„Bildung statt Aufbewahrung!“ Darum streiken die Berliner Erzieher:innen

24.09.2024, Lesezeit 7 Min.
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Erzieherin im Streik. Foto: Ari Aalto / KGK

Die Erzieher:innen von Berlin haben sich mit einer überwältigenden Mehrheit für den unbefristeten Erzwingungsstreik gegen die Landesregierung entschieden. Zentral ist dabei für sie: Im Kampf gegen die "Kitastrophe", in der eine Erzieher:in auf 30 Kinder normal sind, geht es um das Wohl der Kinder.

Zwischen 2.000 und 3.000 Erzieher:innen versammelten sich letzten Donnerstag in Berlin vor dem Roten Rathaus zum Kita-Warnstreik sowie zur Urabstimmung über einen unbefristeten Erzwingungsstreik. Dieser wurde anschließend auch von einer überwältigenden Mehrheit der Erzieher:innen angenommen: 91,7 Prozent der ver.di-Mitglieder und 82 Prozent der GEW-Mitglieder stimmten dafür. Somit hat der Berliner Senat noch bis zum 30. September Zeit, um in Verhandlungen mit den Gewerkschaften einzutreten. Sollten diese erfolglos bleiben, folgt der unbefristete Erzwingungsstreik. Während Politiker:innen von CDU bis SPD die Erzieher:innen als selbstsüchtig beschimpfen und sich hinter vorgeschobenen juristischen Argumenten verstecken, wird im öffentlichen Diskurs um den eigentlichen Kern des Problems ein weiter Bogen gemacht: So wie es in Berliner Kitas gerade läuft – oder gerade nicht läuft – kann es nicht weitergehen. Wir haben die Urabstimmung solidarisch begleitet und von den Erzieher:innen an der Basis erfahren, warum die aktuellen Zustände in Berliner Kitas weder für die Angestellten noch für die Kinder zumutbar sind. 

35 Jahre ist es her, seit die Berliner Erzieher:innen das letzte Mal streikten. Die meisten ihrer Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen wurden 1989 zwar nicht erfüllt, doch eine Konsequenz aus dem Arbeitskampf war, dass Kitas seither als Bildungseinrichtungen anerkannt werden – theoretisch zumindest. Mit der Parole „Bildung statt Aufbewahrung“ kritisieren die Erzieher:innen heute nämlich, dass sie unter den jetzigen Arbeitsbedingungen ihrer wichtigen Bildungsaufgabe kaum nachkommen können. Regelmäßig kommen auf 25 bis 30 zu betreuende Kinder ein:e einzige:r Erzieher:in – ein katastrophaler Zustand; in der Wissenschaft wird ein Schlüssel von 1:8 in Kitas empfohlen. Neben den ganzen Vor- und Nachbereitungsaufgaben bleibt schlicht keine Zeit, auf individuelle Bedürfnisse von Kindern einzugehen, diese zu fördern und in ihrer Entwicklung zu begleiten. Auf der Streikkundgebung spricht man auch von der „Kitastrophe“.

Dabei ist die frühkindliche Erziehung in der Kita von immenser Bedeutung, um Kinder aus allen Gesellschaftsschichten optimal auf den Schuleintritt vorzubereiten. Sparen in diesem Bereich bedeutet, aktiv die soziale Ungleichheit zu befördern, denn Eltern in prekären Verhältnissen haben weder die Zeit noch die Mittel, diese Aufgabe zu übernehmen, wo der Staat versagt. So betonte Carlos von der Berliner Stadtreinigung in seiner Solidaritätsbekundung vor der Urabstimmung, dass es nicht der Streik, sondern die Arbeitssituation in den Kitas sei, die den Eltern Sorgen mache. Als Vater von drei Kindern, der Vollzeit arbeitet, muss er sich darauf verlassen können, dass seine Kinder in der Kita täglich versorgt werden, und dass sie gut versorgt werden. „Das erwarte ich von meinem Land.“ Außerdem bietet die Kita auch einen wichtigen Schutzraum für Kinder, die zuhause Gewalt oder Vernachlässigung erfahren. Erzieher:innen sind dazu ausgebildet, solche Situationen zu erkennen, zu beurteilen und wenn nötig auch zum Schutz des Kindes zu handeln. Doch das geht nur, wenn ihre Arbeitsbedingungen ihnen erlauben, sich auch mit den einzelnen Kindern auseinanderzusetzen.

Diese Missstände sind unter anderem auch auf den aktuellen Betreuungsschlüssel zurückzuführen. Denn wenn Mitarbeiter:innen krankheits- oder urlaubsbedingt ausfallen, werden diese trotzdem mitgezählt, als wären sie vor Ort, sodass die Vorgaben auf dem Papier erfüllt sind, auch wenn der Betrieb unterbesetzt ist. Auch werden Mitarbeitende in Ausbildung wie reguläre Angestellte im Schlüssel mitgezählt, wodurch es ihnen verunmöglicht wird, ihren Job angemessen zu erlernen. Stattdessen werden sie als ersetzbare Billigarbeitskräfte eingesetzt. Die extreme Belastung durch die aktuellen Arbeitsbedingungen in diesem Beruf setzt auch der Gesundheit der Erzieher:innen zu. Diese sind im Durchschnitt über 15 Tage mehr im Jahr krankgeschrieben als der Durchschnitt aller Berliner Berufe. Burnouts gehören praktisch zu den Berufskrankheiten, wie viele auf der Streikkundgebung berichten.

Die Tarifkommission, bestehend aus Berliner Erzieher:innen, hat daher einen „Tarifvertrag pädagogische Qualität und Entlastung“ erarbeitet, der sich im Wesentlichen auf drei Forderungen stützt. Erstens soll ein verbesserter Fachkraft-Kind-Schlüssel die angemessene Betreuung und Förderung jedes Kindes gewährleisten und die Mitarbeitenden entlasten. Zweitens fordern sie mehr Zeit für Ausbildung. Und drittens sollen verbindliche Regelungen zum Belastungsausgleich sicherstellen, dass Mitarbeitende angemessen kompensiert werden, wenn die Standards mal nicht eingehalten werden können. 

Die Beschäftigten an der Basis wissen also sehr genau, was in ihrer Branche schiefläuft, und sie sind auch am besten positioniert, um konstruktive Lösungen zu erarbeiten. Sie sollten es auch sein, die demokratisch über ihre Arbeitsbedingungen entscheiden. Doch beim Senat stoßen ihre Forderungen schon seit April auf taube Ohren. So betont Anne Lembcke, pädagogische Fachkraft in einer Berliner Einrichtung, dass die Erzieher:innen mit dem Mittel des Erzwingungsstreiks durchaus nicht leichtfertig umgehen: „Der Erzwingungsstreik ist das letzte Mittel, denn alles Andere hat vorher nichts genützt. Erst seitdem von einem Erzwingungsstreik die Rede ist, gibt es überhaupt Gesprächsangebote von der Regierung.“ Eine Kollegin pflichtet ihr bei: „In den Medien wird es so dargestellt, als wären wir alles leichtgläubige Schafe, die einfach der ver.di-Führung hinterherlaufen. Doch wir wissen ganz genau, warum wir hier stehen. Mit diesen Arbeitsbedingungen kann es nicht weitergehen und der Erzwingungsstreik ist der einzige Weg, unseren Forderungen Gehör zu verschaffen!“

Der Erzwingungsstreik der Berliner Erzieher:innen ist richtig und wichtig und das starke Abstimmungsergebnis zeugt von ihrer Entschlossenheit zu kämpfen – nicht nur für ihre eigenen Arbeitsbedingungen, sondern auch für das Wohl der Kinder dieser Stadt. Dieser Kampf wird freilich von der Regierung und den bürgerlichen Medien erschwert, indem sie versuchen, die Eltern gegen die Erzieher:innen auszuspielen und die Angestellten der städtischen Einrichtungen gegen diejenigen bei freien Trägern. Letztlich ist jedoch der Kampf der Erzieher:innen im Interesse sowohl der Eltern als auch der Angestellten bei freien Trägern. Ein Kitastreik stellt Eltern gewiss kurzfristig vor Herausforderungen und Belastungen. Aber schlechte Arbeitsbedingungen in der Kita und somit eine schlechte Kinderbetreuung schaden den Kindern über Jahre, wenn nicht für das ganze Leben. Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den städtischen Einrichtungen zahlt sich langfristig auch für die Angestellten bei freien Trägern aus. Denn, um weiterhin als attraktive Arbeitgeber dastehen zu können, müssen auch diese sich den Bedingungen der städtischen Einrichtungen zumindest ein Stückweit anpassen.

Jetzt muss es darum gehen, den Streik konsequent durchzuführen, bis die berechtigten Forderungen der Erzieher:innen erfüllt sind. Die Gewerkschaftsführungen könnten versuchen, sich auf halbherzige Kompromisse mit der Regierung einzulassen, noch bevor der Streik angefangen hat, um ihn dann abzublasen. Doch die Streikenden selbst sollten es sein, die demokratisch und transparent bestimmen, wie und wie lange gestreikt wird. Die Urabstimmung war ein erster richtiger Schritt in Richtung Streikdemokratie, doch diese kann noch weiter ausgebaut werden, beispielsweise mit imperativen Mandaten für Tarifkomissionsmitglieder und Arbeitskampfleitungen. Wie wir bereits an anderer Stelle ausgeführt haben, zeigt der Erzieher:innenstreik auch über die Branche hinaus auf, wie wir den Spardiktaten der Politik mit der Stärke der organisierten Arbeiter:innen entgegentreten können. Denn wenn es um Hochrüstung, Polizeiausbau und Steuergeschenke für Reiche und Konzerne geht, scheut der Staat keine Ausgaben. Wenn aber die Gesundheit und Lebensqualität von Erzieher:innen und Kindern auf dem Spiel steht, dann wird gekürzt, was das Zeug hält. Dass wir diesen Zustand nicht hilflos hinnehmen müssen, haben uns die Erzieher:innen letzten Donnerstag demonstriert. Damit der Kampf erfolgreich wird, braucht es jetzt die solidarische Unterstützung von gewerkschaftlichen Gruppen, politischen Kampagnen und Organisationen, die die Kolleg:innen in ihrem Kampf unterstützen und Erfahrungen teilen.

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