Bildungsstreik 2010: Die Wut ist da, aber die Perspektive fehlt!

14.06.2010, Lesezeit 6 Min.
1

// Eine erste Einschätzung des bundesweiten Bildungsstreiks von RIO //

Am 9. Juni gingen bis zu 85.000 SchülerInnen, Studierende und Azubis in mehreren Dutzend Städten auf die Straße. Die Proteste richten sich gegen zahlreiche Probleme im Bildungssystem wie Kürzungen, Studiengebühren und Leistungsdruck. „Wenn ich hier alle Probleme aufzählen würde, würden wir eine Woche hier sein“, meinte ein Redner auf der Demonstration in Berlin.

In den Wochen vor dem Bildungsstreik wurden in Hessen und Schleswig-Holstein Kürzungen an den Hochschulen beschlossen. Am 7. Juni wurde auch das Sparpaket der Bundesregierung, das größte Kürzungsprogramm in der Geschichte der BRD, der Öffentlichkeit vorgestellt. Vor diesem Hintergrund wurde für jeden denkenden Menschen klar, dass trotz vieler Versprechen die Regierung die Bildungsausgaben nicht erhöhen und wahrscheinlich nicht mal halten wird.

Über die Uni hinaus

Beim Bildungsstreik kam es auch zu radikaleren Aktionen: in mehreren Städten wurden Universitätsräume besetzt und in Freiburg okkupierten 200 AktivistInnen zwei Gleise am Hauptbahnhof. So eine Besetzung, die einen Teil der WIrtschaft kurzzeitig zum Stillstand bringt, ist extrem wichtig – aber wir dürfen nicht vergessen, dass diese Aktion von Hunderten SchülerInnen und Studierenden genauso gut von einem/r einzigen Lokführer/in hätte durchführt werden können. Doch leider fand dieser Bildungsstreik fast ohne Beteiligung von Beschäftigten statt.

Die Ansätze, die über die Universität bzw. das Gymnasium hinaus gingen, waren wieder nur minimal. In Kassel nahmen Hunderte Auszubildende am Bildungsstreik teil, was in erster Linie der Arbeit der trotzkistischen Organisation SAV zu verdanken war. An der Freien Universität Berlin demonstrierten Studierende am Tag vor dem Bildungsstreik durch die Mensa, um die Forderung der Beschäftigten nach der Reparatur der Klimaanlage zu unterstützen.

Ist der Bildungsstreik gescheitert?

Dieser Bildungsstreik war fast genauso groß wie der Streik im November letzten Jahres. Doch damals waren die Proteste von Besetzungen an rund 70 Universitäten begleitet. Dieses Mal waren die TeilnehmerInnenzahlen deutlich kleiner als vor einem Jahr: am 17. Juni 2009 nahmen über 250.000 Menschen am bundesweiten Bildungsstreik teil, also knapp viermal mehr als jetzt. In Berlin etwa sank die TeilnehmerInnenzahl von 27.000 auf 7.000.

Im Organ der linksliberalen Mittelschichten, DIE ZEIT, hieß es deswegen als Fazit, der Streik sei „gescheitert“. Um dieses Scheitern zu erklären, stellt Jan-Martin Wiarda fest: „die Leitfiguren des Bildungsstreiks [haben] es versäumt […], den Aktionen eine starke programmatische Grundlage zu geben.“ Damit meint er natürlich, dass die protestierenden SchülerInnen und Studierende der Regierung kein ausgearbeitetes Konzept für eine umfassende Bildungsreform vorgelegt haben. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung sowieso keinen zusätzlichen Cent auszugeben bereit ist, wäre ein solcher Versuch auch absurd.

„Keine programmatische Grundlage“

Die Aussage stimmt aber insofern, dass die OrganisatorInnen des Bildungsstreiks mehr als eine Viertel Million Menschen zu einem Bildungsstreik mobilisiert hatten, ohne klar zu machen, welche Protestformen notwenig wären, um auch nur einzelne Forderungen durchzusetzen. Viele Studierende hofften darauf, dass wir nur die PolitikerInnen auf die Probleme an den Unis aufmerksam machen müssten, damit sich etwas ändern würde. Und tatsächlich gab es nach dem Streik viel „Dialog“ und „Runde Tische“ – vor allem zeigten PolitikerInnen jeder Couleur viel Verständnis („es muss Korrekturen geben“ usw. usf.).

Doch im letzten Jahr hat sich neben kleinen (und kostenlosen!) Zugeständnissen wie der Abschaffung der Anwesenheitspflicht an verschiedenen Unis praktisch nichts verändert. Selbst die Versprechen der Regierung, mehr Geld für „Exzellenz“ und Eliteförderung im Bildungssystem auszugeben, haben sich angesichts der Krise in Luft aufgelöst.

Kick it like Frankreich!

Die einzige Möglichkeit für Veränderung besteht darin, Druck auf die Herrschenden aufzubauen, sodass unsere Proteste teurer werden als die Erfüllung unserer Forderungen. Das Beispiel aus Freiburg zeigt, dass letztendlich nur ArbeiterInnen in der Lage sind, solchen Druck aufzubauen. In Frankreich zum Beispiel war es vor vier Jahren möglich, ein jugendfeindliches Gesetz durch Generalstreiks mit Millionen TeilnehmerInnen komplett zurückzuschlagen.

Verschiedene marxistische AkteurInnen des Bildungsstreiks, wie Marx21 (die Linke.SDS führt) oder die SAV bemängeln, dass autonome Kräfte die Herausbildung von handlungsfähigen bundesweiten Strukturen blockiert haben, was die Mobilisierung unheimlich erschwerte. Das ist ein dauerhaftes Problem (gerade unter Studierenden), das dauerhaft bekämpft werden muss. Doch die Ursachen dafür, dass dieser Bildungsstreik kleiner ausfiel, liegen tiefer – denn auch früheren Bildungsstreiks fehlten effektive bundesweite Strukturen.

Arbeitende & Studierende gemeinsam!

Für künftige Bildungsstreiks müssen wir ein klares Programm entwickeln, wie wir eine gemeinsame Bewegung mit Beschäftigten aufbauen können. Wir können mit Beschäftigten an der Universität anfangen, doch dürfen nicht da stehen bleiben, denn gerade die ArbeiterInnen in den Fabriken, im Transportwesen, im Handel usw. können große wirtschaftliche Schäden verursachen. Dafür müssen wir die Forderungen der arbeitenden Bevölkerung aufgreifen – denn „wir können nicht erwarten, dass FluglotsInnen oder MüllfahrerInnen in den Streik treten, nur weil die Lehrpläne den Studis nicht gefallen.“

In den nächsten Wochen und Monaten wird es genug Gelegenheiten geben, die Bildungsproteste mit Arbeitskämpfen zu verschmelzen: etwa der Streik des Bodenpersonals an den Berliner Flughäfen oder die kommenden Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst über die Streichung von mehr als 10.000 Arbeitsplätzen beim Bund.

Wir brauchen uns wirklich keine Sorgen zu machen, dass wir mit einer „zu radikalen“ Ausrichtung konservativ gesinnte Studis abschrecken – das Problem ist viel mehr, dass wir mit zu wenig radikalen Aktionsformen (eintägigen Bildungsstreiks alle sechs Monate) überhaupt keine Perspektive haben. Die programmatische Grundlage des Bildungsstreiks muss sein, dass wir eine gemeinsame Bewegung von allen aufbauen, die von der Kürzungspolitik der KapitalistInnen und ihres Staates betroffen sind. Arbeitende und Studierende: gemeinsam streiken!

Mehr zum Thema