Begehren unter Verdacht

14.09.2024, Lesezeit 25 Min.
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Bild: shutterstock.com/dan.nikonov

Während konservative und rechte Bewegungen Geschlechtergerechtigkeit als „Gender-Ideologie“ verteufeln und patriarchale Moralvorstellungen verteidigen, prägt die Kommodifizierung von Körpern und Lust unsere Beziehungen. Sexualität ist unter der Logik des Kapitals längst zur Ware geworden und Freiheit und Genuss durch ökonomische Zwänge und Leistungsideale erstickt. Während der Kapitalismus neue Formen der Ausbeutung und Einsamkeit hervorbringt, bleibt der Traum von echter sexueller Befreiung unerfüllt.

Alles, was du schon immer an Sex revolutionieren wolltest und der Neoliberalismus nie zu reformieren wagte.

Ist Sexualität erzwungen oder liberalisiert, verklemmt oder freiheitlich? In den heutigen kapitalistischen Gesellschaften koexistieren religiös-moralische Einschränkungen mit der Transnationalisierung der Sexindustrie; der reaktionäre Diskurs der „guten Sitten“, der auf der patriarchalen Familie basiert, mit der Kommodifizierung von Körpern, Vergnügen und Begehren. Während wir neue Rechte haben und alte Belästigungen und Ungerechtigkeiten bestehen bleiben, kämpfen wir weiterhin für die sexuelle Befreiung, die in den engen Grenzen der kapitalistischen Demokratien nicht verwirklicht wurde.

I. Postmoderne Sünden

Klerikale, konservative und liberale Rechte?

November 2019. Eine Madrider Parlamentsabgeordnete bringt ihre Ablehnung des Bildungsgesetzes zum Ausdruck, das einige Fragen der Geschlechtergerechtigkeit aufwirft. Sie schlägt stattdessen vor, „Nähen“ als Pflichtfach einzuführen und bemerkt, dass „es sehr ermächtigend [sei], einen Knopf anzunähen.“ Zum Schluss sagt sie, dass „Feminismus ein Krebsgeschwür“ sei – Das ist weder Parodie noch Ironie. Diese (und andere) Worte stammen von Alicia Verónica Rubio Calle, der Sportlehrerin, die für die ultrarechte Partei Vox im spanischen Parlament sitzt und Autorin von „Cuando nos prohibieron ser mujeres… y os persiguieron por ser hombres: Para entender cómo nos afecta la ideología de género“ (dt. „Als sie uns verboten, Frauen zu sein… und euch verfolgten, weil ihr Männer wart: Verstehen, wie die Gender-Ideologie uns beeinflusst“) ist, das 2016 veröffentlicht wurde. Wenige Tage zuvor schwörten die Architekt:innen des Putsches in Bolivien neben der bolivianischen Flagge im Palacio Quemado in La Paz auf eine Bibel im XL-Format. Nur zwei Jahre zuvor wurde der:die US-amerikanische Philosoph:in Judith Butler am Flughafen von Sao Paulo von Leuten angegriffen, die deren Queer-Theorie als Angriff auf die Familienwerte und perverse Kindheit betrachten.

Trotz der Entsakralisierung der Sexualität in den letzten vierzig Jahren sind in jüngster Zeit einige Manifestationen dieses Krieges gegen die „Gender-Ideologie“ auf der ganzen Welt aufgetaucht. Mitte 2016 behauptete Papst Franziskus, dass es auf allen Kontinenten „echte ideologische Kolonisierungen gibt. Und eine davon – ich sage es deutlich mit Vor- und Nachnamen – ist die Gender-Ideologie.“ Er bekräftigte: „Heute wird den Kindern – den Kindern! – in der Schule beigebracht, dass jeder sein Geschlecht selbst wählen kann. Und warum lehren sie das? Weil die Bücher den Leuten und Institutionen gehören, die dir das Geld geben. Es sind ideologische Kolonisierungen, die auch von sehr einflussreichen Ländern unterstützt werden. Das ist schrecklich.“ 1

Jede Infragestellung der Zweigeschlechtlichkeit wird als „Gender-Ideologie“ gebrandmarkt. Und wenn es zwei Geschlechter gebe, dann deshalb, weil der (himmlische oder natürliche, je nachdem, wer es erklärt) Zweck die Fortpflanzung sei, was darauf hindeute, dass die Mutterschaft eine obligatorische Bestimmung für Frauen sei. Die Kreuzritter reichen vom Vatikan bis zur evangelikalen Lobby. Aber es sind nicht nur die Kirchen: Von Bolsonaro über Steve Bannon bis hin zu jungen Influencer:innen, die sich rühmen, moderne Liberal-Libertäre zu sein, sind sie zu Soldaten in diesem Krieg „gegen perverse feministische und sexuelle Indoktrination“ geworden. Fundamentalist:innen, religiöse Institutionen, säkulare Konzerne, die politische Rechte und andere reaktionäre Sektoren entwickeln eine Vielzahl von Argumenten, die in weiten Teilen der Gesellschaft auf Resonanz stoßen. Mit einer konservativen Agenda versuchen die Kreuzritter, bereits errungene Rechte einzuschränken oder die Einführung neuer Freiheiten zu verhindern. Ihre Kampagnen säen Panik über die Angriffe, die Feministinnen, Lesben, Homosexuelle und trans Personen – sogar in angeblicher Komplizenschaft mit dem Staat – gegen die Familie verüben und die Bildung, die Institution der Ehe und die sexuelle Fortpflanzung pervertieren würden. Wie lächerlich das ist, lässt sich daran erkennen, dass es in Lateinamerika, obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, praktisch keine Trennung von Kirche und Staat gibt und das Eindringen des evangelikalen Fundamentalismus in politische Regime weiter zunimmt, wie die Lobby im brasilianischen Parlament die den institutionellen Putsch gegen Dilma Rousseff vorangetrieben hat, oder die Putschist:innen in Bolivien zeigen.

Wenn die Reaktionär:innen unsere Schwestern sind

Auffallend ist, dass es auch innerhalb des Feminismus diejenigen gibt, die die „Falschheit“ der Geschlechter behaupten, und zwar lange vor den neuen Kreuzrittern! „Alle Transsexuellen verletzen den weiblichen Körper, indem sie die wahre weibliche Form auf ein bloßes Artefakt reduzieren“, schrieb die ehemalige Nonne und heute radikale lesbische Feministin Janice G. Raymond 1979 in ihrem legendären Werk The Transsexual Empire: The Making of the She-Male. Die radikalen Feminist:innen, die als TERFs (Trans-Exclusionary Radical Feminists) bekannt sind, vertreten Argumente, die sich kaum von denen religiöser Fundamentalist:innen, Abtreibungsgegner:innen oder der heutigen politischen Rechten unterscheiden.

Obwohl sie eine Minderheit sind, sind TERFs mit dem Aufkommen der neuen feministischen Welle [seit 2017, A.d.Ü.] nach den Debatten über Gesetze zur Geschlechtsidentität, Trans-Arbeitsquoten und einer größeren Sichtbarkeit der Trans-Gemeinschaft in verschiedenen Bereichen – auch in der feministischen Bewegung – mit reaktionären, diskriminierenden und verschwörungsideologischen Diskursen wieder aufgetaucht. Dass trans Frauen keine Frauen, sondern verkleidete Männer seien; dass sie befürchten, dass sie die Toiletten von Frauen betreten wollen, um sie zu vergewaltigen; dass Räume, in denen es trans Männer und trans Frauen gibt, nicht sicher seien; dass trans Frauen in Wirklichkeit Männer seien, die den Feminismus „kolonisieren“ wollen und trans Männer „Verräterinnen an ihrem Geschlecht“ seien. Laut diesem Sektor des Feminismus strukturieren diese Machtverhältnisse, die auf männlicher Vorherrschaft beruhen, die Familie und die Sexualität und ermöglichen es Männern, wirtschaftlich, sexuell und psychologisch von der patriarchalen Unterdrückung der Frauen zu profitieren. Unerklärlicherweise verfeinden sie sich mit ihren transphoben Positionen mit der Mehrheit der feministischen Bewegung und finden sich dann stattdessen mit ihrem Kurs an der Seite der neuen Rechten, die immer noch alte patriarchale Vorurteile verteidigt.

Es ging um Umverteilung und Anerkennung

Diese reaktionäre Ideologie der neuen Kreuzritter greift den multikulturellen Diskurs des „progressiven“ Neoliberalismus an.

Sie nutzen die durch die neoliberale Politik hervorgerufene Empörung, um all die progressiven Werte, die durch die kapitalistische Globalisierung instrumentalisiert wurden, in einen Topf zu werfen. So sehen wir, wie der progressive Neoliberalismus und der liberale Feminismus den Weg für das Aufkommen der frauenfeindlichen und homophoben extremen Rechten geebnet haben.2

Das heißt, dieser postmoderne Kreuzzug zielt nicht nur darauf ab, der scheinbaren „sexuellen Freizügigkeit“ entgegenzutreten, in den die alten Traditionen getaucht wurden, sondern auch der vermeintlichen wirtschaftlichen und rechtlichen Bevorzugung ein Ende zu setzen, mit der neoliberale Regierungen angeblich Frauen und LGBTIQ+-Personen privilegiert hätten. Dieser Diskurs derjenigen, die ihre vormalige hegemoniale patriarchale Position bedroht sehen, fördert die Vorstellung, dass weiße, heterosexuelle und einheimische Männer die Opfer der Eroberung demokratischer Rechte und Freiheiten wie der Frauenquote, der Hilfsprogramme für Alleinerziehende, der reproduktiven Rechte und der legalen Abtreibung, der Trans-Arbeitsquote, der umfassenden Sexualerziehung, der Ehe für alle, des Geschlechtsidentitätsgesetzes usw. wären.

Diese reaktionäre Ideologie basiert auf der sicheren Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit zwar die zunehmende Kommodifizierung und den Konsum mit sozialem Schutz verband (um die Radikalisierung der Massen zu verhindern, d. h. um sie daran zu hindern, einen emanzipatorischen Weg einzuschlagen), dass aber „der finanzialisierte Kapitalismus eine Allianz aus Kommodifizierung und Emanzipation gegen den Schutz geschaffen hat“3. Mit anderen Worten: Der Neoliberalismus hat mit zur Verfestigung der Spaltung zwischen den sozialen Bewegungen, die für die Emanzipation kämpfen, und der Arbeiter:innenklasse, die mit den Folgen der kapitalistischen Pläne (Prekarisierung, Flexibilisierung, Verlagerung von Arbeitsplätzen, Arbeitslosigkeit usw.) konfrontiert ist, beigetragen, wobei beide jeweils ihre eigenen Bürokratien haben. Das schafft laut Nancy Fraser letztlich die Bedingungen dafür, dass sich Teile der Lohnabhängigen „dem Rechtspopulismus zuwenden“4. Diese zutiefst regressive Politik des Neoliberalismus, die zu einem exponentiellen Wachstum der wirtschaftlichen Ungleichheit führte, wurde von einer „scheinbar inklusiven Politik der Anerkennung“5 begleitet. Während also die Welt Zeuge von Deindustrialisierung, zunehmender Armut und der massiven Eingliederung von Frauen und Arbeitsmigrant:innen unter äußerst prekären Bedingungen wurde, wurden Multikulturalismus, Respekt für Vielfalt und die Rechte von Frauen und der LGBTIQ+-Gemeinschaft zum offiziellen Diskurs der „politischen Korrektheit“. Ohne diesen „Pakt“ (der Regierbarkeit) – der für die meisten wohlmeinenden Aktivist:innen nicht immer explizit sichtbar war, der aber die Kooptation und Bürokratisierung von Bewegungsanführer:innen durch zahlreiche Operationen der NGO-isierung, Projektfinanzierung, Subventionen, Institutionalisierung usw. beinhaltete – wäre die Umsetzung dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik nicht nachhaltig gewesen.6

Seit dem Ausbruch der kapitalistischen Krise 2008 findet jedoch eine umfassende und tiefgreifende Debatte darüber statt, wie mit den Folgen des Neoliberalismus umzugehen ist. Auf der einen Seite schürt die Rechte Ressentiments gegen die Sektoren, die (relative) Rechte errungen haben, d. h. gegen Frauen und LGBTIQ+-Personen sowie rassifizierte Menschen, Migrant:innen usw.. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die den Platz des „kleineren Übels“ gegenüber der Rechten einnehmen und illusorisch eine Rückkehr zum Sozialstaat vorschlagen, ohne zu erklären, wie dies praktisch möglich wäre, ohne die kapitalistischen Gewinne zu beeinträchtigen. Neue Verkleidungen mit progressivem und linkem Anstrich, um die neoliberalen Regime in der Krise weiter zu stützen und zu flicken.

Aber das Aufkommen einer neuen feministischen Generation in einem noch nie dagewesenen internationalen Ausmaß zwingt uns, alles, was naturalisiert wurde, kritisch zu betrachten: von der Macho-Gewalt bis hin zur Sprache, die festlegt, dass das Universelle und Neutrale ein männliches Geschlecht hat; von der Unentgeltlichkeit der Hausarbeit bis hin zur Fluidität der biologischen und sozialen Geschlechter und des Begehrens.

II. Rechte und Waren

Der kontraproduktive Rückgriff auf die Opferrolle

Verletzungen und Unzufriedenheiten, Forderungen nach Umverteilung, Recht auf Anerkennung. Aber „unter welchen Formen wird das Gefühl der Kränkung in unseren Gesellschaften politisiert, welche möglichen politischen Verwicklungen oder Rückzüge werden im Schutz einer defensiven Identität produziert, die im Wesentlichen in der Passivität von Schmerz und Kränkung geschmiedet wurde?“7 Diese Fragen sind notwendig, um zu verstehen, wie emanzipatorische Bewegungen wie der Feminismus oder die sexuelle Befreiung mit dem Paradox der Opferrolle und der Institutionalisierung von Freiheiten konfrontiert wurden, indem sie versuchten, Rechte innerhalb der vom kapitalistischen Staat auferlegten Grenzen zu sichern.

Im engen Rahmen der kapitalistischen Demokratien wurde Weiblichkeit in diesen Jahren der neoliberalen Reaktion (und des „Progressivismus“) im Wesentlichen über sexuelle Verletzlichkeit definiert: Belästigung, Missbrauch, Vergewaltigung, die schädlichen Auswirkungen von Pornografie usw.. Nach diesem Paradigma müssen Frauen augenscheinlich „geschützt“ werden, als a priori machtlose und passive Opfer angesichts einer aktiv räuberischen männlichen Sexualität, die aber ebenso essenzialisiert und naturalisiert ist. Frauen, die sich ihre politische Anerkennung im Laufe der Geschichte hart erkämpfen mussten, werden nun darauf beschränkt, sich als Objekte der Kränkung, der Beleidigung und des Schmerzes, die von anderen zugefügt werden, zu präsentieren. Es wird so getan, als ob der kapitalistische Staat nicht für die Aufrechterhaltung und Legitimierung von Macho-Gewalt, Todesfälle durch heimliche Abtreibungen oder auch die unterdrückerische Reproduktion stereotyper Geschlechterrollen durch zahlreiche Institutionen verantwortlich wäre. Stattdessen scheint er die Frauen zu schützen, indem er durch das Strafsystem angeblich über ihre körperliche und moralische Unversehrtheit wacht und dabei die Tatsache verschweigt, dass es der Kampf der organisierten Frauen war, der die Naturalisierung der patriarchalen Gewalt aufgedeckt und Wiedergutmachung für die Opfer gefordert hat.8

Obwohl die Kodifizierung sexualisierter Gewalt als Straftaten bis zu einem gewissen Grad ermöglicht, sichtbar zu machen, was historisch unsichtbar gemacht wurde, hat der Fokus auf eine juristisch-strafrechtlichen Perspektive, um auf strukturelle soziale Probleme (wie patriarchale Gewalt) hinzuweisen, den gegenteiligen Effekt. Die Ausblendung des strukturellen Charakters der Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ+-Personen liefert nicht nur keine verlässliche Erklärung für das gesellschaftliche Phänomen, sondern individualisiert und partikularisiert auch den Täter, dessen Verhalten als Pathologie, Anomalie oder „Fehlanpassung an die Normen“ dargestellt wird, anstatt als die schlimmste und extremste Auswirkung dieser Normen.9

Diese Relativierung von Sexualdelikten – zu der die neue Rechte neigt – führt solche verabscheungswürdigen Verhaltensweisen auf die zeitgenössische Entsakralisierung der Sexualität zurück. Im anderen Extrem wird der übermäßige Schutzeifer jedoch zu einer Bedrohung für die Spontaneität und die individuellen Freiheiten in einvernehmlichen sexuellen Beziehungen. Denn je mehr die Gefahr der Sexualität für Frauen betont wird, desto mehr trägt dies dazu bei, sie auf Geheimnis, Schweigen und Tabu einzuschränken. Aber, wie Carol Vance sagt: „Feminismus muss die Lust und Freude von Frauen steigern, nicht nur unser Unglück mindern.“10 Aus diesem Grund sind neben einem punitivistischen Feminismus11 auch starke Positionen entstanden, die vor der Gefahr warnen, dem Staat eine größere Disziplinierungs- und Strafgewalt einzuräumen. Diese Positionen verteidigen die weibliche Lust gegen die Gleichsetzung von Sexualität und Risiko, die sich gefährlich dem Puritanismus nähern könnte. Die lautstarke Debatte zwischen den nordamerikanischen Unterstützer:innen von #MeToo und dem umstrittenen Manifest französischer Schauspielerinnen und Intellektueller, die das „Recht der Männer auf Belästigung“ verteidigen wollten, ist ein Beispiel für diese gegensätzlichen Tendenzen.12

Trotz allem und vielleicht gerade weil wir um das Verbot, die Unterdrückung und die Bestrafung wissen, die seit Jahrtausenden auf unseren Körpern und unserem Vergnügen lasten, begehren wir weiterhin, weiter zu begehren.

Bedingte Freiheiten

Das Gleiche gilt für andere Themen, bei denen der Staat die Bedingungen für die Ausübung von Rechten festlegt, wie z.B. bei der „Ehe für alle“. Es mangelt nicht an theoretischen, politischen und aktivistischen Hinterfragungen der Tatsache, dass es der Staat ist, der die Formen, Grenzen, Praktiken und Subjekte von sexuell-affektiven Beziehungen regelt. Ebenso wird kritisiert, dass letztere nur unter dem Parameter der Ehe und dem heteronormativen Modell von romantischer Liebe und Paarbeziehungen zum Zweck der Fortpflanzung konzipiert werden. Das führt zu einer starken Homonormativisierung abweichender sexuell-affektiver Beziehungen, die Verhaltensweisen, die sich nicht an diese Parameter halten, moralisch verurteilt und ihr kritisches und transformatives Potenzial einschränkt. Ganz zu schweigen von der Problematik, die Forderung nach Gleichberechtigung so zu übersetzen, „gleichberechtigt“ Teil der Repressivkräfte des Staates zu werden, deren Mitglieder in vielen Ländern maßgeblich für Hassverbrechen gegen Homosexuelle und trans Personen verantwortlich sind.

Durch diese Strategie, die es in einigen Ländern Millionen von Menschen ermöglicht hat, die gleichen Rechte zu erlangen, die bis vor kurzem nur Heterosexuellen zustanden, wird die Konstruktion einer neuen Minderheit, die ausgegrenzt, unsichtbar gemacht oder kriminalisiert wird, weil sie nicht in die Normen passt, neu legitimiert. Die Eroberung eines legitimen Rechts – das nicht nur symbolische Gleichheit der Anerkennung bedeutet, sondern auch ganz konkrete gleichberechtigte Bedingungen in Bezug auf die Pflege eines kranken Partners, gemeinsames Wohnen, Verantwortung für Kinder usw. – verdeckt gleichzeitig die Erfahrungen von Diskriminierung und Belästigung, mit denen die große Mehrheit der Menschen täglich zu kämpfen hat. Das ist der gefährliche Effekt, von dem Germán Cano spricht, wenn er sagt, dass „zeitgenössische Freiheitsanliegen in Form von zunehmend spezifizierten Beschwerde- und Schutzkodizes den regulierenden Kräften des Staates unterworfen werden“, was nicht nur dazu führt, „dass die Macht des Staates ungewollt auf Kosten der politischen Freiheit wächst, sondern dass wir eine Art ‚Plastikkäfig‘ schaffen können, der die geschädigten Subjekte, die er schützen sollte, reproduziert und weiter reguliert“13.

Das ist der Grund, warum Frauen, Lesben, Schwulen und trans Personen trotz der neu errungenen Rechte, der verstärkten Strafgewalt des Staates gegen Hassverbrechen und Diskriminierung, der „Integration“, die der Staat durch Normativierung herstellt, auf der Straße immer noch Angst haben. Es ist das Zeichen für den „unverrückbare[n] Unterschied zwischen denen, die diese Angst erleiden (oder wissen, dass sie sie erleiden können), und denen, die diese Angst einsetzen oder verstetigen (oder auch einfach nur denjenigen, die, weil sie ‚auf der richtigen Seite‘ stehen und deshalb keiner Gefahr ausgesetzt sind, diese Angst nicht wahrnehmen, sie sich nicht vorstellen können, ihre Auswirkungen minimieren)“14.

Doch der Kampf der sozialen Bewegungen und die neuen Rebellionen, die über die Kontinente fegen, schaffen auch neue Verbindungen über Unterschiede hinweg, erschaffen in der Hitze der Mobilisierungen und Barrikaden neue Gemeinschaftsbeziehungen und schlagen polyamore Utopien und kollektive Fürsorge vor.

Käufliches Vergnügen und prekäre Orgasmen

Doch trotz aller Widersprüche, die mit der Eroberung von Rechten in Bezug auf Geschlecht und Sexualität einhergehen, ist die restaurative Gegenoffensive des Kapitalismus, die seit Mitte der 1980er Jahre durchgesetzt wurde, vor allem durch seine Fähigkeit gekennzeichnet, jedes menschliche Bedürfnis oder jeden Wunsch profitabel zu machen. Das liegt nicht nur an der enormen Entwicklung der so genannten Sexindustrie und der Liberalisierung der Grenzen, die neben dem Kapitalfluss auch den illegalen Handel mit Menschen zum Zweck der Arbeit und der sexualisierten Ausbeutung ermöglicht. Es liegt auch an der immensen Veränderung der sexuell-affektiven Beziehungen, die der Logik von Profit, Rentabilität und Effizienz unterworfen sind. Wie wir bereits in einem anderen Artikel festgestellt haben,

ist alles verkäuflich, alles käuflich. Von der Frau bis zum Sexspielzeug, das gute Ehefrauen bei einem Freundinnentreffen kaufen; von Fantasien, die in Filmen erzählt werden, bis zu verschreibungspflichtigen Medikamenten zur Behandlung von Erektionsproblemen. Was dieses komplexe Phänomen namens ‚Privatleben‘ ausmachte, wurde über den Ladentisch gereicht.15

Und je mehr die Sozialisierung durch neue und vielfältige Kommunikationsnetzwerke zunimmt, desto mehr scheint die Einsamkeit das einzige Privateigentum zu sein, das der großen Mehrheit zur Verfügung steht. Likes, Views und DMs. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen wahrscheinlich so vernetzt sind wie nie zuvor in der Geschichte, und dennoch herrschen Individualismus und Einsamkeit, flüchtige, oberflächliche, utilitaristische Beziehungen, die uns mit einem starken Geschmack der Leere zurücklassen. Aber nicht nur das: Diese Bedingungen werden auch zum günstigen Umfeld für die Neu-Idealisierung des traditionellen Paares, jenes vermeintlich uneigennützigen Bollwerks des Privatlebens, das noch nicht von der merkantilen Gier erobert wurde, „als utopische Beruhigung gegen die Einsamkeit, in die wir durch die Hektik eines prekären und völlig flexiblen Lebens gefesselt sind.“ 16

Und während unsere Seelen in der schwindelerregenden Wüste der Hyperkonnektivität Schiffbruch erleiden, leiden unsere Körper unter chronischer Müdigkeit. Die Kontrolle über die Körper und Neigungen der Arbeitskräfte ist für die herrschenden Klassen lebenswichtig. Doch nie war das tiefgreifende Paradoxon größerer sexueller Freiheiten, des Kultes des Hedonismus und der Ent-Erotisierung und Medikalisierung der Sexualität so präsent wie heute. Während die Sexualität paradoxerweise an der Leistung gemessen wird (Anzahl der Orgasmen, Erektionen, Sexualpartner:innen, erotischen Begegnungen usw.), droht der Mangel an Lust zum Hit in den Sprechzimmern zu werden. Zeitschriften sind voll von Ratschlägen, wie man die Flamme der Leidenschaft in der Ehe am Leben erhält oder warum drei Orgasmen pro Woche eine gesunde Haut fördern; aber auch das Leben von Millionen von Menschen, die rotierenden Schichten, anstrengenden Arbeitszeiten und beschleunigten Produktionsrhythmen ausgesetzt sind, zeugt von einer prekarisierten Sexualität.

Die Beschleunigung der wirtschaftlichen Prozesse hat auch das Tempo des Soziallebens beschleunigt. Produktionstechniken und Arbeitsprozesse sind ebenso flüchtig, vergänglich und beschleunigt wie unsere knappe freie Zeit, die (nicht) für Freizeit, die Pflege sozialer Beziehungen und sexuellen Genuss bestimmt ist. Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, allgemeine Müdigkeit, Erektionsprobleme, vorzeitige Ejakulation, Lubrikationsschwierigkeiten, verringerte oder fehlende Libido, die in dem durch Scham auferlegten Schweigen, den durch Konkurrenz angespornten Lügen und der Verheimlichung zur Vermeidung sozialer Stigmatisierung chronisch werden. Resignierter Sex, geduldeter Sex, frustrierender oder frustrierter Sex und Unstimmigkeiten. Vor allem viele Unstimmigkeiten.

Ist die sexuelle Frage nur eine Frage des unkonventionellen Begehrens, das sich dem Diktat der obligatorischen Heterosexualität entzieht? Nein. Es geht auch um Millionen von Menschen, die von der Peitsche des Kapitals müde ausgebeutet werden und deren Sexualität dazu verdammt ist, ein Ödland ohne Fantasien und Vergnügen zu sein. Deshalb sprachen die antikapitalistischen Bewegungen, die in der Hitze der Stonewall-Barrikaden entstanden, eher von sexueller Befreiung (der Menschheit) als von Rechten auf Inklusion (der Identitäten), bevor sie durch den bedrohlichen, tödlichen, reaktionären, neoliberalen Zwang der „rosa Pest“ 17 diszipliniert wurden. Peter Drucker betont:

Wahre Freiheit für LGBT-Personen würde zwangsläufig radikale Veränderungen mit sich bringen, die viel mehr Menschen betreffen würden als nur die LGBT-Personen. Insbesondere würde sie eine Neugestaltung des Sexuallebens erfordern, die die angenommene Verankerung des Geschlechts in der sexuellen Orientierung oder ‚Sexualität‘ jedes Einzelnen aufgibt; eine Umgestaltung der grundlegenden Strukturen des Haushalts, die auf der Abschaffung des Geschlechts, wie wir es kennen, beruht; eine Überwindung der globalen Hierarchie der Nationen und ‚Ethnien‘; und eine Wiedereröffnung der Horizonte der Linken, um es wieder möglich zu machen, die Grenzen des Kapitalismus zu konfrontieren.18

III. (Vorläufiger) Schluss

Die Sexualität wurde durch die Wissenschaft, die sexuellen Befreiungsbewegungen und die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaften bereits desakralisiert. Die politische Ultra-Rechte verbündet sich mit kirchlichen Obskurantist:innen und libertär-liberalen Hipstern, um die reaktionären frauenfeindlichen und homophoben Diskurse wiederherzustellen, die die Zweigeschlechtlichkeit, die obligatorische Heterosexualität und die Prädestination der Sexualität auf Fortpflanzung aufrechterhalten. Als soziale Bewegungen nie dagewesene Rechte eroberten, die patriarchale und tausendjährige sexistische Vorurteile abbauten, hat der kapitalistische Staat diese minimalen Anerkennungen in Vorschriften und Strafen umgewandelt, die die Trennung zwischen dem Normalen und dem Abnormalen, dem Legalen und dem Verbotenen wiederherstellen und in derselben Geste die Integration der einen und die Ausgrenzung der anderen vorantreiben. Während sich demokratische Freiheiten in weiten Bereichen als common sense ausbreiten und zu Erwartungen für Millionen werden, verwandelt das kapitalistische System sie in Waren, verwandelt die Begehrenden in Konsument:innen und die Objekte der Begierde in Konsumobjekte und monetarisiert jeden letzten Winkel unserer Libido.

Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, auch nur eine einzige seiner Tendenzen bis zum Ende zu entwickeln; aber in den Falten seiner Widersprüche schlummert latent die Möglichkeit seiner Zerstörung. Josefina Martínez weist darauf hin, dass

im Kampf gegen den patriarchalen Kapitalismus und seine Gewalt der Kampf um den Genuss von freier Zeit und Sexualität Teil des Kampfes für eine emanzipierte Gesellschaft ist.19

So war es in der Geschichte immer, wenn sich die ausgebeuteten Klassen gegen die Ausbeutung erhoben haben, indem sie sich eine radikal andere Gesellschaft vorstellten. Deshalb führte die Arbeiter:innenrevolution in Russland 1917 zu einer kühnen Politik und zu den fantasievollsten Debatten über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die Rechte der Frauen und die kostenlose Bildung für Kinder. Der Radikalisierungsprozess, der durch den französischen Mai 1968 ausgelöst wurde, brachte die Fantasie an die Macht und stellte die Beschränkungen, die die kapitalistische Gesellschaft dem Begehren und der Sexualität auferlegt, tiefgreifend in Frage.

Wie Drucker außerdem betont, stehen dissidente Sexualitäten heute vor der Herausforderung, sexuelle Identitäten zu verlernen, „ihre historischen und materiellen Wurzeln und Grenzen zu verstehen und darüber hinaus zu umfassenderen Lebens- und Liebesweisen zu gelangen“. Die kapitalistische Krise, für die es keine endgültige Lösung gibt, und vor allem das Entstehen einer neuen internationalen Frauenbewegung, mit der neue Generationen auf die Straße gehen, die Kämpfe der Jugend zur Verteidigung des Planeten gegen die zerstörerische Gier des kapitalistischen Profits, die Demonstrationen, Rebellionen, Streiks und Revolten, die heute Grenzen überschreiten, sind das neue Szenario, in dem der kämpferische Geist von Stonewall wiederbelebt werden kann. Wir wissen, dass sexuelle Befreiung nicht automatisch dadurch erreicht wird, dass man auf die Straße geht oder die Macht übernimmt. Aber ohne einen revolutionären Horizont, der das System der Ausbeutung und Unterdrückung, in dem wir leben, radikal verändern will, ist die menschliche Sexualität dazu bestimmt, eine Ware, ein Verbot, ein Tabu, ein Vorrecht, eine Norm, ein Mangel, ein Schmerz zu sein. Doch genau diese Tatsache ist der Grund dafür, dass die Sehnsucht nach einem erotischen Leben, das „polymorph-sinnlich und nicht genital-besessen“20 ist, sowie die Infragestellung und Kritik aller Zwänge, die unsere sexuell-affektiven Bindungen und unser Begehren normieren, in all unseren aktuellen emanzipatorischen Kämpfen eine Rolle spielen.

Wir schließen uns daher den Worten an, die von den Kämpfen der 1970er Jahre inspiriert wurden:

Unser besonderer Kampf gilt der sexuellen Selbstbestimmung, der Abschaffung der Geschlechterrollen und -stereotypen und dem Menschenrecht, den eigenen Körper ohne Einmischung der sozialen und rechtlichen Institutionen des Staates zu nutzen. Viele von uns haben verstanden, dass unser Kampf ohne eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, die die Quelle der Macht (die Produktionsmittel) in die Hände der Menschen legt, die derzeit nichts haben, nicht erfolgreich sein kann. Diejenigen, die jetzt an der Macht sind, werden sich diesem Wandel mit gewaltsamer Unterdrückung entgegenstellen, die in Wirklichkeit bereits im Gange ist. Nicht alle unsere Brüder und Schwestern in der Homosexuellenbewegung teilen diese Ansicht, oder sind der Meinung, dass persönliche Lösungen funktionieren können. Aber je mehr unser Kampf wächst, desto klarer wird durch die sich verändernden objektiven Bedingungen, dass unsere Befreiung untrennbar mit der Befreiung aller Unterdrückten verbunden ist.21

Dieser Artikel erschien zuerst am 5. Januar 2020 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

Fußnoten

  1. 1. „6 advertencias del Papa Francisco sobre la ideología de género“, Agencia Católica de Informaciones, 1. Dezember 2016. Eigene Übersetzung.
  2. 2. Josefina L. Martínez und Cynthia Luz Burgueño, Patriarcado y Capitalismo. Feminismo, clase y diversidad, Madrid, Ed. Akal, 2019, S. 60.  Eigene Übersetzung.
  3. 3. Nancy Fraser und Rahel Jaeggi, Capitalismo. Una conversación desde la Teoría Crítica, Madrid, Ediciones Morata, 2018, S. 217.  Eigene Übersetzung.
  4. 4. Ebd. Eigene Übersetzung.
  5. 5. Ebd., S. 220. Eigene Übersetzung.
  6. 6. Eine ausführlichere Analyse findet sich in Andrea D’Atri und Laura Lif,  
  7. 7. Germán Cano, „La jaula de plástico. Wendy Brown y la cartografía política de la era Trumpstein“, Vorwort zu Wendy Brown, Estados del agravio. Poder y libertad en la modernidad tardía, Madrid, Lengua de Trapo, 2019. Eigene Übersetzung.
  8. 8. Vgl. Andrea D’Atri,  
  9. 9. Vgl. Andrea D‘ Atri, „El agresor, los hombres y el patriarcado“, Ideas de Izquierda, Mai 2018.
  10. 10. Vance, Carole S., „El placer y el peligro: hacia una política de la sexualidad“, in Carole S. Vance (Hrsg.), Placer y peligro. Explorando la sexualidad femenina, Madrid, Talasa Ediciones, 1989, S. 9. Eigene Übersetzung.
  11. 11. Vgl. Andrea D‘ Atri, „Weder Gefängnis noch Outcalling: Wie bekämpfen wir patriarchale Gewalt?“,
  12. 12. Vgl. Celeste Murillo, „Hollywood y Cannes: lejos del 99 % de las mujeres“, La Izquierda Diario, 11. Januar 2018.
  13. 13. Germán Cano, a.a.O.  Eigene Übersetzung.
  14. 14. Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Berlin, Suhrkamp, S. 48.
  15. 15. Andrea D‘ Atri, „Pecados & Capitales“, Ideas de Izquierda Nº 7, März 2014. Eigene Übersetzung.
  16. 16. Ebd. Eigene Übersetzung.
  17. 17. Vgl. Andrea D’Atri und Celeste Murillo, „Adiós a la revolución sexual?“, in Ideas de Izquierda Nr. 11, Juli 2014.
  18. 18. Peter Drucker, „Gay Normality and Queer Transformation“ in: Transformations without Revolutions?: How Feminist and LGBTQI Movements Have Changed the World, Zapruder World, An International Journal for the History of Social Conflict, Vol. 2, 2015. Eigene Übersetzung.
  19. 19. Josefina Martínez, „Hablemos de follar: entre el placer y el peligro, feminismo y liberación sexual“, Contrapunto, 28. Juli 2019. Eigene Übersetzung.
  20. 20.  Peter Drucker,  a.a.O.  Eigene Übersetzung.
  21. 21. Chicago Gay Liberation Group, „Documento de Trabajo para la Convención Constitucional Revolucionaria“ (1970), in: Rafael Mérida Jiménez (Hrsg.), Manifiestos gays, lesbianos y queer Testimonios de una lucha (1969-1994), Barcelona, Icaria, 2009. Eigene Übersetzung.

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