Betreuung in Zeiten der Pandemie

06.03.2021, Lesezeit 30 Min.
1

Die Pandemie spitzt die Situation von Frauen, prekär Beschäftigten, Kindern und Alten weiter zu. Wie lösen wir die Betreuungskrise?

Onlineunterricht und -uni, ältere Verwandte in der Risikogruppe und neben Homeoffice auf die Kinder aufpassen: Für viele bedeuten Lockdown und Corona, dass die Frage der Betreuung und Pflege Angehöriger noch komplizierter wird als zuvor. Was ist die Grundlage für diese Situation und was können wir dagegen setzen? Im ersten Teil dieses Artikels wollen wir zunächst die Auswirkungen der Coronakrise auf die Betreuungs- und Reproduktionsarbeit betrachten und die Frage stellen, wie dies mit dem kapitalistischen System als Ganzes zusammenhängt. Anschließend wollen wir unsere Perspektive zur Lösung der Krise im Interesse der Arbeiter:innen vorschlagen.

Mit der Schließung der Schulen und Kitas im letzten März begann für viele Familien eine Notlage, die bis heute – trotz „Notbetreuung” in den Horts und Kitas – nicht gelöst ist. Fast neun Millionen Kinder, die im Normalfall in der Kita gewesen wären, mussten zu Hause bleiben. Lohnarbeitende Eltern stehen seitdem vor einem Dilemma: Können sie im Homeoffice arbeiten, müssen sie „nebenher” auf die Kinder aufpassen. Aufgrund der Pandemie ist es noch schwieriger, dabei Hilfe aus dem Umfeld zu bekommen. Und so bleibt vielen Eltern nichts anderes übrig, als eben rund um die Uhr zu arbeiten: Tagsüber Kinderbetreuung und Homeschooling, nachts dann das Homeoffice. Besonders Alleinerziehende stehen vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Viele Eltern treibt diese Situation in die Verzweiflung. Mehrere Zehntausende folgten dem Aufruf der alleinerziehenden Mutter Katharina Mahrt, die meinte „Home-Office und die Betreuung meines Kindes unter einen Hut zu bringen – das geht einfach nicht”.

Diejenigen, die weiterhin außer Haus arbeiten müssen, stehen vor der Wahl, ihre Kinder unbetreut zu lassen, die Großeltern, die selbst zur Risikogruppe gehören, um Hilfe zu bitten, oder ihre Kinder in die zuletzt überfüllte Notbetreuung zu geben – trotz der Sorge um Ansteckung. Hinzu kommt das Problem, dass die Arbeitszeiten der Beschäftigten im Schichtdienst, wie besonders im Krankenhaus oder in Pflegeheimen, schon im Normalzustand kaum mit den Betreuungszeiten der Kitas vereinbar sind.

Die Alternative, Kitas und Schulen einfach wieder zu öffnen, wie es zur Zeit passiert, ist aber auch keine Antwort. Schon unter „Notbetreuung” funktionieren die Kitas im zweiten Lockdown teilweise mit bis zu 90 Prozent Belastung. Beschäftigte beklagen, dass der Betreuungsschlüssel so schlecht ist, dass keine ausreichend kleinen Gruppen garantiert werden können. Viele kommen weiterhin krank zur Arbeit, um ihre Kolleg:innen nicht im Stich zu lassen. Beschäftigte aus Risikogruppen werden von staatlicher Seite oder den Vorgesetzten unzureichend geschützt. In den Einrichtungen und Schulen werden oftmals die Beschäftigten mit der Umsetzung der Hygienekonzepte alleine gelassen, ohne dass ihnen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. So sind deutlich zu wenig Luftfilter für Kitas und Schulen angeschafft worden. Und auch die Impfung für Grundschullehrer:innen und Erzieher:innen wurde erst nach langer Diskussion priorisiert. Währenddessen wurden Polizist:innen bereits in der ersten Impfverordnung vorgezogen, obwohl auch sie nicht in die direkte Risikogruppe derjenigen fallen, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Reinigungskräfte, die in Schulen, Krankenhäusern und Betrieben für die notwendige Hygiene sorgen, sollen weiterhin nicht prioritär geimpft werden, ebensowenig Lehrer:innen weiterführender Schulen.Trotzdem wird die Öffnung weiterhin vorangetrieben.

Viele Menschen haben angesichts dessen Angst, sich und ihre Familien einer Infektion auszusetzen. Der Vater Christoph Podewils startete eine Petition, um die Wiedereröffnung der Berliner Schulen zu verhindern und den Staat im Gegensatz dazu aufzufordern, die Online-Infrastruktur für die Schulen auszubauen. Innerhalb von zwei Tagen folgten 40.000 Personen seinem Aufruf. Kein Wunder, denn für viele ist die notwendige Infrastruktur zu Hause für eine Teilnahme am Unterricht nicht vorhanden. Und trotzdem wollen sie nicht zurück zu einer „Normalität”, die sie ihre Gesundheit oder gar ihr Leben kosten könnte. Wie eine jüngste Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin aufzeigt: Eltern sind häufig sehr unzufrieden mit der Betreuungssituation, sie sorgen sich derzeit aber sowohl um die Bildung als auch um die Gesundheit ihrer Kinder.

Neben Eltern und Schüler:innen haben im vergangenen Jahr auch Arbeiter:innen aus den Krankenhäusern gegen die Auswirkungen der Coronapolitik der Bundesregierung protestiert, da diese die Rettung der Konzerne dem Wohlergehen der Beschäftigten vorzieht. Sie machten deutlich, dass nicht nur die Pandemie, sondern auch der seit Jahren bestehende Personalmangel und andere strukturelle Probleme in den Care-Bereichen die Belastung der Beschäftigten untragbar machen.

Warum aber führt die Schließung von Schulen, Kitas und anderen Betreuungseinrichtungen in der Pandemie zu so deutlich sichtbaren sozialen Missständen und einer so massiven Überlastung der Familien? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns anschauen, welchen Stellenwert diese Arbeit in unserer kapitalistischen Gesellschaft hat und wie sie organisiert ist.

Produktion und Reproduktion des Lebens

All diese Bereiche der Betreuung und Erziehung gehören zur sogenannten Care-Arbeit (auch Sorgearbeit genannt). Sie werden auch mit dem Begriff Reproduktionsarbeit bezeichnet. Dieser beschreibt „Aktivitäten und Institutionen, die notwendig sind, um Leben zu machen, zu erhalten, und generell zu erneuern“1. Dazu gehört beispielsweise das Erziehen von Kindern, das Putzen, Kochen, die Pflege von Kranken und alten Menschen.

All diese Tätigkeiten wurden zu allen Zeiten menschlichen Lebens ausgeführt, wie schon Friedrich Engels feststellte:

Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie.

Im Kapitalismus spielt die Reproduktionsarbeit eine spezifische Rolle: Sie stellt nicht nur das Leben der Menschen sicher, sondern garantiert auch, dass Arbeiter:innen jeden Tag aufs neue mit ihrer Arbeitskraft Gewinne für das Kapital erschaffen. Deshalb ist sie im Kapitalismus so organisiert, dass sie eben jenen Zweck der Profitgenerierung besonders gut ermöglicht. In der Pandemie zeigte sich, dass dieser Bereich essentiell für das Funktionieren der Gesellschaft ist –- er ist „systemrelevant” und macht einen großen Teil der gesellschaftlichen Arbeit aus.

Auf dieser Grundlage fußt die Tatsache, dass diese Arbeit besonders Frauen zugewiesen wird: entweder wird diese Arbeit zu einem Großteil unbezahlt in den Familien oder unter prekären Bedingungen und zu niedrigen Löhnen, größtenteils von Frauen geleistet. Die Unterdrückung wird durch jahrhundertealte Vorurteile und staatliche (Familien-)Politik zusätzlich gestützt. Sie führt dazu, dass Frauen eher Berufe in der bezahlten Reproduktionsarbeit wie in der Erziehung und Pflege ergreifen und dass es als ihre „natürliche” Aufgabe gesehen wird, sich um die anderen Mitglieder der Familie zu kümmern – was es wiederum leichter macht, die Löhne in den Pflege-, Reinigungs- und Erziehungsberufen auf einem niedrigen Niveau zu halten. Zur Verdeutlichung dieser ungleichen Verteilung können einige Zahlen dienen:

Im Jahr 2013 betrug die unbezahlte Reproduktionsarbeit in Deutschland 89 Mrd. Stunden, während die Erwerbsarbeit nur 66 Mrd. ausmachte. Dabei leisteten Frauen das 1,5-fache an unbezahlter Reproduktionsarbeit wie Männer. Hinzu kommen noch die bezahlten Sorgetätigkeiten in den Krankenhäusern, Altenheimen, Kitas usw..

Die ungleiche Verteilung der unbezahlten Reproduktionsarbeit gestaltete sich auch während des Lockdowns nicht anders: Obwohl Väter mehr Zeit als zuvor mit ihren Kindern verbrachten, lag die Hauptlast weiterhin bei den Müttern. Im Vergleich zu vor der Pandemie stieg die durchschnittliche Betreuungszeit bei Vätern um 2,5 Stunden, während es bei Müttern 2,9 waren. Studien des DIW zeigten auch, dass besonders Mütter ihre Erwerbsarbeitszeiten reduzierten, um die Betreuung der Kinder zu garantieren.

Die Aufteilung der unbezahlten Arbeit innerhalb von Familien kann als eine individuelle Entscheidung einzelner Paare erscheinen, kommt aber tatsächlich auf der Grundlage von materiell ungleichen Verhältnissen zustande und verstärkt diese: Wenn beispielsweise heterosexuelle Paare Kinder bekommen, ist es meistens finanziell sinnvoll, dass Frauen ihre Arbeitszeiten reduzieren, weil sie im Durchschnitt weniger Geld verdienen. Steuerliche Instrumente wie das Ehegattensplitting verstärken diese Entscheidung noch. Diese vielen, scheinbar individuellen Entscheidungen verstetigen letztlich auch die Ideologie, die Frauen bestimmte Aufgaben zuordnet. Diese existieren aber eben nicht zufällig, sondern innerhalb der dafür förderlichen ökonomischen und politischen Verhältnissen.

Die Dynamik von Vergesellschaftung und Privatisierung

Reproduktionsarbeit, insbesondere in der Betreuung von Kindern und der Altenpflege, bleibt bis heute zu einem großen Teil eine Familienaufgabe, bei der davon ausgegangen wird, dass Familien grundsätzlich die Reproduktion des Lebens garantieren müssen und können. Nichtsdestotrotz wurden diese Tätigkeiten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland in gewissem Maße vergesellschaftet. Das Statistische Bundesamt schätzte beispielsweise, dass 2001 etwa zehn Prozent der Reproduktionsarbeit bezahlt stattgefunden hat, also (unter kapitalistischen Bedingungen) vergesellschaftet wurde2. Seitdem wird sich dieser Anteil sicherlich erhöht haben, wenn auch immer noch davon auszugehen ist, dass der erhebliche Großteil privat und unbezahlt geleistet wird. So kam es, dass 2018 über 760.000 Beschäftigte in Kitas arbeiteten, 300.000 mehr als zehn Jahre zuvor.

Diese Tendenz war vor allem staatlich organisiert, in den letzten Jahrzehnten beispielsweise durch den Rechtsanspruch auf einen U3-Kita-Platz oder den bundesweiten Ausbau der Ganztagsschule. Eine kleine Schicht kann nicht nur auf diese öffentliche Betreuung zugreifen, sondern sich zudem auch bezahlte private Betreuung mit Nannies oder Babysitter:innen leisten.

Gleichzeitig bleibt die Zahl derjeniger, die Angehörige privat Zuhause pflegen, hoch: So wurden beispielsweise im Jahr 2011 70 Prozent der Pflegebedürftigen nicht stationär, sondern zu Hause versorgt.3 Bereits damals waren es meist weibliche Familienangehörige oder externe Pflegekräfte, die diese Tätigkeit übernahmen. Über ein Drittel gaben an, dadurch kaum Kontakt zu anderen Menschen zu haben.4 Es ist stark davon auszugehen, dass sich diese Zahl aufgrund der Pandemie vervielfacht hat.

Als externe Pflegekräfte werden vor allem Migrantinnen beschäftigt, die in die imperialistischen Länder kommen müssen, um dort (meist auch für ihre Familien) Geld zu verdienen. Sie hinterlassen damit Lücken in der Reproduktionsarbeit in ihren Herkunftsländern, die wiederum von anderen Frauen gefüllt werden. In der Debatte wird dieses Phänomen „Global Care Chains” genannt. Hinzu kommen private Einrichtungen, die oft auch auf der Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft basieren, und Gewinne erwirtschaften, wie beispielsweise ambulante Pflegedienste oder Pflege- und Altenheime – diejenigen, die besser ausgestattet sind, sind dabei nur für finanziell Bessergestellte zugänglich. In den letzten Jahrzehnten wurden auch diejenigen Teile der öffentlichen Reproduktions-Infrastruktur, die Profite erzielen können, sukzessive privatisiert. Andere Teile sind weiterhin staatlich organisiert und unterfinanziert. Viele Menschen müssen daher zusätzlich aus eigener Tasche Dienstleistungen dazu kaufen, da die Mittel beispielsweise aus der Pflegeversicherung nicht ausreichen – und sie müssen oft auch neben der Erwerbsarbeit einen Großteil der Pflege übernehmen. Gerade in der Pandemie fallen zudem diese vergesellschafteten Angebote weg und die Sorgearbeit wird auf die Familien zurückgeworfen.

Diese widersprüchliche Situation, in der Frauen zuhause weiterhin für einen Großteil der Arbeit verantwortlich sind, es aber gewisse Angebote der Betreuung und Pflege gibt, ist verknüpft mit einer veränderten Bedeutung der weiblichen Erwerbsarbeit. Denn die Erwerbsbeteiligung von Frauen stieg in der BRD in den letzten Jahrzehnten steil an: Während 1995 55 Prozent der Frauen zwischen 15 und 65 erwerbstätig waren, waren es 2019 schon 72,8 Prozent – ein Anstieg von über 32 Prozent.5 Die gestiegene Erwerbsarbeit von Frauen war dabei einerseits das Ergebnis der Suche von Frauen nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Begleitet wurde dies in der zweiten Frauenbewegung auch von der Forderung nach vergesellschafteten Betreuungsangeboten. Dies zeigte sich nicht nur in politischen Forderungen, sondern beispielsweise auch in der Kinderladenbewegung in der BRD, die auf Selbsthilfe setzte und heute weitgehend in die staatliche Betreuungsinfrastruktur integriert wurde. Andererseits ist die steigende Erwerbsbeteiligung auch das Ergebnis staatlicher Politik, die mit weniger großzügigen gesetzlichen Regelungen beispielsweise zum Unterhalt und mit der Förderung einer gewissen Reproduktionsinfrastruktur Frauen als relativ billige Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt integrierte.6 Nicht zuletzt war dieser Prozess auch von einem Verfall der Löhne von Arbeiter:innen aller Geschlechter begleitet, der eine Erwerbsbeteiligung aller erwachsener Familienmitglieder zu einer Notwendigkeit machte.

Damit wird eine Entwicklung, die in der DDR – auf anderer gesellschaftlicher Grundlage – bereits weitestgehend erreicht war, auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt, wenn auch immer noch Aufholbedarf besteht. Eine bessere Betreuung ging einher mit einer höheren Frauenerwerbsquote: In den 80ern war sie mit 90 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Dabei muss auch hier erwähnt bleiben, dass die Hauptarbeit der Sorge auch in der DDR Frauen zugeschrieben wurde. Die Betreuung in Kindertagesstätten und ähnlichem war zwar sichergestellt, allerdings war sie weit davon entfernt, unter der Selbstbestimmung der Beschäftigten und Nutzer:innen zu sein. Auch hier war sie vor allem eingebettet in die Bedürfnisse des bürokratisierten Staates nach mehr Arbeitskraft und nicht Teil von einer Vision der Frauenbefreiung.

In der BRD herrschte in der Nachkriegszeit währenddessen das sogenannte „Alleinverdienermodell”. Die Vorstellung war, dass ein Familienmitglied (ergo der Mann) mit Vollzeitbeschäftigung einen ausreichenden Lohn verdienen würde, um die Familie zu ernähren. Nach der Eheschließung und spätestens nach Geburt des ersten Kindes blieben Frauen daher meist zu Hause und leisteten die unbezahlte Hausarbeit. Dies geschah auf Kosten der Selbstständigkeit der Frauen, die somit finanziell vom Mann abhängig waren. Lediglich die Möglichkeit eines Zuverdienst wurde vorgesehen. 1958 wurde dieses Modell durch das sogenannte „Ehegattensplitting” staatlich weiter gefestigt und gegenüber anderen Modellen bevorzugt7. Bis 1977 war es dem Ehegatten vorbehalten, seiner Frau die Lohnarbeit zu verbieten.

Statt allerdings von einem männlichen Alleinverdienermodell (welches ohnehin größtenteils nur für einen besser gestellten Teil der Arbeiter:innenklasse zu erreichen war) zu einem Doppelverdienermodell übergehen, entwickelte sich in der BRD in den Jahrzehnten des Neoliberalismus eher ein Modell, dass auch Ernährer-Zuverdienermodell genannt wird, in dem Männer tendenziell Vollzeit und Frauen Teilzeit arbeiten. Nur einige wenige Paare, können es sich leisten, auf kommodifizierte – d.h. warenförmige – Reproduktionsarbeit in dem Maße zuzugreifen, dass sie dieser Dynamik entkommen. Andere werden in dieses Modell hinein gezwungen, auch wenn es für sie erhebliche finanzielle Einbußen bedeutet, da der Arbeitsmarkt für Frauen gerade im prekären Bereich häufig nur Teilzeitarbeit anbietet. Diese Zweiteilung, die auch Teile des oft zitierten geschlechtsspezifischen Lohnunterschieds erklären, ergibt sich interessanterweise oft erst nach der Familiengründungsphase – ebenso wie die Lohnlücke in diesem Zeitabschnitt signifikant ansteigt. Das ist kein Zufall. Denn auch wenn die Reproduktionsarbeit in Deutschland teilweise vergesellschaftet ist, bleibt die Familie immer noch die grundlegende Einheit, die Reproduktionsarbeit gewährleistet und innerhalb derer dies vor allem Frauen zugewiesen wird. Dabei geht dieses Modell weiterhin von einer Familie aus, die aus zwei Elternteilen besteht – die oftmals schwierige Situation von Alleinerziehenden, die immerhin 19 Prozent der Familien mit Kindern ausmachen, ist darauf zurückzuführen. Dazu kommt die Tatsache, dass im Übergang weg vom Alleinverdienermodell die Unterhaltspflichten für geschiedene Eheleute deutlich reduziert wurden. Alleinerziehende Mütter – immer noch der weitaus größte Teil aller Alleinerziehender ist weiblich – sind so oft in einer Falle: Sie müssen arbeiten, müssen gleichzeitig unbezahlter Reproduktionsarbeit nachgehen und sehen sich einem Arbeitsmarkt gegenüber, der für Mütter oftmals nur Teilzeitarbeit vorsieht.

Und diese Rolle der Familie als Garantin der Reproduktion wird besonders in der jetzigen Pandemie bis aufs Äußerste ausgereizt. Auf die unbezahlte Arbeit in den Familien wird als scheinbar kostenlose Ressource zugegriffen, sie wird als Puffer genutzt, der jetzt eine Krisenpolitik ermöglichen soll, die die Profite der Unternehmen und die normale kapitalistische Funktionsweise so wenig wie möglich begrenzt. Dies ist kein neues Phänomen: Auch in der Zeit nach der Finanzkrise 2008 wurde in vielen Ländern mit Sparprogrammen die Reproduktionsinfrastruktur zurückgebaut, was zu einer erheblichen Mehrbelastung von Frauen mit unbezahlter Arbeit in der Familie führte.

Reproduktionsarbeit im Kapitalismus

In der feministischen Bewegung gibt es seit Jahrzehnten Debatten darüber, wie Reproduktion und Kapitalismus miteinander zusammenhängen und wer von dieser Konstellation profitiert. Im Buch Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus der argentinischen sozialistischen Feministin Andrea D’Atri, welches wir 2019 auf deutsch übersetzt haben, wird auf diese Debatten ausführlich eingegangen. An dieser Stelle muss es uns ausreichen, zu sagen, dass die Profiteur:innen – anders als dies von einigen Feminist:innen vertreten wird – nicht einfach alle Männer sind, die im Haushalt die Arbeitskraft ihrer Frauen ausbeuten (auch wenn es nicht zu leugnen ist, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung für Männer kurzfristig bequem sein kann). Es sind die Kapitalist:innen, die profitieren. Die ungleichen ökonomischen Bedingungen von Frauen und Männern und die kapitalistische Familienpolitik sind letztlich so konfiguriert, wie es der Produktion von Mehrwert am besten dient. Während sie darauf angewiesen sind, dass tagtäglich die Arbeitskraft unserer Klasse aufs Neue reproduziert wird, dient die heutige Organisation dazu, dass das Kapital dafür nur wenig zahlen muss. Gleichzeitig wird durch die teilweise Vergesellschaftung in Form von Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen sichergestellt, dass Frauen nicht nur indirekt in der Familie, sondern auch direkt ihre Arbeitskraft für die Produktion von Profit zur Verfügung stellen können (und müssen).

Reproduktion und Produktion waren immer schon aufs Engste miteinander verknüpft und jahrhundertelang sogar schwer voneinander abzugrenzen. Im Kapitalismus hat diese Verbindung eine besondere Form angenommen: Die Organisation der Reproduktionsarbeit wurde den Bedürfnissen der Mehrwerterzeugung unterworfen. Einerseits, indem die unbezahlte Arbeit in dieser Weise, unterstützt durch staatliche Familienpolitik, so organisiert wird, dass letztlich Lohnarbeit stattfinden kann. Andererseits, indem staatlich finanzierte Bereiche sich etablierten – beispielsweise öffentliche Schulen – die so wie die Haushalte zwar Mehrwertproduktion ermöglichen, diese aber nicht selber betreiben. In anderen Sektoren der Reproduktionsarbeit wird direkt Mehrwert produziert, beispielsweise in privaten Pflegeheimen oder Krankenhäusern. Gerade in Krankenhäusern wird dies staatlich so garantiert und organisiert, im Neoliberalismus wurde dies durch Privatisierungen und Instrumente wie das DRG-System vorangetrieben. Aber der Mehrwert, der in der bezahlten Reproduktionsarbeit abgeschöpft werden kann, ist äußerst gering im Vergleich zu anderen Dienstleistungs- oder Produktionssektoren. Die einzige Möglichkeit, die Profite leicht zu erhöhen, liegt in Sparprogrammen und der Verdichtung der Arbeit – Tendenzen, von denen Arbeiter:innen in der Pflege ein trauriges Lied singen können. Für das Kapital bleiben aber andere Sektoren weiterhin die zentralen, weshalb die Reproduktion so organisiert wird, dass sie die Aufrechterhaltung der Profiterzeugung genau dort gewährleistet. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Selbst die großen privaten Gesundheitskonzerne schaffen um ein vielfaches weniger Gewinn als die exportorientierte Industrie, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. 2018 erhielten die vier größten Klinikbetreiber Deutschlands zusammen rund eine Milliarde Gewinne; der Automobilkonzern BMW alleine schaffte mehr als das Siebenfache.

Diese grundlegende Hierarchie sehen wir auch in der Corona-Krisen-Politik: Die Gesundheitskrise wird genau so gemanagt, dass die Gewinne der Unternehmen nicht belastet werden. Einschränkungen werden auf die private Sphäre beschränkt, während die Produktion nicht angetastet wird. Insbesondere gilt das auch dafür, wie Reproduktionsarbeit in der Krise organisiert wird: Statt beispielsweise Eltern Freiräume für Betreuung zu schaffen, indem sie bei vollem Lohnausgleich freigestellt werden, gilt das Primat des Weiterfunktionierens der Wirtschaft, auch in Sektoren, die nicht essentiell für Gesundheit und Leben von Menschen sind. Die Produktion wird so auf der Grundlage der massiven Ausweitung der unbezahlten Arbeit von Millionen von Müttern (und Vätern) und privaten Betreuungspersonen von Alten und Kranken aufrechterhalten. Geld wird in die Rettung von Konzernen wie der Lufthansa gesteckt oder in Subventionen für (private) Elektromobilität, statt in die Ausstattung der Schulen und Kitas mit Luftfiltern.

Ein Programm zur Überwindung von Kapitalismus und Frauenunterdrückung

Die Antwort auf das Problem der Reproduktionsarbeit und die offensichtlichen Ungerechtigkeiten und Missstände in diesem Bereich muss sich mit dem Problem dieser grundlegenden Unterordnung der Reproduktionsarbeit unter die kapitalistische Mehrwerterzeugung auseinandersetzen. Im Feminismus existieren oft Antworten, die partiell richtig sind, die aber nicht an den Kern des Problems heranreichen: die gleiche Verteilung dieser Arbeit zwischen den Geschlechtern, die Organisation in Communities und die Aufwertung der Reproduktionsarbeit.

Mit einer geschlechtergerechteren Verteilung ist aber das Problem, dass die Reproduktion im Haushalt individualisiert wird und unter schlechten Arbeitsbedingungen stattfindet, nicht gelöst – auch wenn es sicherlich einzelne Frauen entlasten kann. Auch die Vorstellung, die Vergesellschaftung dieser Arbeit durch die Selbsthilfe in den Communities anzustreben, bleibt begrenzt, denn damit findet zwar eine Entlastung der Familien statt, die staatlichen und Profitinteressen bleiben aber unangetastet, wenn dies nicht mit einem offensiven Kampf dagegen verbunden wird. Denn am Ende ist es wiederum die unbezahlte Arbeit und das Geld vieler engagierter Eltern, die die Betreuung garantieren, anstatt dass die Kapitalist:innen und der Staat dies tragen. Letztlich endet dies meist in einer Integration in das System, wie beispielsweise bei der Kinderladenbewegung.

Und auch die Forderung nach Aufwertung der Reproduktionsarbeit enthält zwar politisch progressive Elemente, stößt jedoch in ihrer Umsetzung an objektive Grenzen. Seit vielen Jahren führen Beschäftigte aus diesem Sektor großartige Kämpfe, von denen der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 und die jahrelangen Kämpfe gegen Outsourcing an den Berliner Krankenhäusern nur einige Beispiele sind. Diese Kämpfe sind in der Lage, reale Verbesserungen zu erzielen. Die Grenze ist aber – trotz aller Handlungsspielräume – in erster Linie dadurch gegeben, dass die vergesellschaftete Reproduktionsarbeit weiterhin den Marktgesetzen unterworfen ist. Sie bleibt bei einem Kampf gegen Windmühlen, wenn sie das zugrunde liegende Problem nicht angreift.

Die Aufwertung muss deshalb nicht als Endziel, sondern als erster Schritt in Richtung der vollständigen Aufhebung der Unterordnung der Reproduktion unter die Schaffung von Profit verstanden werden. Das heißt, es geht darum, nicht nur für höhere Löhne für die Beschäftigten zu kämpfen, sondern auch gegen die Privatisierung der Krankenhäuser und Pflege- und Betreuungseinrichtungen. Und auch ein Ende der Privatisierung des Sektors reicht nicht aus, denn letztlich geht es darum, dass die gesamte Gesellschaft auf anderer Grundlage neu organisiert wird – und zwar im Einklang mit den Bedürfnissen der arbeitenden Massen und nicht im Interesse der Profitgenerierung.

Die Aufwertung muss als Teil eines Übergangsprogramms begriffen werden, das für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt kämpft, letztlich aber den Kampf für den Sozialismus auf die Tagesordnung setzt, in dem die Reproduktion nicht mehr der Produktion untergeordnet wird. Wir setzen der Vergesellschaftung unter kapitalistischen Bedingungen eine sozialistische Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit entgegen, die sich nach den Bedürfnissen der arbeitenden Massen richtet statt nach den Bedürfnissen der Profiterzeugung. Dazu gehört die Einrichtung von Betreuungsangeboten rund um die Uhr, die allen offenstehen, die Schaffung von Kindertagesstätten, die den Betrieben angegliedert sind. Insbesondere das Problem des Personalmangels muss gelöst werden, mit guten Arbeitsbedingungen und Löhnen für die Beschäftigten. Nur das ermöglicht auch eine gute Betreuung in kleinen Gruppen und die ausreichende Zeit, Pflegebedürftige auch psychosozial und menschlich zu begleiten. Und auch öffentliche Kantinen, in denen Familien gesundes Essen konsumieren können, eine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, ein massiver sozialer Wohnungsbau, der Wohnraum auch außerhalb der klassischen Kleinfamilie schafft, gehören zu diesem Programm. Damit kann die Reproduktionsarbeit, die heute noch in Familien geleistet wird, unter besseren Bedingungen stattfinden und so nach und nach von der privaten in eine vergesellschaftete Sphäre übergehen.

Diese Einrichtungen sollen dabei von den Kapitalist:innen direkt bezahlt werden – sie sind es, die von dieser Arbeit profitieren.Die Entscheidungen darüber, wie sie organisiert und genutzt werden können, sollen allerdings die Beschäftigten und die Nutzer:innen selber in Komitees und Versammlungen treffen können. Nur so können sie dem Profitprinzip entzogen werden. Und besonders Kinder sollen mitreden können und Unterstützung darin erhalten, sich eine Meinung über die Betreuungs- und Versorgungssituation zu machen. Sie sollen auch über ihre Lerninhalte mitbestimmen dürfen – und zwar in ihrem Interesse und nicht dem Interesse des Arbeitsmarktes.

Aber wie sieht ein solches Programm in der Pandemie aus? Klar ist, dass auch für die heutige Situation vor allem das Prinzip der Unterordnung der Reproduktion unter die Bedürfnisse der Profitgenerierung auf den Kopf gestellt werden muss. Es muss Geld in Massentests und Luftfilteranlagen für Schulen und Kitas gesteckt werden, bevor sie wieder geöffnet werden. Kinder und Lehrer:innen müssen mit Computern ausgestattet werden, damit es nicht am Geldbeutel (der Eltern) hängt, wer Homeschooling bekommt. Wenn die Schulen und Kitas wieder in den Normalbetrieb übergehen sollen, müssen Erzieher:innen und Lehrer:innen genau wie Pfleger:innen – sowohl bezahlte als auch unbezahlte – und Beschäftigte des Gesundheitssystems leichten Zugang zu Impfungen erhalten – ohne dabei den Zugang für diejenigen, die ein höheres Risiko für tödliche oder schwere Verläufe haben, zu erschweren. Da dies derzeit an Lieferengpässen scheitert, muss die Impfstoffproduktion verstaatlicht werden und die Pharmakonzerne, die versuchen von der Pandemie zu profitieren, entschädigungslos enteignen. Denn die Impfung der Reproduktionsarbeiter:innen soll auf Kosten der Kapitalist:innen geschehen, nicht auf Kosten anderer Risikogruppen.

Erzieher:innen, Lehrer:innen oder Pfleger:innen, die selber Risikogruppen angehören, müssen konsequent geschützt werden, indem sie bei vollem Lohnausgleich freigestellt werden. Wohnraum muss für Familien, die heute die Pandemie unter beengten Verhältnissen erleben müssen, geschaffen werden, indem die großen Immobilienkonzerne, die Leerstand zu Spekulationszwecken betreiben, enteignet werden. Leere Räumlichkeiten wie Konferenzzentren sollten unter guten Hygienebedingungen zu Orten umfunktioniert werden, die bei Platzmangel in Kitas, Familien oder Schulen genutzt werden können. Lieferdienste, die heute vor allem Essen zu denen, die es sich leisten können, bringen, sollen stattdessen Essen für Familien und Pflegebedürftige ausliefern. Bezahlt werden soll dies von denen, die von diesem System bisher profitieren: den Kapitalist:innen. Um Betreuung und Hausarbeit tatsächlich im Interesse der Arbeiter:innen kollektivieren zu können, braucht es heute die entschlossene Bekämpfung der Pandemie. Dies können wir nicht den Kapitalist:innen überlassen oder den Regierungen, die in ihrem Interesse handeln. Denn das letzte Jahr hat klar gezeigt, dass ihnen ihre Profite mehr wert sind als unser Leben. Beschäftigte sollten sich deshalb an ihren Arbeitsplätzen versammeln, um darüber zu diskutieren, welche Maßnahmen getroffen werden sollen – und diese mit Streiks gegen die Bosse und die Gewerkschaftsbürokratie durchsetzen. Arbeiter:innen können nur mit Streiks einen tatsächlicher Wirtschaftslockdown erzwingen, dessen Ziel es ist, die Pandemie zu bekämpfen und Leben zu schützen. Unternehmen, die keine essentiellen Waren und Dienstleistungen produzieren, können so geschlossen werden – wie dies auch im ersten Lockdown in einigen europäischen Ländern durch Streiks der Arbeiter:innen durchgesetzt wurde. Dies wäre bereits eine Entlastung für Eltern und Pflegende, die nun mehr Zeit für die gestiegenen Anforderungen der Sorgearbeit hätten und könnte eine frühere Öffnung von Betreuungseinrichtungen unter besseren Pandemiebedingungen bedeuten. Auch eine finanzielle Unterstützung für Familien, die über den viel zu geringen Kinderbonus hinausgeht, wäre notwendig. Für diejenigen, die in essentiellen Bereichen arbeiten, wäre so in den Krippen und Kindergärten eine tatsächliche Notbetreuung mit deutlich verringertem Ansteckungsrisiko möglich, da nun weniger Kinder darauf angewiesen wären. Der Wirtschaftslockdown kann deshalb auch nicht einfach nur eine maximale Ausweitung des Homeoffice bedeuten. Eltern, die Kinder zu betreuen oder Angehörige zu pflegen haben, müssen zudem die Wahl haben, bei voller Lohnfortzahlung freigestellt zu werden. Welche Unternehmen essentiell sind, sollten nicht die Besitzer:innen der Unternehmen entscheiden, sondern die Beschäftigten selber in Betriebsversammlungen. Sie sollen es auch sein, die definieren, unter welchen Bedingungen sie wieder öffnen können – sowohl in Hinblick auf die Hygienesituation als auch auf die Belastung mit Reproduktionsarbeit. Im Falle von Betreuungseinrichtungen sollen auch die Nutzer:innen in Versammlungen mitentscheiden können.

Eine Frage der Strategie

Auch für die Frage, wie wir für so ein Programm kämpfen können, spielt die Überlegung, wie Reproduktionsarbeit und Produktion miteinander verbunden sind eine entscheidende Rolle. So erkennen immer mehr Arbeiter:innen in der Pandemie, dass ihre unbezahlte Reproduktionsarbeit grundlegender Teil der Funktionsweise der gesamten Gesellschaft ist. Vereinzelt fehlt ihnen aber die Kampfkraft. Und auch der Streik im Haushalt macht vielleicht sichtbar, wie unzumutbar die Bedingungen sind, dies alleine ändert aber nichts an den Verhältnissen. Stattdessen gilt es, eine Verbindung zu schaffen zwischen diesen vereinzelten Arbeiter:innen und ihren Forderungen und den Orten, die letztlich nur mithilfe ihrer Arbeit funktionieren. Ein Beispiel wie dies aussehen kann, sind Frauenkommissionen. Zuletzt organisierten sich so beispielsweise beim Total-Streik in Frankreich die weiblichen Familienangehörigen der Arbeiter:innen im Streik: Sie unterstützten die Streikposten, organisierten gemeinsam die Kinderbetreuung, diskutierten als Teil des Streiks in allen Vollversammlungen mit und betonten, dass der Arbeitskampf ein Kampf zur Verteidigung der gesamten Region ist.8 So wie dort sind es an vielen Orten die Frauenkommissionen, die die Kämpfe in der Öffentlichkeit bekannt machen und sie so in gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzungen verwandeln, die auch Formen der gemeinschaftlichen Betreuung erproben. Dieser Zusammenfluss von Reproduktions- und Produktionsarbeit im Kampf gegen das Kapital ermöglicht es auch, den Kampf aus den Grenzen der konkreten, z.B. tariflichen Auseinandersetzung zu reißen und zu einem politischen Kampf zu machen. Dieser kann eine Ausstrahlung auf die gesamte Klasse haben, indem er aufzeigt, dass diese zwei Sphären zusammen gedacht werden müssen.

Noch viel mehr gilt dies heute für die Arbeiter:innen der Gesundheit, der Reinigung, der Pflege und der Erziehung. Durch Pandemie und Lockdown sind sie endlich als das sichtbar geworden , was sie immer schon waren: Essentielle Arbeiter:innen, „Corona-Held:innen” an der vordersten Front. Nie zuvor war klarer, wie notwendig ihre Arbeit für das menschliche Leben ist. Aus ihrer Position können sie klar formulieren, was in dieser Gesellschaft falsch läuft und für viele Menschen ersichtlich aufzeigen, dass die Gesellschaft im Dienste des Lebens umgestaltet werden muss. Gleichzeitig sind sie nicht selber diejenigen, die direkt in die Profite eingreifen können, in deren Interesse diese Gesellschaft in ihrer Gesamtheit strukturiert ist. Dafür brauchen sie ein Bündnis mit denjenigen Arbeiter:innen, deren Leben von den Reproduktionsarbeiter:innen abhängt, und die dieses Leben einzusetzen gezwungen sind, um die Gewinne einiger weniger zu schaffen.

Mit einem Bündnis basierend auf der politischen Kraft und Autorität der Reproduktionsarbeiter:innen, sowohl der unbezahlten wie auch der bezahlten, und der strategischen Position der Arbeiter:innen der Produktion, mit der sie den Kapitalismus dort treffen können, wo er am verwundbarsten ist, ist die Arbeiter:innenklasse in der Lage, eine tatsächliche Antwort auf die Frage der Betreuung zu geben.

Dieses Bündnis entsteht nicht von selbst, sondern muss aktiv aufgebaut werden. Ein Hindernis ist dabei die Gewerkschaftsbürokratie. Diese setzt alles daran, die Kämpfe auf rein tarifliche Fragen zu beschränken und lässt dabei nicht zu,dass die Beschäftigten selbst darüber entscheiden, für was und mit wem gemeinsam sie kämpfen. Sie verhindern allzu oft die Versuche, Arbeitskämpfe zu gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu machen und die Sphäre der unbezahlten Arbeit mit auf die Tagesordnung zu setzen. Wie wir im Artikel “Frauenbefreiung, Selbstorganisation und revolutionäre Strategie” in dieser Ausgabe argumentieren, braucht es hierfür die Selbstorganisierung der Arbeiter:innen, die in Versammlungen und Kommittees der Bürokratie ihre Vorstellungen aufzwingt und sie letztlich überwindet. Wir sind der Meinung, dass wir einerseits diese Orte der Selbstorganisierung aufbauen müssen und andererseits in ihnen für eine revolutionäre Strömung, die gegen die Bürokratie und für die Perspektive des Sozialismus kämpft, aufbauen müssen – und zwar Arbeiter:innen der Produktion und Reproduktion gemeinsam.

Fußnoten

1. Sarah Jaffe (2020): Social Reproduction and the Pandemic, with Tithi Bhattacharya. Beitrag im Magazin „Dissent“.

3. Statistisches Bundesamt (2013): Pflegestatistik 2011. Deutschlandergebnisse. S. 5.

4. Peter Runde, Reinhard Giese, Claudia Kaphengst, Jürgen Hess, Jürgen (2009): AOK-Trendbericht Pflege II. Entwicklungen in der häuslichen Pflege seit Einführung der Pflegeversicherung.

5. Vgl. Norbert Schwarz, Florian Schwahn (2016): “Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte”, in: Statistisches Bundesamt, WISTA 2/2016, S. 35ff.

6. Nicht ohne Grund stellt sich das Familienministerium seit 2003 als zentrale Ziele neben der Erhöhung der Geburtenrate die Steigerung der Frauenerwerbsbeteiligung (Bernd Rürup, Sandra Gruescu (2003): Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. S. 56).

7. Vgl. Gabriele Winker (2014): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld, Transcript. S. 28.

8. Für mehr Informationen kann man sich diese beiden Artikel auf unserer französischen Schwesterseite Révolution Permanente ansehen: Grandpuits. Les femmes des raffineurs s’organisent en soutien aux grévistes ! und Grandpuits. Les familles des grévistes se mobilisent : « Total ne peut pas avoir le monopole sur nos vies »

Mehr zum Thema