Berlin: Warum alle Linken den R2G-Koalitionsvertrag ablehnen sollten

30.11.2021, Lesezeit 8 Min.
1
Quelle: hinterhof / Shutterstock.com

Am Montag präsentierte die alte und neue rot-rot-grüne Regierung in Berlin ihren Koalitionsvertrag. Wir haben ihn gelesen und erklären, warum LINKE-Mitglieder, Arbeiter:innen, Jugendliche und Migrant:innen die Vereinbarung ablehnen sollten.

In der Hauptstadt weht eisiger Wind, als die „neue“ rot-rot-grüne Regierung samt Koalitionsvertrag am Montag vor die Presse tritt. 152 Seiten lang ist das Dokument, an dem sich die Berliner Politiker:innen die nächsten vier Jahre orientieren wollen. Es liest sich schön. Wie in Landesgesetzen wird durchgängig gegendert, aber auch inhaltlich soll sich angeblich Vieles zum Besseren wenden.

Im Gegensatz zur Performance der Parteispitzen bei der Präsentation ist die Freude über den Koalitionsvertrag jedoch alles andere als universell, im Gegenteil: Die Linksjugend solid Berlin meint, die „Giffey-SPD hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt“. Für Marx21 ist der Koalitionsvertrag eine „Katastrophe für die LINKE“, der „an zentralen Stellen den Wahlversprechen der Linkspartei“ widerspricht. Beide werben nun, genau wie Mitglieder der LINKEN Neukölln und ein Zusammenschluss von Linkspartei-Mitgliedern namens „Für eine Linke Opposition in Berlin“, für eine Ablehnung des Koalitionsvertrags beim nun anstehenden Mitgliederentscheid der LINKEN.

Warum das die einzig richtige Haltung zum Koalitionsvertrag ist und nicht nur alle Mitglieder der LINKEN, sondern auch die gesamte außerparlamentarische Linke, die Vereinbarung der Parteispitzen ablehnen müssen, erklären wir euch hier.

Volksentscheid verraten

„Die neue Landesregierung respektiert das Ergebnis des Volksentscheides […] und wird verantwortungsvoll damit umgehen“ (S. 24), spuckt RRG hohe Töne. Doch kündigen die zukünftigen Senator:innen an, sich für die Einberufung und Besetzung der Kommission 100 Tage Zeit zu nehmen. Dabei wollen sie auf „externe fachliche Expertise“ setzen und lassen somit der Beteiligung von großen Wohnungskonzernen und Vermieter:innen offene Flanke. Zudem sollen in einem ersten Schritt – noch einmal – die Verfassungskonformität des Vorhabens sowie rechtssichere Wege einer Vergesellschaftung geprüft werden. In einem zweiten ist dann vorgesehen, wohnungswirtschaftliche und finanzpolitische Aspekte zu berücksichtigen und Empfehlungen an den Senat abzugeben. Erst übernächstes Jahr sollen dann gegebenenfalls (sic!) Eckpunkte für ein Gesetz festgehalten werden, sodass abschließend eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann (vgl. S. 25).

Wohin die Reise mit dem Ergebnis des Volksentscheids tatsächlich geht, ist auch daran erkennbar, dass ausgerechnet die SPD die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen bekommt. DIE LINKE muss sich stattdessen mit dem Justizsenat begnügen – Giffeys SPD wollte wohl auf jeden Fall verhindern, dass ein LINKE-Wohnungssenat irgendeinen Einfluss auf die Kommission nehmen kann. Dass sich die Linkspartei darauf eingelassen hat, ist ein weiteres Eingeständnis, dass Regierungsbeteiligung über allem steht.

S-Bahn-Privatisierung kommt

Die schon seit vier Jahren die Hauptstadt regierenden Parteien beschlossen außerdem, an der Zerschlagung der S-Bahn festzuhalten. Wie die Initiative „Eine S-Bahn für Alle“ schreibt, ist es nur „ein leeres Versprechen, wenn im Koalitionsvertrag zu lesen ist, dass das Ziel eine Kommunalisierung der S-Bahn sei“. Denn die in der letzten Legislaturperiode von denselben Parteien beschlossene Ausschreibung verschiedener S-Bahn-Strecken an verschiedene Anbieter:innen wird weiter fortgeführt. Selbst wenn die BVG Teile der S-Bahn aufkaufen könnte, würden andere Strecken für 15-30 Jahre privatisiert. Stattdessen fordert die Initiative: „Ausschreibung abbrechen, Kommunalisierung jetzt einleiten!“

Vor diesem Hintergrund klingen sich auch die schönen Worte des Abschnittes „Klima und Energie“ (S. 46ff.) reichlich hohl. Kohleausstieg „möglichst vor 2030“ und die Verhinderung von „Energiearmut“, indem bei sozialen Härten keine Strom- und Gassperren mehr verhängt werden, sind zwar richtige Schritte. Mit einem überteuerten und (teil-)privatisierten Nahverkehr wird der Klimaschutz aber trotzdem auf dem Rücken der großen Mehrheit der Bevölkerung erkauft.

Migration: Gewisse Rechte erkämpft, aber Abschiebungen werden fortgesetzt

Im Unterpunkt namens „Migration“ setzt sich die Koalition hochgesteckte Ziele. Beispielsweise will sie Bleiberecht für „mehrjährig Geduldete und Opfer von Hasskriminalität“ (S. 72), Geflüchteten den Familiennachzug erleichtern (vgl. S. 73), das Wahlrecht für alle ermöglichen (S. 68), Einbürgerung vereinfachen – auch für Staatenlose (S. 70) – und sich auf Bundesebene für die doppelte Staatsbürger:innenschaft aussprechen. Hierbei handelt es sich um Dinge, die Betroffenen-, oder wie İbrahim Arslan, einer der Überlebenden des Brandanschlags in Mölln, sagen würde: „Hauptzeugen des Geschehenen“-Verbände, Migrationsräte und NGOs sowie andere Akteur:innen der antirassistischen Bewegung seit Jahren beziehungsweise Jahrzehnten teilweise genauso unermüdlich gefordert hatten. Die erwähnten Rechte gibt uns also keineswegs die Landes- oder Bundesregierung. Vielmehr haben wir sie erkämpft. Doch werden wir auch weiterhin dafür einstehen müssen, dass sie uns nicht wieder genommen werden und vielleicht sogar dafür, dass das im Vertrag Verankerte überhaupt Realität wird.

Denn abgesehen davon, dass die „linken“ Parteien trotz dieser Fortschritte vorhaben, mehr „Integrationslots:innen“ auszubilden (S. 69), damit Migrant:innen die deutsche Wirtschaft ankurbeln und dafür auch stärker mit dem Business Immigration Service, den Jobcentern und der Industrie- und Handelskammer zu kooperieren sowie für schnellere Verfügbarkeit von Deutschkursen zu sorgen (S. 70), konnten so elementare Sachen wie ein Abschiebungsstopp nicht durchgesetzt werden. Denn die SPD, die Grünen und die Linkspartei haben vor, weiter abzuschieben – nur weniger offensichtlich und weniger grausam. So wollen sie Unerwünschte nicht mehr aus Schulen und Krankenhäusern abtransportieren und sie zumindest dann, wenn es sich bei ihnen um Kinder, Rentner:innen, Kranke oder Menschen, die behindert werden, handelt, auch nicht mehr zu inhumanen Zeiten aus dem Schlaf reißen. Zudem soll niemand mehr die Erfahrung machen, dass das eigene Handy konfisziert wird oder in Abschiebehaft landen – aber trotzdem abgeschoben werden.

Ausbau der Polizei und Überwachung

Unter der neuen rot-rot-grünen Regierung soll auch die Polizei weiter ausgebaut werden. 700 neue Stellen werden geschaffen. Zudem soll „vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung“ und Videoüberwachung an „kriminalitätsbelasteten Orten“ (S. 84) eingeführt werden. Damit ist das von der Koalition angestrebte Verbot von Racial Profiling (ebd.) eine reine Augenwischerei: Denn die Überwachung wird vor allem an den Orten ausgebaut, die zu einem großen Teil migrantisch geprägt sind wie beispielsweise der Neuköllner Hermannplatz oder das Kottbusser Tor in Kreuzberg.

Zumindest konnte aufgrund des jahrelangen Protestes von Betroffenen und Aktivist:innen durchgesetzt werden, dass es endlich einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der rechten Anschlagsserie in Neukölln gibt.

Und die Rekommunalisierung der Krankenhaustöchter?

Wer die Kämpfe der Berliner Krankenhausbewegung in den vergangenen Jahren verfolgt hat, weiß, dass die Beschäftigten der Berliner Kliniken Charité und Vivantes in dutzende Tochtergesellschaften aufgesplittet sind. Jüngst hat ein einmonatiger Streik von Charité, Vivantes und Tochtergesellschaften einen Tarifvertrag zur Entlastung des Krankenhauspersonals sowie eine teilweise Angleichung der Löhne der Tochtergesellschaften an den TVÖD erkämpft. Doch obwohl der Koalitionsvertrag den Entlastungstarifvertrag lobt und sich zur „Verantwortung des Landes als Träger der öffentlichen Krankenhäuser“ (S. 36) bekennt, fehlt eine zentrale Forderung des Klinikpersonals in der Vereinbarung völlig: die Wiedereingliederung aller Tochtergesellschaften in die Mutterkonzerne Vivantes und Charité und das Ende der Lohnungleichheit zwischen Outgesourcten und Festangestellten. Eine Gesundheitspolitik im Interesse der großen Mehrheit der Berliner Bevölkerung und nicht der Profite sieht anders aus. Doch in Bezug auf ihre Prioritäten lassen die Regierungsparteien sowieso keinerlei Spielraum: „Die Koalition steht für eine klare Willkommenskultur für Unternehmen“ (S. 119).

Und jetzt?

Am Wochenende wird ein Sonderparteitag der LINKEN über den Koalitionsvertrag diskutieren. Parallel findet ein Mitgliederentscheid statt, um über die Annahme des Vertrags und damit den Eintritt in eine gemeinsame Regierungskoalition mit SPD und Grünen abzustimmen. Wir rufen alle Mitglieder der LINKEN dazu auf, angesichts dieser untragbaren Inhalte der Koalitionsvereinbarung mit Nein zu stimmen.

Aber auch jene, die sich außerparlamentarisch für die Verstaatlichung der S-Bahn, das Klima im Allgemeinen, gegen Rassismus und nicht zuletzt die Wohnungsmarktsituation in dieser Stadt einsetzen, müssen die Linkspartei nun dahingehend unter Druck setzen. Solange Menschen weiter abgeschoben werden, solange die Forderungen der Krankenhausbewegung nicht bis zum Schluss erfüllt sind, solange die S-Bahn zerschlagen werden soll, solange die Interessen der Großkonzerne über den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung stehen, solange können wir eine solche Regierung nicht unterstützen.

Die Initiative „Deutsche Wohnen Enteignen“ rief direkt am Montag dazu auf, die „Linken“ bei der Pressekonferenz an ihr Wahlkampfversprechen zu erinnern. Mobilisierungen sind der richtige Weg – denn angesichts der Ausrichtung der „Expert:innenkommission“ zum Volksentscheid kann die Beteiligung an ebendieser nicht sinnvoll sein. Vielmehr würde sie zur Kooptierung der kämpferischen Aktivist:innen führen. Stattdessen wird es nötig sein, auf der Straße und in den Betrieben, Unis und Schulen weiterhin Druck auf den neuen Berliner Senat auszuüben, um endlich ein Vergesellschaftungsgesetz vorzulegen, das dem Willen von über einer Million Berliner:innen entspricht.

Mehr zum Thema