhängig kämpfen, können wir den Staatsstreich, egal von welcher Seite, stoppen und die Bahn zum Gegenangriff der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und armen Massen freimachen. Diese Gegenoffensive muss zu einer Regierung der Arbeiter:innen und der Volksmassen führen, um so den Weg zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu eröffnen.