Beschäftigte in Behindertenwerkstätten: Nur 180 Euro pro Monat!

15.07.2021, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag

Die Situation von Beschäftigten in Behindertenwerkstätten. Ein Gastbeitrag von Michael Herrmann.

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Bild: Behindertenwerkstatt der Elbe-Werkstätten. Minderbinder / CC BY-SA 4.0

Vorwort des Autors

Um den Text besser einordnen zu können, möchte ich vorab einige Hintergrundinformationen zu meiner Person geben. Nach dem Studium des Mediendesign wechselte ich aus diversen Gründen im März 2018 das berufliche Umfeld. Seitdem arbeite ich in verschiedenen Bereichen mit Menschen mit Behinderung. Der Bundesfreiwilligendienst an einer sonderpädagogischen Schule mit dem Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ bildete für mich jedoch den Startschuss. In Wohnstätten für Menschen mit Behinderung und in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in Berlin konnte ich meinen Horizont noch erweitern. 2016 befand ich mich wegen des Verdachts einer chronischen Erkrankung in Behandlung, dieser Verdacht bestätigte sich Anfang des Jahres 2020. In dieser Zeit war ich als Fachanleiter („Fachkraft für Produktdesign“) in einer Berliner Werkstatt für Menschen mit Behinderung als Gruppenleiter tätig.

Nach anschließendem Aufenthalt in einer Tagesklinik wurde gemeinsam mit den dortigen Ärzt:innen ein beruflicher Wiedereinstieg gemäß Hamburger Modell – u.a. wurde mir auf einem Handout selbst die Werkstatt als Rehabilitationsmaßnahme vorgeschlagen – vorgesschlagen, mit meiner persönlichen Bitte um eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit von den bisher 40 Stunden auf höchstens 30 Wochenstunden. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich im letzten Monat meiner Probezeit. Meine Bitte wurde nicht berücksichtigt, ich erhielt am 28. Februar 2020 – dem letzten Tag meiner Probezeit – die Kündigung und war zum 15. März 2020 arbeitslos. Eine Kündigung zu erhalten ist sehr selten schön, speziell mitten im Genesungsprozess enorm kontraproduktiv und von einem Träger, der selbst im sozialen Bereich tätig ist, äußerst unsensibel.

Um mir Schutz im beruflichen Kontext zu suchen, beantragte ich im ersten Schritt beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSO) den Grad der Behinderung (GdB), welcher nach über sechs Monaten der Prüfung auf 30 fiel und die Grundlage für eine berufliche Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen darstellt, die bei der Bundesagentur für Arbeit beantragt werden kann. Im Dezember 2020 schließlich wurde die Gleichstellung der Bundesagentur für Arbeit genehmigt, einher geht damit ein besonderer Kündigungsschutz, Hilfen zur Gestaltung des Arbeitsplatzes, ggf. die Betreuung durch spezielle Fachdienste und Beschäftigungsanreize für Arbeitgeber:innen. Als wirklich enorm kräftezehrend ist an dieser Stelle dieser Prozess der Beantragung zu erwähnen, denn neben der ärztlichen Diagnose, schrieb ich eine Stellungnahme, welche neben den ärztlichen Diagnosen sozusagen „mein Leid“ beschreiben sollte – mich sozusagen rechtfertigen. Zwar mag dies der Selbstreflexion dienen, nichtsdestotrotz wirkt mein Text im Nachhinein erschreckend. Ich betrachte ihn mittlerweile kritisch.

Seit Oktober 2020 professionalisiere ich mein Wissen im Studiengang Soziale Arbeit und arbeite in einer Teilzeitarbeit in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderung. Zwar ist am System der Wohnstätten einiges auszusetzen, besonders nach den Geschehnissen vom 28.04.2021 in Potsdam – trotzdem konzentriert sich folgender Text vorerst auf die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung.

Ausgangslage im Juli 2021

Während die politische Linke derzeit gebannt auf die Arbeiter:innenkämpfe der „Riders“ und deren wilde Streiks blickt und sich solidarisch zeigt, übergab Lukas Krämer am 30.06.2021 eine Petition für den Mindestlohn in Behindertenwerkstätten, welche mehr als 125.000 Menschen unterzeichnet haben. In kleinem Rahmen wurde diese vor dem Deutschen Bundestag Kerstin Griese (SPD), als parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Soziales übergeben. Wichtig ist an dieser Stelle der Blick auf diese Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) – dort sind in Deutschland ca. 320.000 Menschen beschäftigt, die nicht als Arbeitnehmer:innen gelten, sondern in sogenannten „Beschäftigungsverhältnissen“ stehen. Daraus resultiert, dass diese Personen weder Recht auf Mindestlohn noch auf gewerkschaftliche Organisation, öffentliche Tarifverträge oder Streiks haben.

Immerhin würde sich auch diese marginalisierte Gruppe wünschen, mit ihren Forderungen auf mehr Gehör zu stoßen. In Deutschland gelten schließlich 7.902.960 Millionen Menschen als schwerbehindert, das entspricht etwa jede:r zehnten Person. Behinderung ist oft ein Ausschlusskriterium, ob im privaten Alltag oder im Arbeitsleben. Ein Viertel aller Anfragen der Antidiskriminierungsstelle betreffen das Feld von Behinderungen.

Wäre nicht ein solidarischer diskriminierungsfreier Grundkonsens notwendig, um wirklich positive gesellschaftliche Veränderungen erzielen zu können? Speziell die Haltung der politischen Linken verstehe ich hierbei jedoch nicht ganz, denn im Endeffekt sind das modern geführte Arbeiter:innenkämpfe, die sich jedoch noch nicht mal als Arbeiter:innen bezeichnen können. Während also von der wilden Streikkultur geschwärmt wird, was auch vollkommen in Ordnung ist, finden die Bemühungen für grundlegende Dinge wie den Arbeitnehmer:innen Status und den Mindestlohn der Werkstattbeschäftigten wenig bis kaum Gehör. Mir stellt sich zunehmend die Frage, woran das liegen könnte.

Vielleicht liegt es daran, dass immerhin jede:r Dritte in Deutschland keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung hat und so die ganze Problematik nicht so richtig mitbekommt? Und könnten die Gründe hierfür mitunter im exklusiven System der Werkstätten zu finden sein? Denn mit dem Ziel eines möglichst inklusiven Arbeitsmarkts hat das nicht so viel zu tun. Und vielleicht liegt es auch daran, dass Menschen mit Behinderungen unter Umständen erstmal den Umweg über eine unterstützende Stimme benötigen, um ihre Anliegen, Hoffnungen und Wünsche äußern zu können?

Das System der Werkstätten und die Situation Beschäftigten

Als Einrichtung zur Teilhabe ist die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in § 219 Sozialgesetzbuch IX zur Teilhabe und Eingliederung behinderter Menschen am Arbeitsleben zu sehen. Sie soll denjenigen Menschen mit Behinderung, die noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, eine angemessene berufliche Bildung sowie Beschäftigung ermöglichen.  Drei Viertel der insgesamt ca. 320.000 Beschäftigten (75 Prozent) stellen Beschäftigte mit geistigen Behinderungen dar. 21,35 Prozent entfallen auf psychischen Behinderungen und 3,50 Prozent sind körperlichen Behinderungen zuzuordnen. Die Beschäftigten verdienen dort ca. 180 Euro monatlich – dabei hat die Werkstatt sicherzustellen, dass die Menschen mit Behinderung wenigstens 35 und höchstens 40 Stunden in der Woche beschäftigt werden. Die WfbM wird häufig als Auffangbecken bzw. Sprungbrett hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt gesehen, doch häufig ist sie für Werkstattbeschäftigte die Endstation ihrer beruflichen Laufbahn. Werkstätten sind ebenso in der Wirtschaft stark vertreten – immerhin erzielen sie jährlich insgesamt einen Umsatz von ca. 8 Milliarden Euro und würden unter Umständen mit dem Verlust ihrer Beschäftigten an Produktivität einbüßen.

Die exklusiv organisierten Werkstätten lassen sich schwer mit den UN-Behindertenrechtskonventionen vereinbaren. Diese sind als Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet worden. Speziell in Artikel 27 wird das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung beschrieben. Zudem sieht es die Möglichkeit vor, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Die Arbeit in den WfbM’s ist häufig nicht frei gewählt. Die Beschäftigten können ihren Lebensunterhalt nicht aus dem verdienten Geld bestreiten und sind auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Bereits 2015 forderte der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung, die Werkstätten in der Bundesrepublik schrittweise abzuschaffen. In Großbritannien wurden zwischen 2004 und 2014 alle sogenannten geschützten Arbeitsstätten (vgl. mit den WfbM’s in Deutschland) geschlossen und eine Platzierung der bisher Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angestrebt. Aktuelle Entwicklungen wie im US-Bundesstaat Hawaii, welcher den Mindestlohn für Menschen mit Behinderungen einführte lassen Hoffnung auf Veränderungen zu. Zwar fordern die Werkstatträte als Vertretung der Beschäftigten ein „Basisgeld“ in Höhe von 70% des gesamtdeutschen Durchschnittverdienstes, sehen jedoch in der Einführung des Mindestlohns sowie dem damit einhergehenden Arbeitnehmer:innen-Status die Gefahr im Verlust der besonderen Arbeitsbedingungen und zusätzlichen Schutzrechte.  Das Statement schließt jedoch interessanterweise mit den Aussagen, dass ein Mindestlohn zu kurz greift, was zumindest den Wunsch nach Veränderungen erahnen lässt.

Auf die Frage von Lukas Krämer an Kerstin Griese (SPD), ob sie denn für 1,35 Euro in der Stunde arbeiten würde, wich sie mehrmals aus.  Kerstin Griese meinte, dass es ja nicht um sie gehen, denn sie würde ja nicht in einer Werkstatt arbeiten. Diese Einstellung verweist gut auf die bestehenden Probleme im (deutschen) Umgang mit Menschen mit Behinderung und erschwert positive Veränderungen. Zu allem Überfluss befürwortete der Behindertenbeauftrage von CDU/CSU, Wilfried Oellers in einem Clubhouse-Talk (von der Union Sozialer Einrichtung mit dem Titel „Keine Werkstätten sind auch keine Lösung“) den Fortbestand der Werkstätten und verwies auf eine in Auftrag gegebene Studie im Jahr 2023.  Während in dieser Runde Beatrix Babenschneider (stellvertretende Vorsitzende der Berliner Werkstatträte) von „traumatisierten, krank gewordenen und nicht zurück auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wollenden Menschen in Werkstätten“ berichtete, stellt sich vielleicht auch die Frage, ob nicht vielleicht auch der enorme Leistungsdruck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mitunter das Problem ist?

Problemsituation allgemeiner Arbeitsmarkt

Auch in anderer Hinsicht scheint der allgemeine Arbeitsmarkt nicht reif für inklusive Veränderungen zu sein: So wird von gescheiterten Praktika berichtet, in denen Menschen mit Behinderung von Seiten der Leitung nicht mitgezählt bzw. ignoriert und als ‚blöd‘ abgestempelt wurden. Des Weiteren wird auch von Mobbing berichtet.  Es ist also auch ein Thema von gesellschaftlicher Relevanz, in diesem Feld einen angemessenen Umgang zu finden. Auf Seiten der Unternehmen gibt es etliche Probleme. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer eines Berliner Startup verdeutlichte, dass durchaus Interesse an inklusiven Strukturen besteht, sie sich jedoch im Hinblick auf psychische, soziale und emotionale Ausnahmezustände allein gelassen fühlen. Dies deckt sich mit Werten des Inklusionsbarometers von Aktion Mensch und dem Handelsblatt Research Institute aus welchen sich ergab, dass fast jedes sechste Unternehmen, das bereits mindestens eine:n Arbeitnehmer:in mit Behinderung beschäftigt, die Möglichkeiten der staatlichen Förderung nicht kennt. Bei kleinen Unternehmen liegt der Wert bei 39 Prozent. Ein zu hoher bürokratischer Aufwand für Unternehmen sowie ein schwerer Zugang zu Ansprechpartner:innen. Dieser müsste dringend vereinfacht werden. Deutschlandweit gab es im Jahr 2019 3,29 Millionen steuerpflichtige Unternehmen, demgegenüber standen lediglich 965 Inklusionsunternehmen, -betriebe und -abteilungen.

Der Arbeitsmarkt scheint auf vielen Ebenen in dieser leistungsorientierten Form absolut kontraproduktiv gestaltet zu sein. Denn wenn dieser mittlerweile als zuverlässiger Lieferant für ausgebrannte, nicht mehr arbeitsfähige und psychisch angeschlagene Menschen für den Fortbestand der WfbM’s sorgt, steigt zeitgleich die Sehnsucht nach einer Möglichkeit, diesen Leistungsgedanken auszusetzen. Besonders spannend dürften hier Varianten sein, die aufzeigen, in welcher Form ein Aussetzen dieses Prozesses erfolgen kann. Hierbei sehe ich deutliche Parallelen zur politischen Linken, die sich nach wie vor nach gesellschaftlichen Utopien sehnt und mögliche Alternativen nicht per se also „undemokratisch“ abzustempelt.

Den Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Behinderung beschreiben Biewer, Proyer und Kremsner (2019. S.109) wie folgt:

Behinderung kann zudem eng im Zusammenhang mit Leistung bzw. Leistungsfähigkeit gedacht werden. Das dialektische Verhältnis dieser Dimensionen fällt insbesondere im englischen Sprachgebrauch auf, wo ›ability‹ für Fähigkeit, Leistungsfähigkeit, Können oder auch Vermögen steht und sich mit ›disability‹ – Behinderung, wörtlich jedoch Unfähigkeit – denselben Wortstamm teilt. Dabei wird deutlich, dass Leistung(-sfähigkeit) und Behinderung einander wechselseitig bedingen, d. h. Leistung(-sfähigkeit) kann nicht ohne Behinderung gedacht werden und vice versa.

Ergebnisse der kürzlich veröffentlichten Studie zur Vier-Tage-Woche aus Island, machen Beschäftigten hierzulande etwas Hoffnung diesem Kreislauf zu entfliehen. Im Kontext eines inklusiven Arbeitsmarkts ist definitiv eine staatliche Förderung erforderlich, um den Beschäftigten die Angst zu nehmen, mit dem Verlassen der Werkstätte einen Schutzraum zu verlieren und in Folge den Mindestlohn erarbeiten zu müssen. Es sollte individuelle Begleitung der Beschäftigten stattfinden und neue Safer Spaces im allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Aber dann bitte so dass an alle gedacht wird: Menschen mit Behinderung, BIPoC‘s, LGBTIQ*, FLINTA*, (…) — in diesem Zuge sind Information, Aufklärung, Sensibilisierung und Begegnung als Kernbausteine dieses Prozesses zu sehen. Es sollte ein solidarischer und inklusiver gesellschaftlicher Diskurs zu dieser Thematik entstehen. Stets mit einem partizipativen Ansatz unter Austausch mit allen Beteiligten auf Augenhöhe, gemäß dem Motto „nicht ohne uns über uns“.

In diesem Sinne lässt sich ein passendes Zitat des Künstlers Vincent van Gogh (1853–1890), der sich innerhalb seiner bipolaren Störung stets zwischen Genie und Wahnsinn befand, anführen. Er stellte die spannende Frage: „Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?“ – ein gewisses Grundrisiko für gesellschaftliche Veränderungen ist wohl nicht zu leugnen.  Risiko nicht im Sinne provozierter weiterer Depressionen und möglicher Suizide von Arbeiter:innen (wie die Sorge in dem unten aufgeführten Instagram Kommentar beschrieben wird)  — vielmehr ist es ein Appell für mutige, grundlegende Veränderungen. Treffender als ein Zitat von Albert Einstein (1879–1955) beschreibt derzeit nichts die Situation rund um die Werkstattbeschäftigten besser:

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.

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Abbildung 1: Screenshot unter dem Post von @super_inklusiv vom 09.07.2021 zeigt einen Kommentar von Renate Majstrak (@na.te4004 unter dem Instagram-Post: https://www.instagram.com/p/CRGjVCIh2MO/ (Zugriff: 09.07.2021).

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