Bidens Antrittsrede: Neoliberale Phrasendrescherei

21.01.2021, Lesezeit 15 Min.
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Joe Biden wurde als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. In seiner Rede sprach er sehr wenig über Politik, Grundsatzfragen oder die tatsächliche Situation von Millionen von Menschen. Stattdessen sprach er in vagen Worten über die Notwendigkeit von "Demokratie" und "Einheit", als er seinen Versuch begann, das Vertrauen in die US-amerikanischen Institutionen wiederherzustellen.

Kurz nachdem die USA die Marke von 400.000 Coronavirus-Toten erreicht hatten und von einem rechtsgerichteten Sturm auf das Kapitol erschüttert wurden, wurde Joe Biden als Präsident vereidigt. In einer dystopischen Szene traten Politiker:innen der Demokratischen Partei, ein Priester und Prominente vor einem Feld von Flaggen in einem hoch militarisierten Washington, D.C. auf, das als „Festung D.C.“ bekannt geworden ist. Alle trugen Masken.

Bidens Amtseinführung kommt in einem Moment, in dem Millionen von Menschen Veränderungen erwarten und die Leiden, die die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten in den Vereinigten Staaten betreffen, beseitigen wollen. Von der Beendigung rassistischer Polizeigewalt bis hin zum Erkämpfen von Grundrechten wie Gewerkschaften, einem existenzsichernden Lohn, bezahlbarem Wohnraum und Medicare for All haben Millionen ihre Hoffnungen auf progressive Reformen in Biden gesetzt. Bidens Einheitsrede versuchte zu verbergen, dass diese Erwartungen sowohl mit den Interessen des Großkapitals als auch mit dem Trumpismus kollidieren, der trotz der Tatsache, dass Trump Washington verlassen hat, immer noch eine bedeutende öffentliche Unterstützung genießt.

Zum ersten Mal in der Geschichte der USA weigerte sich der scheidende Präsident, zur Amtseinführung zu kommen. Am frühen Morgen wurden Donald und Melania Trump in der Air Force One nach Florida geflogen. Mike Pence jedoch nahm an der Einweihung teil, als jüngster Schritt in der Wiederherstellung seines Images und seiner Wiederaufnahme in das politische Establishment.

Bei der Einweihung wurde eindeutig versucht, Diversity hervorzuheben und sich oberflächlich an die größten Bewegungen der letzten vier Jahre anzulehnen: Black Lives Matter und den Women’s March. Kamala Harris, die erste Frau und Person of Color, die Vizepräsidentin wurde, wurde von Sonya Sotomayor, der ersten Latina am Obersten Gerichtshof, vereidigt.

Trotz der Versuche, die Kontinuität mit vergangenen Einweihungszeremonien zu wahren, war nichts an der Szene normal. Bei dem ganzen Spektakel ging es darum, das Image der US-amerikanischen Demokratie und ihrer Institutionen zu festigen, die noch vor wenigen Wochen durch die Proteste der Rechten erschüttert worden waren.

Seitdem wurden Donald Trump und die extreme Rechte sowohl vom Großkapital als auch vom politischen Establishment gemaßregelt und getadelt. Gestern hielt Trump eine Rede, in der er die Wahl einräumte und Biden Glück wünschte  — aber auch versprach, dass er „in irgendeiner Form zurück sein wird.“ Es gibt Gerüchte, dass Trump versucht, seine eigene politische Partei zu organisieren. Während die extreme Rechte kurzzeitig eingebremst wurde, wird sie nirgendwo hingehen  — und alles an dieser Einweihung deutete darauf hin, dass Biden das weiß.

Biden muss auf einem schmalen Grat zwischen einer radikalisierten extremen Rechten auf der einen Seite und einer zunehmend progressiven Basis in der Demokratischen Partei auf der anderen Seite wandern. In den Tagen vor der Amtseinführung enthielten seine Äußerungen einige Versprechen für progressive Politik und Reformen. Er wird Exekutivanordnungen erlassen, die den Bau der Grenzmauer stoppen und den Muslim (travel) ban beenden, und er versprach eine umfangreiche Antwort auf die Pandemie, einschließlich der Verdoppelung des nationalen Mindestlohns, ein neues Impfprogramm und 1.400-Dollar-Schecks für jeden, der dafür berechtigt ist.

Aber diese Politik kam in Bidens Einweihungsrede nicht vor. Tatsächlich fehlte jede Erwähnung der tatsächlichen Politik in Bidens Einweihungsrede. Es war eine leere Rede — völlig ohne einen Fahrplan, wie eine Biden-Präsidentschaft aussehen wird. Es war eine Rede, die sich um die Verherrlichung der amerikanischen Demokratie und hohle Aufrufe zur Einheit drehte. Seine Rede hatte einzig und allein den Zweck, ein Eimer kaltes Wasser auf die Brände zu sein, die in der US-amerikanischen Politik wüten. Angesichts des Ausmaßes der Pandemie und der Wirtschaftskrise ist dies ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die kämpfen.

Leere Demokratie und Einheit

Das größte Schlagwort der Inauguration war „Demokratie“ — von der das Establishment und die Medien behaupten, sie sei durch Donald Trump getestet und erschüttert worden. Tatsächlich eröffnete Joe Biden seine Rede mit den Worten: „Wir haben wieder gelernt, dass Demokratie kostbar ist. Die Demokratie ist zerbrechlich. Und in dieser Stunde, meine Freunde, hat die Demokratie gesiegt.“ Von der Zeremonienmeisterin Amy Klobuchar über den republikanischen Alibi-Senator Roy Blunt bis hin zu Biden selbst betonte jede:r Redner:in die „Stärke“ der US-amerikanischen Demokratie — und die Notwendigkeit, sie während Bidens Präsidentschaft zu stärken, zu pflegen und neu zu beleben. Diese Amtseinführung sollte die Wiedereinführung der US-amerikanischen „Normalität“ sein.

In seiner Rede forderte Biden ein Ende dessen, was er einen „unzivilen Krieg“ nannte. Er fuhr fort: „Politik muss kein wütendes Feuer sein“ — und forderte die Amerikaner:innen auf, sich trotz Meinungsverschiedenheiten zu vereinen. Er versprach, ein Präsident für alle zu sein und allen zuzuhören, auch den Trump-Wählern und der extremen Rechten. Diese Einheit, so Biden, basiere auf der Geschichte und der Identität als Amerikaner:innen.

Ironischerweise erklärte Biden deutlich: „Um diese Herausforderungen zu überwinden, die Seele wiederherzustellen und die Zukunft Amerikas zu sichern, braucht es so viel mehr als Worte. Es erfordert das schwer fassbarste aller Dinge in einer Demokratie: Einigkeit.“ Doch tatsächlich waren Worte das Einzige, was Biden zu bieten hatte. Während viele Präsidenten ihre Antrittsrede nutzen, um auf politische Maßnahmen hinzuweisen, die sie durchsetzen wollen, redete Biden wortgewaltig und bot dabei absolut nichts. Er erwähnte die Pandemie nur viermal in seiner Rede. Einheit und Demokratie hingegen wurden 14 bzw. 15 Mal erwähnt.

Während Biden über die Ängste der Arbeitslosen sprach, war seine einzige Lösung Einigkeit und Demokratie. Er sagte: „Ich verstehe, dass viele meiner amerikanischen Mitbürger mit Angst und Bangen in die Zukunft blicken. Ich verstehe, dass sie sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen. Aber die Antwort ist nicht, sich nach innen zu wenden, sich in konkurrierende Fraktionen zurückzuziehen … Wir können das schaffen, wenn wir unsere Seelen öffnen, anstatt unsere Herzen zu verhärten.“ Die Öffnung unserer Seelen zahlt den Menschen aber weder die Miete, noch bringt sie ihnen Essen auf den Tisch.

Der Mangel an Inhalt in Bidens Rede war ein absichtliches Kalkül: Biden und sein Team wissen, dass er mit den Forderungen seiner Basis kollidieren muss, um der Wall Street zu geben, was sie begehrt. Indem er den Fokus weg von der Politik und auf abstrakte Begriffe der „Einheit“ verlagert, versucht Biden, sich auf die Überparteilichkeit zu stützen, als Deckmantel für den bevorstehenden Rückzieher von seinen – ohnehin schon miserablen – Wahlkampfversprechen.

Ein weiteres klares Ziel dieser „Einheit“ und „Demokratie“ ist die Wiederherstellung der US-amerikanischen Hegemonie im Ausland und die Projektion des Bildes von starken und fähigen Vereinigten Staaten, die bereit sind, die Welt wieder zu führen. In diesem Bereich sind sich Biden und Trump einig: Die Prioritäten sind die Disziplinierung Chinas und die Aufstellung von US-Verbündeten zur Aufrechterhaltung der US-imperialistischen Hegemonie. Biden hat bereits angekündigt, Juan Guaidó als Führer von Venezuela anzuerkennen, und er übernimmt die Macht im selben Moment, in dem die USA sich darauf vorbereiten, die Karawane von Migrant:innen aus Honduras zu unterdrücken.

Undemokratische US Demokratie

Diese Verherrlichung der US-„Demokratie“ ist sowohl lächerlich als auch eine gefährliche Illusion für die Arbeiter:innenklasse und unterdrückte Menschen. Wie wir in den letzten Monaten gesehen haben, sind die Institutionen der US-“ Demokratie“, vom Wahlmännerkollegium, dem Obersten Gerichtshof und dem Senat bis hin zur Begnadigung durch den Präsidenten, von vornherein völlig undemokratisch. Was Alexandria Ocasio Cortez die „Zitadelle der Demokratie“ nennt, wurde auf der Versklavung von Menschen afrikanischer Abstammung, dem Völkermord an indigenen Völkern, kolonialer Ausplünderung und der Hyper-Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse gegründet.  Biden ist nicht daran interessiert, ein demokratischeres System zu schaffen, sondern eher daran, die Institutionen, die durch die Trump-Jahre beschmutzt wurden, wieder zu legitimieren. Indem er die letzten Monate als einen Triumph der Demokratie über Trump und die extreme Rechte darstellt, malt er Trump als Anomalie und stellt sich selbst so auf, dass er die repressive Macht des Staates in seinen Angriffen gegen die extreme Rechte stärkt.

Das Konzept der Einheit wird absichtlich und zynisch eingesetzt. Biden wird sicherlich zur Einheit gegen „spaltende“ Politik aufrufen, wie das Einfordern der Grundrechte: das Recht auf Gesundheitsversorgung oder eine saubere Umwelt, in der man leben kann. Er sucht nach einem überparteilichen Konsens, was sicherlich bedeutet, dass alle Zugeständnisse, die Biden anbietet, das Ergebnis eines großen Drucks durch seine soziale Basis sein werden, die schon ihre Bereitschaft gezeigt hat, sich auf der Straße zu mobilisieren.

Eine fragile Einheit

Bidens Hyperfokus auf Demokratie und Einheit offenbart, was für eine schwache Präsidentschaft er anstrebt. Für ein Land, das sich in einer wirtschaftlichen, politischen und gesundheitlichen Krise befindet, bringt Joe Biden leere Worte. Aber warum? Weil er verzweifelt versucht, eine Anti-Trump-Koalition zusammenzuhalten, die ihn zur Präsidentschaft gebracht hat und die sich vergrößert hat, als Trump immer unberechenbarer wurde und sich in die verschwörerische White Supremacist Far Right gelehnt hat.

Biden wurde von einer breiten Koalition gewählt, die jeden von George W. Bush bis Bernie Sanders und führende Mitglieder der DSA umfasste. Er war der Favorit der Wall Street, trotz einiger kapitalistischer Befürchtungen über zu viele Ausgaben. Er war in der Lage, diese Koalition mit dem einen Versprechen zusammenzuweben, das gestern zu sehen war: dass er die US-Institutionen relegitimieren, das turbulente politische Terrain beruhigen und Stabilität herbeiführen würde, damit Kapitalismus und Imperialismus weiterhin wie gewohnt funktionieren können. Sein zentrales Versprechen: Es wird sich nichts grundlegend ändern.

Und das war es, was bei seiner Amtseinführung zu sehen war. Das Problem ist aber, dass Millionen von Menschen Veränderung wollen – eigentlich brauchen Millionen von Menschen sogar Veränderung, nicht nur als Folge der neuesten Wirtschaftskrise und Pandemie, sondern nach jahrelangen Angriffen gegen die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten. Fast eine halbe Million hat bereits ihr Leben verloren. Und diese Massen könnten mit der Biden-Administration zusammenstoßen.

Biden versucht, das Zuckerbrot der Einigkeit und die Peitsche der Angriffe der extremen Rechten auf die Demokratie zu benutzen, um seine Koalition in der kommenden Periode hinter sich zu halten. Aber die Risse beginnen bereits zu erscheinen.  Biden versprach 2000-Dollar-Schecks, wird aber jetzt nur 1400 Dollar zur Verfügung stellen. Dies verärgerte viele seiner progressiven Wähler:innen und zog Kritik vom progressiven Flügel der Demokratischen Partei auf sich. Auf der anderen Seite kritisierte das Wall Street Journal, die Presse des Großkapitals, die Maßnahme und sagte, er gebe zu viel aus. Dies ist bezeichnend für den Druck, der auf Bidens Präsidentschaft lastet. Anstatt seine Antrittsrede dazu zu nutzen, einen umfassenden und ehrgeizigen Plan zu schmieden, um die USA aus der Krise zu führen, bot er nichts als hohle Worte und Floskeln. Das verheißt nichts Gutes für die Durchsetzung größerer Reformen: Es ist nicht einmal so, dass er Versprechen brechen wird. Er macht sie nicht einmal.

Der Weg für Biden scheint steinig zu sein. Er hat versprochen, in den nächsten 24 Stunden eine Fülle von Verfügungen zu erlassen, von denen viele dringend benötigte progressive Reformen anbieten. Allerdings werden diese Verfügungen nur Krumen sein, die den Appetit der Millionen sättigen sollen, die aufgrund der aktuellen Krise in großer Not sind. Denn die Wahrheit ist, dass Biden, wie seine Rede zeigte, keine wirklichen Lösungen hat, um der Arbeiter:innenklasse in der aktuellen Krise zu helfen.

Sicher, in den nächsten Wochen und Monaten kann er sehr wohl Zugeständnisse machen, aber wie Bidens Rede gestern gezeigt hat, ist er kein Verfechter von Reformen. Wenn US-Amerikaner:innen Veränderung wollen, müssen sie dafür kämpfen. Biden und die Demokraten wollen, dass alle sich zurücklehnen und darauf vertrauen, dass unter ihrer Führung alles gut werden wird. Aber sowohl die Geschichte als auch der gegenwärtige Moment zeigen, dass dies eine Lüge ist. Dieser Partei des Kapitals kann man nicht zutrauen, die Arbeiter:innenklasse zu schützen, genauso wenig wie man irgendeiner anderen Partei des Kapitals vertrauen kann. Es ist notwendig, dass US-Amerikaner:innen sich organisieren und sowohl für ihre Forderungen als auch gegen Bidens kommende Angriffe kämpfen.

Die zerbrechliche bürgerliche Einheit, die durch den Angriff auf das Kapitol geschaffen wurde, stellt eigentlich eine Chance für die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten dar. Millionen sind hungrig nach Veränderung. Das könnte die Arbeiter:innenklasse und die antirassistische Bewegung ermutigen, sich nicht zurückzulehnen und darauf zu warten, dass Politiker:innen für ihre Rechte verhandeln. Sie könnten beschließen, ihre Forderungen auf der Straße durchzusetzen. Die Linke muss ein Faktor bei der Reorganisierung der Arbeiter:innenklasse und der Wiederbelebung der Black-Lives-Matter-Bewegung sein; es ist an der Zeit, eine große nationale Bewegung zu fördern, die den Weg der Mobilisierung und der Vereinigung aller Kämpfe geht, so dass alle Missstände und Strapazen, die der Arbeiter:innenklasse, Schwarzen Menschen und allen People of Color, Immigrant:innen, Frauen, der LGBTQ+-Gemeinschaft auferlegt werden, zu einem einzigen Schrei werden, um all unsere Forderungen durchzusetzen. Dies ist ein erster Schritt, um die Bedingungen für einen Kampf zu schaffen, der weit gehen kann, einen Kampf, der darauf abzielt, den Zweiparteien-Imperialismus herauszufordern und dieses verrottete System von seinen Wurzeln her auszureißen.

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