Blitzaktion bei H&M
// Seit einem halben Jahr kommt es immer wieder zu Streiks im Einzelhandel. In Berlin gingen 70 Beschäftigte an einem Tag in alle Filialen der Modekette, um mit nicht-streikenden KollegInnen zu diskutieren. //
Hennes & Mauritz am Kurfürstendamm. Ein sogenannter „Flagship Store“. Vier Etagen voller bunter Klamotten. Grelles Licht, hektische Bilder auf Großbildschirmen und laute Popmusik. Es ist schon anstrengend, wenn man nur wissen will, wo man eine Wintermütze findet. Aber jetzt muss ich die Beschäftigten fragen, wie sie ihre Arbeitssituation einschätzen, ob sie nicht in die Gewerkschaft ver.di eintreten oder einen eigenen Betriebsrat gründen wollen. Ich bin in der Schlange vor der Kasse und muss den Verkäuferinnen selbst was verkaufen. Was soll ich bloß sagen?
Zum Glück war ich am selben Morgen bei einem Workshop, in dem genau diese Situation durchgespielt wurde.
Montag, der 11. November. Es ist Streiktag bei der schwedischen Modekette H&M. Alle 28 Filialen der Hauptstadt sind zum Streik aufgerufen, um den Angriff des Handelsverbands HDE abzuwehren, der Anfang des Jahres alle Tarifverträge kündigte. Doch von den 28 Filialen haben nur neun einen eigenen Betriebsrat, und nur eine Minderheit der Beschäftigten ist in der Gewerkschaft organisiert. Heute sind lediglich 70 KollegInnen in den Ausstand getreten – in den meisten Geschäften wird fleißig weiterverkauft. Selbst die vom Ausstand betroffenen Läden werden mit StreikbrecherInnen offen gehalten. Der Streik im Einzelhandel ist eben schwierig – deswegen wird heute eine neue Aktionsform ausprobiert.
Der Workshop
Um neun Uhr haben wir uns im Keller der prachtvollen ver.di-Zentrale am Spreeufer für einen Workshop versammelt. Neben den KollegInnen sind auch 40 UnterstützerInnen gekommen, darunter Hauptamtliche von anderen Bereichen von ver.di und Studierende von verschiedenen linken Gruppen wie dem „Blockupy“-Bündnis, des Studierendenverbandes „Die Linke.SDS“ und der trotzkistischen Gruppe „Waffen der Kritik“. Nach dem Frühstück vom Billiganbieter Sodexho und einer kurzen Einleitung von den GewerkschaftssekretärInnen geht das Gesprächstraining los. Wir teilen uns in zwei Gruppen auf und üben eine Unterhaltung mit einem streikunwilligen Kollegen.
Mein Drang ist es, möglichst viel zu erzählen: Das ist ein Frontalangriff der KapitalistInnen auf die grundlegenden Rechte der ArbeiterInnen! Sie wollen eine neue Niedriglohngruppe einführen und die Arbeitszeit flexibilisieren! Wie kannst du das über dich ergehen lassen? Als politischer Aktivist würde mir so eine Rede auch nicht schwer fallen.
Doch von der Ausbilderin lernen wir, dass Gewerkschaften oft als „Troublemaker“ dargestellt werden, die den Betriebsfrieden ohne vernünftigen Grund stören. Wir müssen also freundlich sein und vor allem zuhören. Wir stellen uns mit Namen vor und fragen, ob die KollegInnen eine Minute Zeit für ein Gespräch haben. Und dann erkundigen wir uns nach ihren Problemen am Besten mit einer Frage, die nicht mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. Zum Beispiel: „Wie ist die Arbeitssituation hier?“ Während des Trainings diskutieren die jungen Beschäftigten leidenschaftlich, um genau die richtige Einstiegsfrage zu finden. „Wie oft musst du samstags arbeiten?“ ist sehr beliebt. Und dann sollten wir auch nachfragen.
Wie auf einem Flipchart steht, müssen wir erst einmal „Wut“ finden, bevor wir „Hoffnung“ vermitteln können. „Wer bei H&M arbeitet, ist in der Regel wütend über etwas“, sagt die Trainingsleiterin. Aber über was? In diesem Fall müssen Teilzeitbeschäftigte, sogenannte Flexis mit Verträgen zwischen zehn und 19,5 Stunden pro Woche, oft am Samstag arbeiten. Sollten sie sich darüber ärgern, können wir ihnen sagen, dass man in Filialen mit einem Betriebsrat garantiert jedes zweite Wochenende frei bekommt. Möchten sie nicht mit ver.di über die Gründung eines Betriebsrats sprechen? Nach diesem „Wut – Hoffnung – Aktion“-Schema sollten wir auf ihre Aussagen reagieren. „Ein Flexi wird sich eher für das Endgehalt interessieren“, sagt eine junge Kollegin, „aber eine Mutter, die seit zehn Jahren dort arbeitet, eher für den Schichtplan.“ Es gilt, auf die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse einzugehen.
Das Störfeuer
Im Laden angekommen, passiert das Wichtigste zuerst: Ein Hauptamtlicher der Gewerkschaft geht auf die Filialleitung zu und legt „Störfeuer“, damit die Chefs uns nicht von den KollegInnen fernhalten können. Das sagen wir den Beschäftigten auch, damit sie keine Angst vor ihren Vorgesetzten haben.
Im ersten Laden, den wir besuchen, dreht der Filialleiter durch. Ich höre nur, wie er an den MitarbeiterInnen vorbeirennt und brüllt: „Sie dürfen hier sein, aber sie dürfen niemand von der Arbeit abhalten!“ Tatsächlich ist im Betriebsverfassungsgesetz geregelt, dass die Gewerkschaft Zutritt zu den Arbeitsstätten haben muss.
Im zweiten Store dagegen – nur einige hundert Meter vom ersten entfernt, wie das bei H&M in Berlin üblich ist – ist die Filialleiterin eine Sonne. Sie schüttelt mir die Hand und bittet mich mit einem großen Lächeln, nicht mit den KollegInnen zu sprechen, die gerade an der Kasse arbeiten. Ich antworte genauso freundlich, dass die Kollegin während unseres Gesprächs sehr fleißig weiter Pullover gefaltet hat. „Und nun ist die Kollegin sowieso von der Kasse weggegangen“, sage ich, „und da können wir doch unser Gespräch fortsetzen.“
Pläne
H&M bietet seit Juli 2,5 Prozent mehr Lohn an. Aber dieser Bonus, der vom Streik abhalten soll, wird nur vorübergehend bezahlt und ist nicht abgesichert. Zur Zeit liegt der Einstiegslohn in der Branche knapp über elf Euro die Stunde. Er steigt über die Jahre auf 14 Euro. Nach den Vorstellungen des Handelsverbandes sollen auch Altbeschäftigte in die neue Niedriglohngruppe mit 8,50 Euro eingruppiert werden können. Denn der Lohn soll für Angestellte gelten, die „überwiegend“ Waren verräumen – aber was „überwiegend“ genau bedeutet, entscheidet im Zweifelsfall das Management.
„Wenn sie sich durchsetzen, werden wir in Zukunft morgens drei Stunden an der Kasse stehen, dann nach Hause geschickt und abends zum Verräumen zurückkommen müssen“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Jan Richter aus der Filiale in der Friedrichstraße. Er findet es schade, dass „nur noch über Abwehrkämpfe und nicht mehr über Forderungen diskutiert wird“. Aber genau das müssen wir den Mitarbeitern erklären: Gerade wenn sie jetzt zufrieden sind, müssen sie sich organisieren, denn sonst werden sich ihre Bedingungen massiv verschlechtern.
Währenddessen zerstreut sich ein Dutzend KollegInnen über die vier Etagen und führt Gespräche auf der Verkaufsfläche. Trang Bui steht zwischen zwei Regalen und erzählt von der neuen Niedriglohngruppe: „Das wollen sie jetzt einführen“, sagt sie einem etwas älteren KollegInnen. „Was, echt?“ fragt der. Dann erzählt die Verkäuferin von den Arbeitsbedingungen in ihrer Filiale, in der es einen Betriebsrat gibt. „Beim Coaching konnte ich mir das schwer vorstellen“, sagt sie später, „aber die waren richtig aufgeschlossen.“
Das Gespräch
Auch ich probiere mein Glück mit einem Dialog. Ich warte in der Schlange vor der Kasse und versuche, mich ans Drehbuch zu erinnern. Dann bin ich dran und frage nach der Arbeitssituation. „Alles geregelt“, sagen die beiden Kolleginnen unisono. Vom Streik haben sie mitbekommen – „sowas geht nicht an uns vorbei“ – aber sie sehen keinen Grund, da mitzumachen. „Vielleicht bei den Flexis“ gebe es Probleme mit den Wochenendschichten, aber sie haben ebenfalls jedes zweite Wochenende frei, auch ohne Betriebsrat.
Hinter mir wird die Schlange immer länger, und es gelingt mir nicht, die Kontaktinfos für die Gewerkschaft zu bekommen. Ich lege ein paar Infoflyer auf die Theke und verlasse den Laden. Am Ausgang komme ich noch mit einem Mann von der Security ins Gespräch – er ist nicht bei H&M angestellt und wird nicht nach Tarif bezahlt. Aber er bekommt mehr als im ziemlich miserablen Tarifvertrag des Sicherheitsgewerbes festgelegt und kann sich nicht beschweren. Und einen schönen Job wünscht er uns auch!
Bei der Nachbesprechung auf der Straße ziehen wir Bilanz: Wir haben mit knapp 15 Beschäftigten gesprochen. Die meisten waren sehr aufgeschlossen und von einigen bekamen wir auch E-Mails und Telefonnummern. Dafür gibt es unter den Streikenden erstmals Applaus.
Die Auswertung
An einem normalen Arbeitstag macht H&M erst um zehn Uhr auf, aber heute mussten die KollegInnen schon um neun auf den Beinen sein. An einem normalen Streiktag werden die Streikgeldanträge am Mittag ausgefüllt und man hat den Nachmittag frei, aber heute geht die Aktion bis 17 Uhr. Ob es Spaß macht, frage ich Katrin Müller, die als Betriebsrat die letzte Vollzeitkraft in einer Filiale ist: „Na aber!“ sagt sie. „Wenn man den Sinn der Sache sieht, dann fällt es viel leichter“, sagt Trang Bui. Sie hat gemerkt, dass Beschäftigte, die keinen Betriebsrat haben, nicht über die Tarifrunde informiert sind.
H&M ist für Bui nur ein Nebenjob, denn wie viele andere studiert sie nebenbei, Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Personalpolitik. „Aber in der Praxis funktioniert alles anders als in der Theorie“ sagt sie. Im Gesetz steht, dass Betriebsräte erlaubt sind, aber „dann verstehe ich nicht, warum es so wenige davon gibt“.
Zurück im ver.di-Haus wird die Aktion ausgewertet. Insgesamt 17 Kleingruppen haben 21 Läden besucht. Manche konnten mit niemandem so richtig sprechen, aber Sebastian Triebel, Betriebsrat in einer Filiale in Neukölln, diskutierte fast eine halbe Stunde lang in einem Geschäft in Treptow. „Wir gingen mit einem großen Lächeln da raus“, sagt er. Auch Mitarbeiter, die beim Training meinten, dass sie sich so ein Gespräch nicht trauen würden, haben am Ende mitgemacht. Interessant ist, dass Kontaktinfos nur von KollegInnen gesammelt wurden. Die UnterstützerInnen, von denen einige regelrechte Politikprofis sind, kamen mit leeren Händen zurück.
Der Ausblick
„Es hat funktioniert“, resümiert Kalle Kunkel, der als Gewerkschaftssekretär in einem anderen Bereich arbeitet, aber beim „Blitz“ ausgeholfen hat. Er hat schon viele „Organizing“-Aktionen mitgemacht und ist öfter in Betriebe reingegangen, „aber noch nie mit einer großen Gruppe von Streikenden, die an einem Streiktag selbst aktiv geworden sind“. Es sollte eigentlich nichts Ungewöhnliches sein, dass Gewerkschaften Betriebe besuchen, um für ihre Aktionen zu mobilisieren, aber für die trägen Apparate der deutschen ArbeiterInnenbewegung ist wohl schon diese Blitzaktion eine kleine Revolution.
„Es hat viel Überzeugungsarbeit gekostet“, erzählt Carla Dietrich, die seit einem Jahr als Gewerkschaftssekretärin arbeitet, „wegen der Ängste der Beschäftigten, aber auch wegen der Traditionen der Gewerkschaften“. Früher galt die Faustregel, dass man nicht in bestreikte Betriebe reingeht. Nun soll das Engagement bei H&M auch eine Ausstrahlung auf andere Bereiche haben, z.B. bei den Lebensmittelhändlern, wo der gewerkschaftliche Organisierungsgrad noch niedriger liegt.
„Es hat eine Signalwirkung, wenn die Unternehmer es schaffen, hier die Prekarisierung voranzutreiben“, sagt Rabea Hoffmann, die Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität studiert und bei der Aktion dabei war. Als Mitglied von „Die Linke.SDS“ war sie auch schon an einem Straßentheaterauftritt vor einer H&M-Filiale in Neukölln beteiligt. Ein Freund arbeitet 60 Stunden in der Woche in der Gastronomie. Fünf Euro verdient er pro Stunde – auch ihm versucht sie bei der gewerkschaftlichen Organisierung zu helfen.
Der bestorganisierte Store
Das letzte Wort des Tages hat Jan Richter, der charismatische Betriebsratsvorsitzende. Bei den Unterstützern bedankt er sich, denn „ihr habt uns gezeigt, dass die Aktionen nicht so schwer sind“. Schon beim Flyerverteilen war es am Anfang sehr hilfreich, dass Studierende dabei waren, die gegenüber desinteressierten PassantInnen aufdringlicher auftreten konnten. Auch Richter und Teile seines Betriebsrats kommen aus einem studentischen Milieu und haben einige Aktionsformen bei den großen Unistreiks 2003 und 2004 kennengelernt.
Während der Rede applaudiert „seine Filiale“, deren Belegschaft, in erster Linie sehr schick angezogene junge Frauen, hatte das größte Aufgebot bei der Aktion gestellt. Man merkt, dass sie stolz darauf sind, zum bestorganisierten H&M-Store in der Hauptstadt zu gehören. Wie soll man so eine Gruppe beschreiben? Etwas zwischen einer politischen Gruppe und einer Familie? Dann fällt mir der richtige Begriff dafür ein: „Gewerkschaft“.
Denn die Gewerkschaft ist nicht das imposante Gebäude, es sind die vielen KollegInnen, die gegen ihre AusbeuterInnen zusammenstehen und untereinander Vertrauen entwickeln. Oft werden Arbeitskämpfe von Apparatschiks geführt, die alle Fäden in der Hand halten und – nebenbei – deutlich mehr verdienen als die Menschen, die sie vertreten sollen. Dieser Apparat handelt mitunter wie ein Dienstleistungsunternehmen mit einer Versicherung, einem Reisebüro und – siehe junge Welt vom 21. März und 16. Mai 2013 – einer eigenen Leiharbeitsfirma. Aber die Sinnhaftigkeit eines solchen Apparats ist nur daran zu messen, ob er die Selbstorganisierung der KollegInnen fördert oder nicht.
Bei unserer Blitzaktion wurde erkennbar, wie eine Gewerkschaft funktionieren könnte: KollegInnen, zusammen mit solidarischen UnterstützerInnen, die sich aktiv für ihre Interessen einsetzen. So wurden am gleichen Tag auch Gespräche über das Streikgeld geführt, da für manche MitarbeiterInnen der Arbeitskampf langsam ans Portemonnaie geht. Wie wäre es mit einer eigenen Solidaritätsparty, um den Streik zu unterstützen? Tausend Ideen hängen in der Luft.
Weiter mit Marx
Die nächsten Verhandlungen für Berlin-Brandenburg finden am 2. Dezember statt. Der Handelsverband bleibt auch acht Monate nach der Kündigung aller Tarifverträge unnachgiebig. Doch es gibt auch Gründe zur Sorge, dass der ver.di-Vorstand einen faulen Kompromiss in die Wege leiten könnte, der reale Verschlechterungen für die Beschäftigten beinhaltet. Von daher ist es entscheidend, dass die Kollegen auch innerhalb der Gewerkschaft aktiv werden.
„Wir als Arbeiternehmer haben sinkende Lebensstandards und längere Arbeitszeiten“ sagt eine Studentin mit Nebenjob bei H&M, die anonym bleiben möchte. „Wir werden ausgebeutet.“ Im letzten Semester besuchte sie ein Seminar an der Uni mit dem Titel „Marx Reloaded“ und nun ist sie von Marx begeistert. Durch ihre Erfahrungen im Streik findet sie seine Theorien überzeugend, obwohl „es das Gegenteil von dem ist, was man an der Uni lernt.“
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