Bilanz und Perspektive: Wohin geht die studentische Palästinabewegung?

06.10.2024, Lesezeit 40 Min.
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Foto: KGK

Nach einem Jahr Genozid und zahlreichen Erfahrungen des Kampfes an den Universitäten des Imperialismus ist die Zeit reif, eine Bilanz der bisherigen palästinasolidarischen Bewegung zu ziehen. Was haben wir gelernt und wie kann es weitergehen?

Anmerkung der Redaktion: Diese Bilanz wurde in der Sommerpause 2024 gezogen und enthält in seiner Analyse somit nicht die jüngsten Entwicklungen der israelischen Offensive auf den Libanon, sowie die einmalige iranische Reaktion. Hierfür verweisen wir auf das aktuelle Interview mit Claudia Cinatti: „Palästina: ein Jahr brutaler Genozid und Krieg im Nahen Osten“. Auch wenn diese neue Dynamik des Krieges die Geschehnisse in der Region maßgeblich verändern und ebenso eine neue Dynamik der Bewegung entfalten könnte, sind wir der Auffassung, dass die hier geschilderte Bilanz und Perspektive weiterhin gültig ist.

Auf den 7. Oktober folgten der Achte, der Neunte, der Zehnte und nun zählen wir über ein Jahr der anhaltenden Bombardierung, Bodenangriffe, Hungersnot, Epidemien und ethnischen Vertreibung von hunderttausenden Palästinenser:innen in Gaza. In diesen zwölf Monaten wurden trotz zahlreicher Verhandlungen nur die Hälfte der israelischen Geiseln freigelassen, während die extrem rechte Netanjahu-Regierung ihre Offensive fortsetze und laut der UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs mehr als 41.000 ermordete Zivilist:innen zu verantworten hat. Während diese offizielle Zahl laut dem renommierten britischen Medizinjournal „The Lancet“ in Wirklichkeit höchstwahrscheinlich vier Mal höher ist, liegt die gesamte Infrastruktur Gazas in Schutt und Asche. All das unter der heuchlerischen Begründung – besser gesagt Instrumentalisierung – des Schutzes jüdischen Lebens. Während sie den Genozid in Gaza fortsetzt, hat die israelische Regierung in den letzten Wochen einen mörderischen Feldzug gegen den Libanon begonnen, der in wenigen Wochen Tausende Tote kostete und bombardiert obdrein Ziele in Jemen und Syrien. 

Ein großer Teil unserer Generation, wie auch die Geschichtsbücher der nächsten Jahrzehnte werden dieses „Ereignis“ als Genozid im Gedächtnis behalten. Den ersten Genozid, den wir durch soziale Medien live mitverfolgten. Dafür wird jedoch nicht nur die israelische Regierung als Verantwortliche gesehen werden. Ebenso werden die Regierungen, bürgerlichen Medien und Großkonzerne der USA und der imperialistischen Staaten Europas durch ihre bedingungslose Solidarität mit Israels Völkermord, ihre massive Erhöhung der Waffenexporte, sowie ihre Unterdrückung der palästinasolidarischen Bewegung in Mitverantwortung stehen.

All das blieb jedoch nicht unbeantwortet und es entfaltete sich eine internationale Solidaritätsbewegung mit der Bevölkerung in Gaza, die aus unserer Sicht bislang zwei Wellen aufzeigte.

Erste Welle: Massen auf der Straße, Internationale Solidarität und die Illusion eines Urteils

Zwischen Oktober 2023 und Februar 2024 gab es in den USA mehr als 5000 Demonstrationen und Protestaktionen in allen Bundesstaaten. Wie die Journalistin Hadas Thier beschreibt, handelt es sich dabei um die größte Protestbewegung seit Black Lives Matter und die größte, die das Land in Bezug auf Palästina je erlebt hat. Die soziale Zusammensetzung der Bewegung erklärte die Autorin in ihrem Artikel „The New Movement for Palestine“ folgendermaßen:

„Die Amerikaner, die sich gegen Israels Vorgehen in Gaza aussprechen, sind nicht nur junge Mitglieder der Linken. Die Bewegung besteht aus jungen Menschen und Studierenden, aber auch aus Älteren, gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, Geistlichen und anderen.“ 

Ein ähnliches Bild zeichnete sich in zahlreichen anderen Ländern ab. In Großbritannien gingen Millionen auf die Straßen, in Deutschland, Frankreich oder dem spanischen Staat waren es Zehntausende. Die erste Welle der Proteste spielte sich jedoch nicht nur innerhalb  der Grenzen der zentralen imperialistischen Länder ab. In vielen lateinamerikanischen Ländern wie Chile oder Mexiko fanden ebenfalls Mobilisierungen statt. Nicht zuletzt hat der Genozid in Gaza die Palästinafrage in vielen arabischen Ländern, wie Ägypten oder Jordanien, wieder ins Zentrum gerückt und zu Protesten geführt, die seit dem konterrevolutionären Ausgang des Arabischen Frühling ungekannt waren. Sie haben ein „Tor zum Widerspruch„, also die Möglichkeit zum Protest und politischem Dissens, eröffnet, wie es Dana El Kurd bezeichnete.

Der Charakter dieser ersten Welle war überwiegend staatsbürgerlich und humanitär. Die Bewegung war strategisch dadurch gekennzeichnet, Aufmerksamkeit auf das Leiden in Gaza zu richten, den Hintergrund in den 76 Jahren Besatzung zu betonen und an internationale Organisationen wie die UN zu appellieren. Diese Orientierung schöpfte sich im Höhepunkt dieser Strategie aus: mit dem vorläufigen Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Januar 2024. Dieser bestätigte unter anderem die Plausibilität des Vorwurfs, dass der israelische Staat einen Genozid in Gaza begehe und rief ihn dazu auf, diese Handlung zu beenden. Seitdem blieb dieses Urteil auf politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ebene konsequenzlos. Auch rund zehn Monate später setzt der israelische Staat den Genozid fort. Die Folgenlosigkeit des Urteils führte dazu, dass Millionen die Beschränktheit des bürgerlichen internationalen Rechts erkannten, auch wenn die offensichtliche politische Konsequenzlosigkeit meist noch nicht als Ausdruck der Unterordnung internationaler Organisationen in der imperialistischen Weltordnung verstanden wird.

In der deutschen palästinasolidarischen Bewegung erfuhr diese erste Welle ebenfalls einen Höhepunkt in Form des Palästina-Kongresses am 12. April. Der Kongress unter dem Motto „Wir klagen an“ sollte einen Moment des Zusammenkommens und des Austausches über die weitere Orientierung der Bewegung darstellen. Jedoch wurde dieser bereits wenige Minuten nach seinem Beginn durch zahlreiche Polizist:innen, die den Veranstaltungsort stürmten, gewaltsam unterbunden. Der Versuch ein möglichst breites Sprecher:innenrepertoire, mit prestigeträchtigen Persönlichkeiten wie Ghassan Abu Sittah und Yanis Varoufakis, anzukündigen und sich auf der UN Beschlüsse zu berufen, um der Repression zu entgehen, scheiterte kläglich. Ebenso wurde aus der bürokratischen Sorge vor einer weiteren Eskalation die Möglichkeit verpasst, sich auf die Protestmittel der Bewegung zu stützen, um diesen antidemokratischen Akt zu konfrontieren und neue Kräfte zu sammeln. Trotz der massiven Repression konnte dieser Moment kurzfristig dazu genutzt werden, den Austausch unter Studierenden, sowie Arbeiter:innen in der deutschen Bewegung zu fördern.

Bereits vor dem IGH-Urteil, aber insbesondere danach entwickelten sich Verknüpfungen zu anderen Bewegungen, vor allem in den USA mit Black Lives Matter und der Klimabewegung, die besonders in der Jugend von großer Bedeutung waren und den fortschrittlichsten Teil dieser ersten Welle darstellen. In Deutschland haben sich allerdings große Teile der antirassistischen, sowie der Klimabewegung in den letzten Jahren an den Staat angepasst bzw. wurden integriert, wie beispielsweise in Form von der Grünen-nahen Amadeu-Antonio-Stiftung. Der Zionismus als deutsche Staatsräson beeinflusste somit auch aktivistische Sektoren, wodurch beispielsweise Fridays For Future Deutschland sich weltweit alleinstehend von Greta Thunbergs antizionistischen Einstellungen distanzierte.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich in der Arbeiter:innenbewegung und den Gewerkschaften, zu denen teilweise Verknüpfungen hergestellt wurden. Einzelne Blockadeaktionen fanden bereits im November 2023 statt, wie an Fabriken vom israelischen Waffenhersteller Elbit Systems in Kent oder am Hafen in Sydney, Australien. Wichtige Teile von Belegschaften, vor allem an den Häfen in Indien und Italien, erklärten, keine Waffen nach Israel durchzulassen und im Spanischen Staat streikten Beschäftigte gegen Waffenlieferungen. Lange war von den großen Gewerkschaftsverbänden kaum etwas zu hören (mit der Ausnahme der belgischen Luftfahrtgewerkschaft), jedoch waren diese Maßnahmen der internationalen Solidarität von Arbeiter:innen die direktesten Eingriffe gegen die israelische Offensive. Ein Wendepunkt stellte das IGH-Urteil dar, dem eine Resolution von wichtigen internationalen Gewerkschaftsverbänden folgte, die zum gemeinsamen Einsatz für einen Waffenstillstand aufrief, sowie die Regierungen aufforderte, den Entzug von Geldern für das Hilfswerk der Vereinten Nationen, UNRWA, zu überdenken. Bislang blieben größere Aktionen auf Grundlage dieser Resolution jedoch aus. Bemerkenswert ist dabei, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Einzelgewerkschaften als Mitglied dieser Verbände eine solche Positionierung verweigert haben.

Diese fortschrittliche Tendenz der Verbindung von unterschiedlichen Kämpfen in der Verteidigung des palästinensischen Volkes blieb allerdings beschränkt, vor allem angesichts des frontalen Angriffs auf die Bewegung mittels polizeilicher und juristischer Repression.

Von Beginn an wurde die Palästinabewegung mit massiver medialer Hetze überzogen, in Deutschland oft verbunden mit der Bedienung rassistischer Stereotype wie dem des „importierten Antisemitismus“. Auf dieser Grundlage wurde ebenso das Einbürgerungsrecht restriktiv reformiert und mit einem Bekenntnis zum „Existenzrecht Israels“ verknüpft. Mit der aufkommenden Dynamik an den Universitäten, die eine zweite Welle der Bewegung einleitete, geriet auch zunehmend die postkoloniale Theorie ins Zentrum der medialen Agitation. Diese stelle einen Angriff auf „westliche Werte“ dar und würde Studierende korrumpieren und zu „Terrorunterstützer:innen“ machen. So wurde auch eine ideologische Legitimation für zunehmende autoritäre Tendenzen des Staates geschaffen. Diese zeigten sich nicht nur in der massiven Polizeigewalt gegen Demonstrationen, sondern auch in verschiedenen Gesetzesinitiativen und staatlichen Manövern. 

Diese Beispiele sind nicht erschöpfend, unterstreichen aber die Unversöhnlichkeit der Forderungen nach einem freien Palästina und den Interessen des deutschen Imperialismus. Diese Unversöhnlichkeit macht die Integration der Bewegung in die Institutionen des erweiterten Staates, wie bei Fridays for Future, aus Sicht der Herrschenden nahezu unmöglich. Darin unterscheidet sich die Situation in Deutschland von etwa der im Spanischen Staat, wo die Regierung als Reaktion auf die Protestbewegung Palästina als Staat anerkannte und sich der Klage Südafrikas vor dem IGH anschloss. Selbst in den USA vermitteln Teile des Regimes stärker in Richtung der Palästinabewegung, so lobte der demokratische Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz palästinasolidarische Aktivist:innen als „engagierte Bürger„. Die Kehrseite der feindlichen Haltung des deutschen Staates ist die Notwendigkeit der Selbstorganisierung, worin die Studierendenschaft in einer neuen Phase der Bewegung eine Vorreiterrolle einnehmen wird.

Zweite Welle: Die internationale Studierendenschaft an vorderster Front

Ein Protestcamp auf dem Campus der Columbia University löste Mitte April eine zweite Welle der palästinasolidarischen Bewegung aus, in der die Studierendenschaft an vorderster Front stehen wird. Am 17. April schlugen einige dutzende Studierende mit muslimischen, jüdischen und anderen Hintergründen das Gaza Solidarity Encampment auf. Über die bisherige akute Forderung nach einem Waffenstillstand und der allgemeinen Anklage der 76 Jahre anhaltenden Besatzung Palästinas, forderten die Studierenden vor allem den Abbruch der Kooperationen mit israelischen Universitäten und Unternehmen, die vom Genozid und der Besatzung profitieren. Diese programmatische Brücke stellte ein Novum in der Bewegung dar und verschärfte den Konflikt der Protestierenden mit den Interessen und Funktionsweisen des US-Imperialismus. Keine 24 Stunden vergingen und schon beschloss die Uni-Verwaltung, rund hundert Studierende verhaften zu lassen, sowie ihre Suspendierung bis hin zur Verweisung von ihren Wohnheimen. 

Der Einschüchterungsversuch wurde jedoch bereits am folgenden Tag durch die Ausweitung der Bewegung beantwortet. Hunderte Studierende schlossen sich dem Protest an und verlangten zusätzlich zu den aufgeworfenen Forderungen die Freilassung ihrer Kommiliton:innen und ein Ende der Repression. In den darauffolgenden Tagen breitete sich die Bewegung durch das ganze Land aus. In mehr als 20 Campus der Elite-Universitäten in den USA wurden Protestcamps errichtet, die auf unterschiedliche Weisen unterdrückt wurden, in manchen Fällen sogar mit dem Einsatz der Nationalgarde oder durch zionistische Mobs. 

Dagegen entwickelte sich erneut Widerstand und diesmal kamen an einigen Universitäten, vor allem in Kalifornien, die Uni-Beschäftigten zur Hilfe der Studierenden. Aus 10 Universitäten haben 48.000 Unimitarbeiter:innen am 15. Mai in ihrer Gewerkschaft UAW mehrheitlich für Streiks in Verteidung der Bewegung abgestimmt und forderten ebenso ein Recht auf Protest, freie Meinungsäußerung, sowie die Offenlegung und Deinvestion aller aus dem Genozid in Gaza profitierenden Unternehmen. Zu diesem Zeitpunkt waren es bereits 80 Camps in den verschiedensten Universitäten des Landes.

Diese Protestwelle an den US-Universitäten diente als Vorbild für Studierende weltweit und mit dem israelischen Angriff auf Rafah Anfang Mai –  das bis dahin einzige Schutzgebiet für die Bevölkerung Gazas –, sprang der Funke der US Bewegung auf zahlreiche Länder und so auch Deutschland über. Am 7. Mai versuchten über hundert Studierende der FU Berlin ebenfalls ein Protestcamp auf ihrem Campus zu errichten, welches in wenigen Stunden vonseiten der Hochschulleitung unter der Führung von Günter Ziegler mittels der Polizei gewalttätig geräumt wurde. Dennoch stellte das Camp einen Aufschwung der Studierendenbewegung dar, nicht nur wegen der Aktionsform, sondern wegen der spontanen Aktivierung von breiteren Teilen der Uni-Angehörigen. Noch nie waren annähernd so viele Menschen an Palästina-solidarischen Protesten an der FU beteiligt und noch nie war die Stimmung unter ihnen so kämpferisch. Hunderte Studierende sahen aus dem Gebäude, wie ihre Kommiliton:innen im Hof festgenommen und abgeführt wurden –  ihre Versuche der Solidarisierung wurden mit Pfefferspray in den Gängen der Uni beantwortet. In der Reaktion darauf fanden sich immer mehr Studierende in Solidarität mit dem Camp vor der Uni ein und stellten sich der Polizei entgegen, die mit massiver Gewalt reagierte.

Dies führte zu einem offenen Brief von über 1.000 Professor:innen und Dozierenden in Verteidigung des Protests und der Meinungsfreiheit, auf das eine massive Hetze von Seiten der BILD folgte, sowie ein Versuch der Bildungsministerin Stark-Watzinger, Fördergelder zu entziehen und die Verfassungskonformität der Unterzeichner:innen zu prüfen. Das Palästina Komitee der FU organisierte gemeinsam mit unserer Hochschulgruppe Waffen der Kritik und Hochschulbeschäftigten eine Kundgebung gegen die Repression und Hetze. Dies war ein wichtiger Schritt, insbesondere angesichts der durch das von Unileitung, Staat und Medien geschaffene repressive Klima, durch das Dozierende lange zum Schweigen gebracht worden waren. 

Die Ereignisse an der FU entfalteten sich zeitgleich zur Errichtung weiterer Camps, wie an der Uni Hamburg am 6. Mai und der Uni Bremen am 8. Mai. In München wurde durch das Unikomitee für Palästina und weiteren Organisationen am 10. Mai ein legales Camp aufgebaut, welches nach dem gescheiterten Verbotsversuch der Stadt bis heute steht. Diesem Beispiel folgten Studierende anderer Universitäten, wie an der RWTH Aachen am 15. Mai , an der Uni Köln am 25. Mai und Freiburg am 28., dann im Juni an der Uni Leipzig (10.), in Göttingen (27.) und zuletzt im Juli in Regensburg (3.-7. August). Vom 22. bis zum 24. Mai fand zudem eine Besetzung des sozialwissenschaftlichen Instituts der Humboldt Universität Berlin statt, das kurzweilig in „Jabalia Institute“ umgetauft wurde und dessen Wände zum widerständigen Schauplatz der Wut über die Komplizenschaft der Uni im Genozid wurde. Die darauffolgende gewalttätige Räumung – selbst gegen Journalist:innen –  und Verhaftungen der Studierenden, sei laut der HU Präsidentin Julia von Blumenthal von „ganz oben“, also der Wissenschaftssenatorin im Einklang mit dem Bürgermeister Wegner, verordnet worden. In der darauffolgenden polemischen Debatte blieb bewusst unterbetont, welche Zäsur im Bereich der Hochschulautonomie dieser Eingriff darstellt.


Diese zweite Welle der Bewegung zu analysieren birgt die besondere Herausforderung, die Gemeinsamkeiten hinter ihrer Heterogenität zu identifizieren, deren Unterschiede wir als Waffen der Kritik in Berlin, München, Bremen und Münster erleben konnten. Alle Camps wurden vordergründig von Studierenden getragen, die als erster klar erkennbarer gesellschaftlicher Sektor auftraten. Ihr Anteil innerhalb der Studierendenschaft blieb jedoch eher beschränkt. Ihre politische Zusammensetzung ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich, so sind an manchen Universitäten eher linkere Organisationen anführend, an anderen Unis sind es Studierende die aus humanitären, kulturellen oder religiösen Gründen in Aktion traten. Dies drückt sich auch an der politischen Verwendung der Camps aus, die meist vor allem dazu genutzt wurden, inhaltliche Workshops, Bildungs- und Diskussionsveranstaltungen, sowie die kulturelle Nähe zu Palästina in Musik, Essen und Kunst zu ermöglichen. 

Die politischen Forderungen, vor allem in der Verteidigung demokratischer Rechte und dem Abbruch spezifischer Kooperationen zwischen israelischen und deutschen Universitäten, sowie die Anklage der vom Genozid profitierenden Großkonzerne stellten einen Fortschritt im Verhältnis zum Programm der ersten Welle dar. Ebenso wurden zu diesem Zeitpunkt immer weitere politische Gräueltaten des Imperialismus angeklagt, sei es der sogenannte Bürgerkrieg im Sudan oder die mörderische Ausbeutung der Minen im Kongo. Diese objektivere Ausrichtung gegen den Imperialismus wurde jedoch kontrastiert durch eine immer wiederkehrende Selbstbeschränkung mit der Logik „es lenkt von Gaza ab“ bis hin zu einer antistrategischen Denkweise nach dem Motto „alle, die nichts tun, sind genauso verantwortlich für den Genozid“. Aus den genannten Gründen – das Einnehmen einer Vorreiterrolle als klar erkennbarer, in die Bewegung eingreifender Sektor und der Entwicklung eines weitergehendes Programm zu entwickeln mit eigenen Methoden –  muss die Studierendenschaft als Avantgardesektor der Palästinabewegung verstanden werden.

Ebenso können wir sehen, dass die Repression gegen diese Avantgarde ein Exempel statuieren soll, auch wenn sie nicht überall gleichermaßen verläuft. Hervorzuheben ist die Wiedereinführung des Ordnungsrechts an Berliner Hochschulen durch den schwarz-roten Senat, welcher auf eine Welle des palästinasolidarischen Protests an den Unis folgte und Exmatrikulation aus politischen Gründen ermöglicht. Auch in Bayern bereitet die Landesregierung einen ähnlichen Angriff vor. Zusätzlich soll dort ein Kooperationsgebot mit der Bundeswehr eingeführt werden, das bedeutet die verpflichtende Zusammenarbeit der Universitäten mit der Bundeswehr zur Rüstungsforschung.

Nach monatelangen Auseinandersetzungen sind materielle Errungenschaften nur an wenigen Universitäten ersichtlich. An der Universität von Kalifornien, Berkeley und Wisconsin-Milwaukee sahen sich die Hochschulleitungen dazu gezwungen, sich für einen Waffenstillstand auszusprechen. An der irischen Hochschule Trinity College wurden seit Juni die Investitionen durch israelische Unternehmen gestoppt, ebenso wie in Barcelona. Hinzu kommt der Rücktritt von Nemat „Minouche“ Shafik, der Präsidentin der Columbia University, die für die Repression verantwortlich war. In Deutschland ist jedoch davon keine Spur und die Hochschulleitungen verweigern in fast allen Städten den Dialog. International ist im Allgemeinen eine Stagnation der Bewegung zu beobachten, die sich nicht nur in ausbleibenden Erfolgen, sondern auch im Rückgang von öffentlich wahrgenommen Aktivitäten und der Anziehung von neuen Aktivist:innen zeigt. 

Drei Tendenzen der studentischen Bewegung

Von dieser Situation ausgehend, werden in der deutschen Bewegung drei Tendenzen sichtbar: der Rückzug/Routinismus, ein symbolischer Radikalismus oder die politische Ausweitung. Der Rückzug ist aktuell ein Symptom, dass sich aus der Erschöpfung monatelanger Aktivität entwickelt, ebenso auf die Skepsis, die bisherigen geringen Ergebnisse verändern zu können. Die andere Seite dieser Tendenz ist die Routinisierung des Protests, sei es in Form identisch sich wiederholender Mahnwachen, Infostände oder die monatelange Aufrechterhaltung von Protestcamps. Obwohl solche Aktionen im Gegenstrom zur deutschen Staatsräson Mut erfordern, führen sie nicht zu einer Ausweitung der Bewegung, sondern dienen vor allem der Aufklärung, durch die Passant:innen zu passiven Beobachter:innen oder höchstens zu besser informierten Bürger:innen gemacht werden. Diese Tendenz hat eine konservative Wirkung, die darauf hinausläuft, einen Schritt zurückzugehen und vor allem die Linie der ersten Welle wieder aufzunehmen.

Der symbolische Radikalismus ist aktuell im harten Kern der Studierendenbewegung am verbreitetsten und kommt immer wieder zum Ausdruck. In Deutschland wurde diese Tendenz am stärksten an den Berliner Universitäten, insbesondere bei der HU-Besetzung sichtbar. Die Desillusionierung gegenüber den internationalen bürgerlichen Institutionen hat die Tendenz hervorgebracht, den physischen und symbolischen Widerstand als einzig denkbare Option zu erachten. Die Logik dabei kann man zusammenfassen als „wenn wir schon keinen Einfluss auf die Macht haben können, so sollen sie so hart wie möglich dafür zahlen“. Die Repression wird hierbei in Kauf genommen und zu einem moralischen Militanzbeweis im Sinne eines Märtyrertums stilisiert. Die prinzipielle Ablehnung von legalen Aktionsformen und der Fokus auf politischen Vandalismus sind weitere bestimmende Elemente. Sie bildet somit eine „sektiererische“ Tendenz, die den Massen der Studierendenschaft (und dem Rest der Bevölkerung) für verloren erklärt und den Rücken zukehrt.

Diese Orientierung geht einher mit einem unkritischen Verhältnis zu den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des palästinensischen Widerstands, weshalb immer stärker eine Offenheit gegenüber dem politischen Islam sichtbar wird, die derzeit die Führung in Palästina einnimmt. Die Problematik dessen liegt nicht auf einer moralischen Ebene, da uns die Frage nach einer prinzipiellen Verurteilung des palästinensischen Widerstands in diesem klaren Fall des Kolonialismus fernliegt. Ihr Problem liegt darin, dass die „Strategie“ des Widerstands und die Methodik des bewaffneten Kampfs die Hamas, die Islamischer Dschihad oder Hisbollah verfolgen, nie zum Sieg über den Imperialismus und Zionismus führen können. Vielmehr reproduziert diese Strömung den israelische Mythos, es handele sich um einen „religiösen Konflikt“. Sie setzen weniger auf die Mobilisierung der palästinensischen Massen und die Solidarität der Werktätigen in der gesamten Region, als auf vereinzelte (meist eher symbolische) militärische Aktionen einer abgetrennten Elite von Kämpfern und den Schulterschluss mit reaktionären Regimen, wie denen des Irans und Syriens, die aus kapitalistischen Machtinteressen statt aus antikolonialen Beweggründen agieren. Ebenso wenig streben die derzeit herrschenden politischen Führungen in Palästina eine Befreiung an, in der jeder Mensch unabhängig von Ethnie, Religion, Geschlecht oder sexueller und geschlechtlicher Identität das gleiche Recht erfahren würde. Wer also der ethnischen/religiösen Apartheid, der Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen und der kapitalistischen Ausbeutung einen Ende setzen will, muss die politisch-strategische Debatte mit dieser Tendenz ernst nehmen und gegen derartig reaktionäre Vorstellungen mit einer revolutionär sozialistischen Strategie diskutieren.

Bevor wir uns der Frage nach der politischen Ausweitung der Bewegung widmen, erachten wir es als notwendig über die Führungen und unterschiedlichen politischen Tendenzen nachzudenken:

Mit dem kleineren Übel gegen den Genozid?

Wie bereits angeführt, ist die Palästinabewegung heteregon und es lässt sich keine einheitliche politische Führung ausmachen. Ein Zeichen für diesen Mangel einer parteiischen Führung waren die EU-Wahlen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) konnte mit einem pazifistischen Diskurs, der die Notwendigkeit von diplomatischen Anstrengungen für einen Waffenstillstand in den Vordergrund stellte, teilweise aus der Empörung über den Genozid politisches Kapital schlagen. Währenddessen wendeten sich die aktivistischen, zumeist akademisch geprägten Teile der Bewegung MERA25 zu. Die Partei trat bei verschiedenen Demonstrationen und Veranstaltungen wie dem Palästina-Kongress als Mitorganisatorin auf und stellte Palästina in das Zentrum ihres Wahlkampfes. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei MERA25, ähnlich wie bei der weiter rechts stehenden BSW, um ein reformistisches und populistisches Projekt handelt, das falsche Illusionen in die imperialistische EU schürt. Sie formuliert für die Bewegung keine Perspektive, die darüber hinausgeht, progressive Politiker:innen in bürgerliche Institutionen zu wählen, wo diese dann auf die Einhaltung des Völkerrechts pochen. Diesen Weg zu gehen, wird die Palästina-Bewegung nicht voranbringen, sie kann sich sogar in den Hoffnungen auf die Parlamente und Gerichte verlieren. Die Partei DIE LINKE spielte hingegen kaum eine Rolle und verhielt sich der Bewegung gegenüber passiv bis feindselig. Auch die Teile der Partei, die formal eine pro-palästinensiche Haltung einnehmen, wie der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband (SDS) oder der Landesverband Baden-Württemberg, schreckten vor einem offenen Kampf mit der pro-zionistischen Führungsriege zurück und konnte sich daher kaum in der Bewegung verankern.

Ebenso hat ein winziger Teil der Bewegung für „kommunistische“ Parteien gestimmt, die in der Bewegung eine Rolle spielten, wie die DKP und MLPD. Orientiert an humanitären Forderungen, zeigten sie sich vor allem auf der Straße statt in den selbstorganisierten Unikomitees und trugen nicht dazu bei, die Bewegung zu organisieren, geschweige denn auszuweiten. Das hängt unter anderem mit ihrem stalinistischen Programm zusammen, das kein Interesse daran hat, eine der größten Hürden der Bewegung mit selbstorganisierten Arbeiter:innenvernetzungen herauszufordern: die bürokratischen Gewerkschaftsführungen. Den stalinistischen Parteien nach sollen nicht die Aktionen der Studierenden beziehungsweise der Arbeiter:innenklasse einen Waffenstillstand herbeiführen, vielmehr soll die DGB-Führung mit den Regierenden zusammen diplomatisch das Morden beenden, um zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu kommen. Doch wie der Verlauf des Genozids sowie die fortlaufende Landnahme in der West Bank zeigen, verlängern solche Scheinlösungen nur das Elend, als einen sozialistischen Ausweg durch eine völlige Befreiung Palästinas zu erreichen.

Als Trotzkistische Fraktion (Internationale Strömung, der RIO, Herausgeberin von Klasse Gegen Klasse, angehört) haben wir mit unseren Jugendorganisationen, wie Waffen der Kritik in Deutschland, monatelang während der ersten Welle am Aufbau von Komitees an Universitäten gearbeitet, die somit an einigen Städten bereits die Möglichkeit dieses Sprungs vorbereiteten. Wir organisierten gemeinsam mit Kommiliton:innen, die in der Bewegung aktiv waren Banneraktionen, Proteste vor den Unis und Anträge für die Positionierung für einen Waffenstillstand bereits im Dezember 2023. Diese Komitees unterscheideten sich von den routinischen Aktionseinheiten innerhalb der radikalen Linken dadurch, dass sie nicht eine Summe bereits existierender Organisationen sind, sondern ihre Stärke aus der Selbstorganisierung eines gesellschaftlichen Sektors schöpfen. Das bedeutet, dass Menschen, die sonst nicht politisch organisiert sind, dadurch politisch aktiv werden. Aktionskomitees sind somit darauf ausgerichtet, eine Fraktion (einen durch politische Übereinstimmung bestimmten Bruchteil) der Studierenden –  in diesem Fall –  die Möglichkeit zu geben ihren persönlichen Willen den Genozid ein Ende zu setzen mit einem politisch-organisatorischen Angebot in Aktion zu bringen. Ihr Ziel muss sein, für eine Ausweitung der Bewegung zu kämpfen, und zwar auf der breitest möglichen demokratischen Grundlage, wie beispielsweise in Form von Versammlungen. 

Solche Komitees haben wir als Strömung in vielen Ländern geschaffen, wie zum Beispiel in Paris, Toulouse oder Montpellier in Frankreich. Ebenso haben wir eine aktive Rolle in der Ausweitung der Bewegung an den Unis gespielt, wie bei einer Versammlung mit mehr als 1000 Studierenden und Beschäftigten an der Universität in Madrid oder einem Benefizevent zum Ende des Camps an der Universität von Chile in Santiago. Sie alle sind Ausdrücke der sowjetischen Strategie, die wir verfolgen. Diese verfolgt das Ziel, Keimzellen der Selbstorganisierung zu entwickeln, die in der Selbstbestimmung des Kampfes über offene Versammlungen, mit der bewussten Beteiligung von revolutionären Organisationen, den Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft aufzeigen. Entgegen der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft in der einzelne Kapitalist:innen, Politiker:innen und Bürokrat:innen über unsere Köpfe hinweg entscheiden, sehen wir die Bedingung zur Befreiung darin, dass die Arbeiter:innenklasse gemeinsam mit der Jugend und den Unterdrückten in Räten, orientiert an den sozialen und ökologischen Bedürfnissen, über die Produktion entscheiden. 

In allen Ländern, in denen wir uns befinden, traten wir für das Ende des Genozids ein, erklärten dabei jedoch, dass eine Befreiung Palästinas von Siedlerkolonialismus und Apartheid nur auf Grundlage eines laizistischen und sozialistischen Staates möglich ist. Für diese Perspektive kann es kein Verlass auf bürgerliche Staaten und Führungen geben, unabhängig von ihrem konjunkturellen Diskurs. Wir setzen auf das internationale Bündnis der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten gegen die Agenten des Kapitals. In diesem Sinne kämpfen wir auch gegen die Leugnung von Klassenunterschieden innerhalb von Nationalstaaten, wodurch ein sozialistisches Palästina nur das gemeinsame Werk der Arbeiter:innen – unabhängig von ihrer Ethnie oder Religion –  der Region sein kann. 

Die Ausweitung der Bewegung: Eine Bedingung zur Befreiung

Ein knappes Jahr der studentischen Palästinabewegung ist nun vorüber und wir müssen feststellen, dass wir als Studierende für die enorme Aufgabe des Kampfes gegen einen Genozid schlecht vorbereitet waren. In der Bewegung sind wir mit aller Trauer, Empörung und Wut gewachsen, ebenso wichtig ist es nun die richtigen Lehren zu ziehen, um besser vorbereitet zu sein, wenn unser Ziel darin besteht, dem Leid in Gaza und allem, wofür es steht, ein Ende zu setzen. Während wir hier diese Debatte führen müssen, hat sich in den USA jedoch in den letzten Wochen der Semesterferien und dem Semesterbeginn einiges getan. 

Viele Hochschulleitungen haben eine „Null Toleranz“-Politik verkündet, Organisationen wie Jewish Voice for Peace auf dem Campus verboten und Columbia selbst versperrt nun den öffentlichen Zugang auf das Hochschulgelände. Trotz dieser neuen repressiven Maßnahmen, den dutzenden Exmatrikulationen und mehr als 3.000 verhafteten Studierenden im letzten Semester, bereiten sich tausende Studierende auf das kommende Semester vor. Die Organisation National Students for Justice in Palestine (SJP) organisierte eine Summer School zur Weiterbildung für Aktivist:innen unter anderem von Jewish Voices for Peace und der Muslim Students Association. Die Young Democratic Socialists of America (YDSA) – Jugendorganisation des linken Flügels der Demokraten – haben in ihrem Kongress eine Resolution beschlossen, im aktuellen Semester Hochschulstreiks für Palästina zu organisieren. Dafür soll eine demokratische Kampagne durchgeführt werden mit den Forderungen nach einem Waffenstillstand und die freie Meinungsäußerung auf dem Campus. Das ausgesprochene Endziel soll die Befreiung Palästinas sein, was jedoch nicht näher definiert wird.

Wie wir dieses Jahr sehen konnten, hat die Studierendenschaft in den USA eine Vorbildfunktion gespielt und so ist es höchstwahrscheinlich, dass ihre Aktionen in Deutschland erneut einen Effekt haben werden. Hochschulstreiks sind dabei Methoden, die ohne eine Ausweitung der Bewegung undenkbar sind. 

In der studentischen Palästinabewegung in Deutschland hat sich in vergangenen Monaten zunehmend eine sektiererische Haltung ausgebreitet. Diese ist durch ein tiefes Misstrauen gegenüber denjenigen, die bisher nicht aktiv für Palästina geworden sind, gekennzeichnet und trifft insbesondere auf die Strömung zu, die wir als symbolischen Radikalismus charakterisiert haben. Stattdessen findet, oft in Bezugnahme auf die eigene Sicherheit, ein Rückzug in den kleinen, vertrauten Kern von Aktivist:innen statt, ohne den Anspruch, von diesem Kern heraus breitere Teile der Bevölkerung zu gewinnen. Dieser Reflex mag angesichts der massiven Repression und des von Medien und Politik heraufbeschworenen feindseligen Klimas verständlich sein, es ist jedoch ein schwerer Fehler. In der Konsequenz bedeutet dieser Rückzug eine Kapitulation: Sie ist Ausdruck der Vorstellung, einem übermächtigen Gegner gegenüberzustehen, der zwar radikal bekämpft werden muss, aber nicht besiegt werden kann. Wir denken hingegen, dass wir noch nicht verloren haben.

Damit die Palästinabewegung erfolgreich wird, ist eine Ausweitung im doppelten Sinne notwendig: physisch und programmatisch. Damit Aktionen über einen rein symbolischen Charakter hinauswachsen können, müssen wir mehr werden. Der mutige und entschlossene Kern, der sich in den vergangenen Monaten gebildet hat, darf sich nicht mit sich selbst zufriedengeben, sondern muss darum kämpfen, einen Masseneinfluss zu erringen. Dabei gibt es bestimmte Sektoren, denen eine herausgehobene strategische Rolle zukommt. Dazu zählen die Arbeiter:innen in den Schlüsselindustrien, wie der Metall- und Elektroindustrie und der Logistik. Sie haben die Möglichkeit, große Teile der Wirtschaft zum Erliegen zu bringen und der imperialistischen Kriegsmaschienerie, die den Genozid in Gaza erst ermöglicht, schwere Schläge zuzufügen. An den Universitäten allein kann die Befreiung nicht erkämpft werden, dazu fehlt ihnen die strategische Position im Produktionsprozess. Allerdings können sie als „Produktionsstätte der Ideologie“ in der Lage sein, eine Strahlkraft zu entwickeln, die über sie selbst hinauswächst und Kämpfe in anderen Sektoren entfacht. Erste Ansätze davon haben wir in den USA bereits gesehen, wo Arbeiter:innen im Zusammenhang mit den Campus-Protesten in den Streik getreten sind. Ebenso fand am 27. September im spanischen Staat ein Generalstreik in Solidarität mit Palästina statt, mit Straßenblockaden, Streikposten bei Airbus, Amazon und in Krankenhäusern, sowie Tausenden von Studierenden auf den Straßen.

Damit die Universitäten aber diese Rolle spielen können, braucht es auch dort eine Ausweitung der Bewegung: Die studentische Avantgarde muss möglichst breite Teile der Studierenden und Beschäftigten hinter sich versammeln und in den Kampf einbeziehen. Das ist auch die Grundvoraussetzung, um der staatlichen Repression wirklich etwas entgegensetzen zu können. Die physische Ausweitung hängt eng zusammen mit der programmatischen Ausweitung. Um die Brücke zu weiteren Sektoren schlagen zu können, muss die Bewegung ein Programm aufwerfen, das den Kampf für ein freies Palästina in einen größeren Kontext der kapitalistischen Krise einbettet. Forderungen sollten dabei natürlich nicht beliebig gestellt werden, sondern das Ziel verfolgen, größere Teile der Arbeiter:innen und Jugend in Aktion zu bringen und in diesem Prozess die Konfrontation mit der Staatsmacht zu vertiefen. Wie kann das gelingen?

Rechtsruck, imperialistische Aufrüstung und Kürzungspolitik: Der Kampf um die Hegemonie

In den zentralen imperialistischen Ländern ist neben der mehrheitlichen Unterstützung des Genozids in Gaza ein weiteres zentrales Merkmal sichtbar: der Rechtsruck. Trump in den USA, Rassemblement Nationale in Frankreich und die AfD in Deutschland haben sich zu den wichtigsten politischen Kräften entwickelt und streiten wortwörtlich um die Macht. Diese Kräfte haben sich nicht nur durch ihre rassistische und patriarchale Hetze zu einem scheinbar festen Bestandteil der politischen Landschaft entwickelt, sondern konnten in den letzten Jahren als Taktgeber die Mitte-Linksregierungen vor sich hertreiben. Wir konnten auch sehen, wie diese höchst antisemitischen Kräfte zu fanatischen Zionist:innen wurden und besonders die AfD als rechtsaußen Opposition vereint mir der Ampel hinter der pro-zionistischen Staatsräson steht. Diesen inneren Widerspruch, der klaren zionistischen Einheit zwischen der „demokratischen Regierung“ und der „antidemokratischen Opposition“ gilt es zu offenbaren, um einerseits zu zeigen, dass von Brandmauer in der Frage keine Spur ist und andererseits die extreme Rechte nicht nur den israelischen Staat regiert, sondern auch seine größten Unterstützer:innen im Ausland darstellt.

Gleichzeitig konnten wir in den letzten Monaten die Zunahme des militanten Faschismus sehen, in Großbritannien durch wahre Pogrome auf Geflüchtete und in Deutschland durch Angriffsversuche auf die CSDs. Ebenso hat sich zuletzt im rechtsterroristischen Brandanschlag gegen das Palästina Camp in München gezeigt, dass wir unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht, auf diesen Rechtsruck bereits aus Gründen der notwendigen Selbstverteidigung antworten müssen. 

Unsere Antwort darf hierbei nicht selektiv sein, sondern muss vor allem davon getragen werden, die möglichst breiteste demokratische Einheit aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu suchen. Heißt dies, das eigene Programm zu verwerfen oder zu verwässern? Auf keinen Fall können wir die erhoben Banner gegen den Genozid und für die Befreiung Palästinas verwerfen, vielmehr muss das Ziel sein, für dieses Programm eine breitere Überzeugung zu schaffen. Das heißt, dass eine vollständige Zustimmung nicht zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf, etwa gegen die extreme Rechte, gestellt werden darf. Ansonsten besteht die Gefahr, sich zu isolieren und den reformistischen Parteien dieses Feld zu überlassen. Besonders relevant erscheint uns hierbei, anzuklagen, wie die vermeintlichen demokratischen Parteien das Versammlungsrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit im Falle der Palästinabewegung mit Füßen getreten und somit der extremen Rechten einen Vorschub geleistet haben.

Im Kampf um eine solche Einheitsfront gegen die Rechten muss die palästinasolidarische Bewegung ihre antiimperialistischen Forderungen, die sie an den Universitäten erhoben hat, ausweiten. Die Tendenz, Gemeinsamkeiten mit anderen Fällen der Unterdrückung ganzer Völker zu benennen, ist ein wichtiger internationalistischer Schritt, jedoch machen wir einen Fehler, wenn wir bei der Aussage „der Globale Norden unterdrückt den globalen Süden“ stehen bleiben. Denn auch die Gesellschaften des „Globalen Südens“ sind nicht monolithisch, sondern in Klassen gespalten. Ihre Regierungen vertreten nicht die ausgebeuteten und unterdrückten Massen, sondern die lokalen Bourgeoisien, die mit imperialistischen Mächten kollaborieren und die eigene Bevölkerung ausbeuten und unterdrücken, um ihre materiellen Privilegien zu sichern. Das beste Beispiel hierfür ist die ägyptische Bourgeoisie, dass in Worten dem palästinensischen Volk Solidarität zollt, während es die Anführer der palästinasolidarischen Studierendenbewegung ins Gefängnis steckt, denn sie wissen um die Explosivität der Jugend, die sich auch gegen ihre eigenen Privilegien wenden können. Das palästinensische Volk steht wie so viele andere unterdrückten Völker im Zugzwang der imperialistischen Weltordnung. Das bedeutet, dass die koloniale Unterdrückung nicht isoliert auf nationaler Ebene gelöst werden kann, sondern es einen internationalistischen Kampf, für den Sturz des imperialistischen Systems braucht. Der Genozid in Gaza ist die Spitze eines Eisbergs, dass nicht von Land zu Land erklärt werden kann. Ein besonders brisantes Beispiel für die zunehmend kriegerische Tendenz des Imperialismus ist die Militärübung „Rim of the Pacific“, die von der US-Marine angeführt wird und an der die israelische Armee neben zahlreichen Armeen des globalen Südens teilnehmen. Es handelt sich dabei um die größte Militärübung weltweit, die im Indopazifischen Meer durchgeführt wird um in der zunehmenden Blockkonfrontation mit China ein klares Signal zu senden.  

Der Imperialismus lässt sich jedoch nicht auf Militarismus reduzieren. Die Unterwerfung der abhängigen Länder, ihrer Arbeiter:innen und Ressourcen, der politischen Kontrolle unter den Imperialismus, geschieht vor allem über ökonomische Maßnahmen. Durch Investitionen, Kredite, Freihandelsabkommen und „Entwicklungshilfe“ wird sichergestellt, dass ein großer Teil der in den halbkolonialen Ländern geschaffenen Profite zurück in die imperialistischen Länder wie die USA, Deutschland und Frankreich fließt und eine eigenständige Entwicklung verhindert wird. Der Internationale Währungsfonds (IWF) spielt dabei eine zentrale Rolle, indem er „Wachstumskredite“ erteilt, durch die mehr als 50 Länder verschuldet und in die Abhängigkeit getrieben werden. Dieses Mittel endet jedoch nicht bei den „westlichen“ Staaten, sondern wird ebenfalls von China und Russland verwendet, weshalb diese Staaten keine antiimperialistische Verbündete darstellen. Gegen diesen Mechanismus konnten wir in den letzten Monaten sehen, wie sich die Jugend Kenias erhob und eine vom IWF geforderte und von der Regierung umgesetzte Steuererhöhung gegen die Ärmsten niederschlagen konnte. Diesem Beispiel folgt aktuell auch die Jugend Nigerias mit Massenproteste inmitten massiver Inflation unter dem Motto #EndBadGovernance. Ebenso entwickelt sich ein Aufstand der Jugend gegen die Korruption in Uganda, was eine Debatte aufmacht, ob wir am Anfang eines „Afrikanischen Frühlings“ stehen. Nicht zuletzt entwickeln sich Revolten in Indonesien und in Bangladesch stürzten die Studierenden und Teile der Arbeiter:innenklasse die Regierung. Ein kohärenter Kampf für ein freies Palästina kann nicht erdacht werden, ohne die internationalistischen Weichen zu stellen, was heißt, sowohl gegen den Militarismus, als auch gegen die IWF-Schulden zu kämpfen. Eine Befreiung in der Region ist somit undenkbar, ohne die Frage der zukünftigen Wirtschaftsverhältnisse zu denken. Ein freies Palästina kann nur entstehen, wenn die Massen der Region unter einer revolutionären Führung den Imperialismus und seine Verbündeten rauswerfen und schlussendlich die eigenen Kapitalist:innen enteignen, um ihre ökonomischen Bedingungen tatsächlich selbstbestimmt zu organisieren. 

In Deutschland muss der Kampf gegen den Imperialismus in Perspektive der internationalen Solidarität der Arbeiter:innenklasse gedacht werden, auch da die Militarisierung mit einer drastischen Kürzungspolitik einhergeht. Die 100 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr, sowie die geplante Erhöhung des jährlichen Militärbudgets auf die 2 Prozent des BIPs, gemäß den NATO-Vorgaben, verspricht einen Schuldenberg, welcher auf die nächste Regierung abgelagert werden wird. Ein Vorgeschmack der Bedeutung einer solchen Kürzungspolitik konnten wir politisch motiviert innerhalb der Bewegung sehen, an der Schließung von zwei Mädchenzentren in Berlin, aber auch den Kürzungen bei kulturellen Orten. Die Massivität jedoch, die die Einsparungen für die Aufrüstung bedeuten wird, kann heute nur ansatzweise gesehen werden, durch die Verschärfung von Bürgergeldsanktionen oder den Leistungskürzungen für Geflüchtete. Diese Primärangriff gegen die Schwächsten werden jedoch nur der Anfang sein und so kündigt selbst die miserable Deutsche Bahn bereits Sparmaßnhamen im Bereich des Personals an. 

Dass diese Maßnahmen breite Sektoren der arbeitenden Bevölkerung treffen werden, können wir nicht nur ahnen. Wir konnten bereits Ende letzten Jahres sehen, wie eine Bewegung der Bäuer:innenschaft die Hauptautobahnen dieses Landes blockierten. Gleichzeitig müssen wir nüchtern erkennen, dass sie hauptsächlich von rechten Kräften unterstützt wurden, da sich die meisten sozialen Bewegungen und linke Organisationen aus diesem Kampf raushielten. Unsere Aufgabe besteht somit darin, in die sozialen Kämpfe in Deutschland zu intervenieren, so beispielsweise in der anlaufenden Tarifrunde im Metall- und Elektrosektor, sowie im öffentlichen Dienst im Frühjar 2025. Ein erstes positives Beispiel dafür ist der Versuch, sich dem Kampf gegen die Privatisierung des Hamburger Hafens anzuschließen. In der Unterstützung der Arbeiter:innen dieser Sektoren können wir nicht nur eine breite Masse auf den Genozid in Gaza aufmerksam machen, sondern können wichtige Verbündete in den strategischen Sektoren des deutschen Imperialismus gewinnen. 

In Anlehnung an die Kampagne zur Tarifrunde an den deutschen Nordseehäfen braucht es im kommenden Herbst eine mutige palästinasolidarische Studierendenbewegung, die die Streiks derjenigen im Metall- und Elektrobereich unterstützt, die tatsächlich Waffen bauen, die unter anderem nach Israel geliefert werden, wie das bei Rheinmetall geschieht. Unsere Aufgabe ist es nicht, den Beschäftigten mit moralischen Vorwürfen zu begegnen, sondern in Solidarität gegen die Kapitalitalist:innen darüber zu diskutieren, wie wir unser Programm nach einem Stopp der Waffenlieferungen mit ihren Lohnforderungen von 7% kombinieren können, ohne das Arbeiter:innen Arbeitsplatzverluste zu befürchten haben, was in einigen streikbereiten Bereichen des Sektors zunehmend von Seiten der Bosse angedroht wird. Unsere gemeinsame Losung muss sein: Umstellung der Produktion auf zivile Zwecke, die beispielsweise die Verringerung klimaschädlicher Emissionen durch den Fokus auf Produkte zur Förderung der öffentlichen Infrastruktur beinhalten könnten, ohne dass nur ein einziger Arbeitsplatz dabei verloren geht. Eine Verbindung mit diesen Sektoren aufzubauen, ist kein leichtes Unterfangen, denn die Führungen der Gewerkschaften, in der IG Metall dominiert von der SPD, stehen bekanntlich an vorderster Front der Unterstützung des Genozids. Doch diese Versuche sind notwendig und in der heutigen Situation die dringendste Aufgabe der studentischen Avantgarde. Denn wirklichen Schaden im imperialistischen System können nur die Arbeiter:innen an den zentralen Orten der Industrie hervorrufen. Sie können aber nicht nur blockieren, sondern auch etwas Neues produzieren, dass den Bedürfnissen der Ausgebeuteten und Unterdrückten dienen kann, und nicht nur den Profiten der Waffenschmieden. Dieser gemeinsame Kampf kann auch die Perspektive der internationalen Kooperation der Arbeiter:innenklasse, in der ihre produktive Kraft nicht nur politische Forderungen, den Kapitalist:innen und ihren Regierungen aufzwingen kann, sondern ebenso die Weichen für eine Welt legen, in der die Selbstverwaltung das kollektive Leben regelt.

Schlussendlich müssen wir für unsere eigenen Bastionen, die Universitäten, die Folgen dieser Orientierung klarstellen. Die Forderung nach Desinvestitionen von Kriegsprofiteuren, die teilweise mit der Forderung nach der Öffnung der Finanzbücher der Universitäten kombiniert wurde, ist dafür wegweisend. Als Hochschulangehörige wissen wir in vielen Fällen, genauso wie Arbeiter:innen in anderen Betrieben nicht, wohin und wie viel Geld fließt. An dieser Stelle muss die Bewegung andocken und entgegen der Kürzungspolitik in der Bildung einen Übergang in eine neue, vergesellschaftete Art der Hochschulbildung entwerfen. Denn die Öffnung der Finanzbücher ermöglicht es, über eine weitere Forderung nachzudenken: die Universitäten und ihre Finanzierung sollten unter der Kontrolle der Beschäftigten und Studierenden, statt unter undemokratischen Cliquen liegen. Somit könnten die Universitäten im Dienste der Lösung der dringendsten Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung stehen, statt die Zerstörung des Kapitalismus am Leben zu halten.

Als marxistische Hochschulgruppe Waffen der Kritik kämpfen wir für eine Zeitenwende in unserem Sinne gegen die Kapitalist:innen und ihre Regierungen. Anhand der marxistischen Theorie und den Erfahrungen der Arbeiter:innenklasse wollen wir als Studierende einen Beitrag im Klassenkampf leisten. Wir haben eine Welt zu gewinnen – ohne Klassen und Staat, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Wir sind aktiv in Berlin, Bremen, Kassel, Leipzig, Münster, München und haben Genoss:innen in verschiedenen weiteren Städten. Schreibe uns, wenn du dich in Waffen der Kritik organisieren willst, per Mail oder auf Instagram. Hier kannst du mehr über uns erfahren.

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