Bildung in der Sowjetunion aus der Sicht einer amerikanischen Schulleiterin

23.04.2023, Lesezeit 10 Min.
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Bild: Library of Congress

Eine amerikanische Schulleiterin reiste 1926 und 1927 in die Sowjetunion, um sowjetische Schulen zu studieren. Hier sind die Ergebnisse ihrer Studie.

Wir mögen mit vielen oder einigen ihrer sozialen Ziele nicht einverstanden sein, aber wir müssen anerkennen, dass ihr Bildungsprogramm ungewöhnlich bedeutend ist.

Mit dieser Bemerkung begann Lucy L. W. Wilson ihren Bericht „New Schools of New Russia“ (1928) über das sowjetische Bildungswesen, der auf ihren Beobachtungen in russischen Schulen beruht. Die 1864 geborene Wilson gehörte zu den ersten Frauen, die einen Doktortitel in Biologie erwarben, den sie 1897 an der Universität von Pennsylvania erhielt. Sie studierte Bildungssysteme in Nord- und Südamerika, Asien, Afrika sowie Europa und war seit 1916 Rektorin der South Philadelphia High School.

Aufgrund ihrer pädagogischen Fachkenntnisse wurde sie später ausgewählt, nach Russland zu reisen, um Schulen für eine Buchreihe mit dem Titel „Vanguard Studies of Soviet Russia“ zu untersuchen, die von der Yale University herausgegeben wurde. Jerome Davis, der Herausgeber der Reihe, argumentierte, dass diese Art von Buch notwendig sei, weil die Amerikaner:innen „über eine große Nation, die ein Sechstel der Landfläche der Welt bedeckt, nicht informiert sind“. Davis führte diese Unkenntnis auf Stereotypen und Vorurteile gegenüber Russland zurück und hoffte, dass Bücher wie das von Wilson dazu beitragen würden, diese Haltung zu überwinden. Er schrieb: „Unabhängig von unserer Überzeugung müssen wir zugeben, dass die Bolschewiki einen verblüffenden neuen Mechanismus im Bereich der politischen Kontrolle entwickelt haben. Ihr Experiment verdient eine wissenschaftliche Untersuchung, keine feindlichen Armeen, intelligente Kritik, keine verdammenden Beinamen“.

In diesem Sinne untersuchte Wilson die Organisation der Schulen, die Geschichte der Bildung in der Sowjetunion, die Führer:innen der neuen Bildungsbewegung und die Ziele der sowjetischen Bildung. Nachdem sie diesen allgemeineren Rahmen entwickelt hatte, erläuterte Wilson spezifische Aspekte des Bildungswesens in der Sowjetunion: ländliche Bildung, Grundschulbildung, Hochschulbildung, Sonderschulbildung, obdachlose Kinder, Erwachsenenbildung, Bildung in der Roten Armee und Lehrer:innenausbildung.

Wilson zeichnete ihre Beobachtungen hauptsächlich zwischen 1926 und 1927 auf, nachdem Stalin die Kontrolle über die Kommunistische Partei Russlands erlangt hatte, aber bevor er zum repressiven Bonaparten der dreißiger Jahre wurde. Ihr Buch wurde in den USA zum zehnten Jahrestag der Russischen Revolution veröffentlicht, die 1917 stattfand, als der Allrussische Sowjetkongress beschloss, die provisorische Regierung zu stürzen und die Macht unter den Bannern „Frieden, Land und Brot“ und „Alle Macht den Sowjets“ zu übernehmen. Nach der Revolution wurde die UdSSR von 1918 bis 1921 in einen Bürgerkrieg gestürzt, in dem die Rote Armee eine konterrevolutionäre Kraft zurückschlug, die von den größten imperialistischen Mächten der Welt unterstützt wurde. Der Bürgerkrieg, der auf den Ersten Weltkrieg folgte, schwächte Russland und führte zu einer Hungersnot und allgemeiner Armut. Lenin setzte wie die meisten Mitglieder der Kommunistischen Partei darauf, dass die Sowjetrevolution Revolutionen in anderen Ländern, insbesondere im industrialisierten Deutschland, hervorrufen würde. Diese weiteren Revolutionen fanden jedoch nicht statt, sodass die Sowjetunion isoliert blieb und aushungerte. Lenin starb 1924 und Stalin übernahm die Macht. Er vertrat die Idee des Sozialismus in nur einem Land und bürokratisierte die UdSSR zunehmend. Den Führer der Roten Armee, Leo Trotzki, schloss er 1927 aus der Kommunistischen Partei aus und verbannte ihn 1928 aus dem Land. Viele der Errungenschaften der proletarischen Revolution blieben jedoch in den 1920er Jahren bestehen, darunter auch eine auf Forschung ausgerichtete Sicht auf die Bildung. Die UdSSR und Stalin selbst hatten noch nicht die bürokratische und repressive Regierungsphilosophie angenommen, die Sowjetrussland in den dreißiger Jahren kennzeichnete.

Vor der Revolution waren die Schulen in erster Linie den russischen Eliten vorbehalten und wurden häufig vom Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche beherrscht. Nach der Revolution war die Schule für alle da: Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Bauern und Industriearbeiter:innen. Das sowjetische Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen kam auch im Bildungswesen zum Ausdruck. In der Tat hatten die Schulen für Frauen eine doppelte Funktion: Sie bildeten junge Führungskräfte beider Geschlechter aus und ermöglichten es erwachsenen Frauen, mehr gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen. Wilson sagt, dass der Vorstoß für eine allgemeine Vorschule als ein Weg angesehen wurde, Frauen von der „Versklavung durch häusliche Pflichten zu befreien und sie in das soziale Leben des Landes einzubinden“ (S. 95).

Die frühen russischen Schulen versuchten auch, die Dutzenden von nationalen Minderheiten einzubeziehen, die ebenfalls zur Sowjetunion gehörten. Die Schulen unterrichteten in der Muttersprache der jeweiligen Region und es wurde nicht versucht, den ethnischen und sprachlichen Minderheiten Russisch aufzuzwingen. Einige Sprachen wurden in diesen ersten Jahren nach der Revolution zum ersten Mal schriftlich festgehalten, als man versuchte, Lehrbücher für die Schulen in den Muttersprachen der Einwohner zu schreiben. Wie Wilson 1926 feststellte, „geht eine ganze Nation zur Schule.“ (S. 41) Sie bezeichnete die Sowjetunion in den frühen zwanziger Jahren als einen „Aufstand der Bildungsaktivitäten“ (S. 31).

In den zwei Jahren nach der Russischen Revolution verdoppelte sich die Anzahl der Schulen in Russland. Die neue Arbeiter:innenregierung führte im ganzen Land massive Alphabetisierungs- und allgemeine Bildungsprogramme ein, um das politische Bewusstsein aller Teile der russischen Gesellschaft zu stärken. Zu diesen Programmen gehörte die flächendeckende Einführung des öffentlichen Schulwesens ab dem Vorschulalter, massive Alphabetisierungskampagnen innerhalb der Roten Armee, eine Ausweitung von Universitäten, Spielplätzen und Fabrikschulen sowie die Errichtung von Museen, Wanderbibliotheken und mehr. Das Ergebnis war ein massiver Anstieg der Alphabetisierung. Laut Wilson stieg beispielsweise die Zahl der Abonnent:innen der Bauernzeitung von 24.820 im Jahr 1924 auf 161.000 im Jahr 1926. Die Zahl der Universitäten in der Sowjetunion stieg von 1913 bis 1925 um 427,5 Prozent, während die Zahl der Student:innen um 310 Prozent zunahm.

Wilsons Einschätzung des sowjetischen Bildungswesens war durchweg positiv; ihr Gesamteindruck war, dass „Sowjetrussland den Massen in seinen staatlich unterstützten öffentlichen Schulen tatsächlich die Art von Bildung vermittelt, die fortschrittliche Privatschulen in diesem Land und in Europa ernsthaft anstreben, um sie den relativ wenigen zu vermitteln, die sie besuchen“ (S. 2). Gleichzeitig stellte Wilson fest, dass sich das sowjetische Bildungssystem noch im Aufbau befand und von der Armut, von der ganz Russland betroffen war, stark beeinträchtigt wurde.

Die Schulen hatten nur zu sehr wenigen Ressourcen Zugang, vom Lehrmaterial bis hin zur Möglichkeit, Lehrer in neuen Formen der Pädagogik auszubilden. Die Begeisterung für Bildung stand in krassem Gegensatz zur Armut der Sowjetunion in den ersten Jahren nach der Revolution. Doch wie ein Universitätsprofessor zu Wilson sagte: „Niemals zuvor oder seitdem habe ich solche Klassen gehabt. Sowohl Lehrer:innen als auch Studierende froren in Schafspelzen. Unsere Hände waren so steif vor Kälte, dass wir kaum schreiben konnten. Aber in uns glühte das Feuer, das kreatives Denken mit sich bringt.“ (S. 31)

Die russische Bevölkerung wusste, dass ihre neue Gesellschaft von den Kindern in den sowjetischen Schulen aufgebaut werden würde. Wie Wilson es formulierte, bestand das Ziel der sowjetischen Erziehung darin, „die Kinder so zu erziehen, dass sie gemeinsam eine neue Welt schaffen können, in der jeder effektiv, kooperativ und kreativ leben kann als Anführer:innen und Mitstreiter:innen, je nach seinen Fähigkeiten und den Erfordernissen der jeweiligen Situation.“ (S. 34) Die Beteiligung an der Regierung stand im Zentrum dieser Perspektive. „Mit dem Ziel, eine bessere Grundlage für einen demokratischen Staat zu schaffen“, lehrten die Schulen den Schüler:innen die Grundlagen der demokratischen Beteiligung.

Zusätzlich zum Lesen und Schreiben wurde ihnen beigebracht, an Versammlungen mitzuwirken, zuzuhören und Ideen auszutauschen sowie Sitzungen zu leiten und Protokolle zu führen. In allen Schulen gab es eine Schüler:innenvertretung und es entstanden mehrere „Selbstorganisationen“ wie Clubs und Kindergenossenschaften. In jedem Klassenzimmer wurde den Schüler:innen beigebracht, demokratisch in kleinen Gruppen zusammenzuarbeiten, ihre eigenen Regeln aufzustellen, Leiter:innen zu wählen, die Arbeit untereinander aufzuteilen und die Ergebnisse zusammenzufassen (S. 72): Aufgaben, die im Mittelpunkt der angestrebten partizipativen Regierung nach sowjetischem Vorbild standen.

Wilson erklärt, dass die Schulen wissenschaftlich geplant wurden, wobei pädagogische Methoden erprobt und die Ergebnisse sorgfältig beobachtet wurden, um allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Es gab Versuchsschulen, die spezifisch zum Erproben neuer pädagogischer Techniken eingerichtet wurden. Stanislaw Schatskij, ein bedeutender Leiter des sowjetischen Bildungswesens, schuf beispielsweise „pädagogische Museen“, in denen die Arbeiten von Schüler:innen ausgestellt wurden, und legte eine Bibliothek mit pädagogischem Material für das Dorf an, in der „jedes Thema, jede Zeichnung sorgfältig geprüft wird“.

Der Unterricht, den die Sowjetunion einzuführen versuchte, war stark forschungsorientiert und griff viele der Ideen von John Dewey über progressive Bildung auf. Wilson beschreibt, wie Viertklässler:innen messen, wie viel Wasser und andere Substanzen in eine Kartoffel eingedrungen sind, nachdem sie in der Erde war. Die Forschungsprojekte in den Schulen standen in direktem Zusammenhang mit den Problemen der örtlichen Gemeinschaft, wobei die Lehrer:innen mit den Gemeindemitgliedern zusammenarbeiteten, um ihr Wissen in den Unterricht einfließen zu lassen. Diese forschungsbasierten Ansätze halfen den Schüler:innen, fächerübergreifend zu arbeiten, anstatt ihr Lernen in einzelne Fächer einzuteilen. Das Ergebnis dieses Ansatzes war laut Wilson, dass „russische Lehrkräfte und Kinder sicherlich besser planen können als die meisten anderen, nicht weil sie nur Theoretiker sind, sondern weil sie sich die Dinge als Ganzes vorstellen können.“ (S. 52) Dies ist ein zentraler Bestandteil des sowjetischen Projekts: Menschen, die in der Lage sind, die gesamte Gesellschaft zu leiten.

Allerdings gab es viele Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser neuen und ehrgeizigen Vorstellungen von Bildung. Die Ausbildung von Lehrer:innen war im ganzen Land eine wichtige Aufgabe, doch es gab nur wenige Ressourcen, um sie zu erfüllen. Einige Lehrer:innen hatten sich der bolschewistischen Revolution entgegengestellt und noch mehr hatten veraltete Ansichten über Bildung. Sie lehnten die neuen fortschrittlichen Lehrmethoden ab, die durch die Revolution eingeführt worden waren. Wilson zufolge neigten die Lehrer dazu, so zu unterrichten, „wie es ihnen beigebracht worden war“ (S. 33), während die Ausbildung von Lehrer:innen nach der Revolution von ihnen verlangte, ihre Gemeinden zu verstehen und über sie zu berichten, um ihre Pädagogik mit der Lösung lokaler Probleme zu verbinden.

Wilson verließ die Sowjetunion völlig beeindruckt von ihrem Bildungssystem. Sie war nicht die Einzige. Auch John Dewey besuchte die Sowjetunion etwa zur gleichen Zeit und war von dem Bildungssystem zutiefst begeistert. Beide Pädagog:innen beschrieben jedoch auch die extreme Armut in Russland und insbesondere unter den obdachlosen Kindern, den so genannten besprizorniki. Hunderttausende Kinder waren durch den Bürgerkrieg zu Waisen geworden und irrten durch die Straßen der sowjetischen Städte, wo sie oft stahlen, um essen zu können. Wilson hob das offizielle Konzept für diese Kinder hervor, das nicht auf Bestrafung abzielte, sondern vielmehr auf die Schaffung „familienähnlicher“ Strukturen in den Außenbezirken der Städte, um diese Kinder zu rehabilitieren und zu erziehen. Es waren diese ärmlichen Verhältnisse, die zum Scheitern des großartigen bolschewistischen Projekts führten.

Marx stellte sich eine sozialistische Revolution in hochindustrialisierten Ländern vor, in denen die entwickelten Produktionsmittel den Menschen ein gutes Leben ermöglichen würden und die Technologie im Interesse der Gesellschaft und nicht des Profits weiterentwickelt würde. Trotzki vertrat in seiner Theorie der permanenten Revolution die Auffassung, dass eine sozialistische Revolution in einem überwiegend bäuerlichen Land mit einer stark unterentwickelten Industrie wie Russland aufgrund der Ausbreitung des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche erfolgen könnte. Er warnte aber auch, dass der Erfolg dieser Revolution von Revolutionen in stärker industrialisierten Ländern abhängen würde. In der Tat gab es nach der Russischen Revolution beinahe erfolgreiche Revolutionen in Deutschland und Spanien. Diese wurden jedoch niedergeschlagen und die Sowjetunion stand allein da.

Völlig isoliert und verarmt, entstand eine repressive Bürokratie, die die russische Armut verwaltete und von ihr zehrte. Als die stalinistische Bürokratie sich selbst stärkte und begann, die rasche Industrialisierung voranzutreiben, verlor die nachrevolutionäre Konzentration auf ganzheitliche und demokratische Bildung an Bedeutung. Eine Bildung, die auf der Liebe zum Lernen, Demokratie und einer ganzheitlichen Entwicklung der Menschen beruhte, war mit der Notwendigkeit, mit der kapitalistischen Welt zu konkurrieren, unvereinbar.

Obwohl die bürokratisierte Sowjetunion für ihre guten Testergebnisse bekannt ist, lag der Schwerpunkt nicht mehr auf einer fortschrittlichen Bildung, wie es in den Jahren zuvor der Fall gewesen war. Stattdessen konzentrierte sich die stalinistische Bildung auf Ergebnisse: die Schaffung tüchtiger Arbeiter:innen, die der Sowjetunion helfen sollten, mit anderen Industrienationen zu konkurrieren und aus eigener Kraft zu überleben, indem sie das paradoxe Ziel des „Sozialismus in nur einem Land“ verfolgte.

Das sowjetische Bildungswesen in diesen ersten Jahren ist jedoch nach wie vor ein wichtiges Beispiel für die Möglichkeit, eine fortschrittliche Bildung und eine befreiende Pädagogik umzusetzen. Sie zeigte die zutiefst demokratischen und kollektiven Ziele der frühen Sowjetunion: eine Gesellschaft von gebildeten und engagierten Menschen, weit entfernt von den gehorsamen Rädchen, die in den Schulen des kapitalistischen Amerikas produziert wurden.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Englisch am 25. Februar 2019 bei Left Voice

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