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Außen- und Innenpolitik des türkischen Bonapartismus

28.03.2017, Lesezeit 10 Min.
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Im ersten Teil unseres Artikels befassten wir uns mit den Grundlagen des türkischen Bonapartismus. Im zweiten Teil zeigen wir die Grenzen der bonapartistischen Außen- und Innenpolitik auf, die den fragilen Charakter des türkischen Bonapartismus illustrieren.

Nach dem gescheiterten Putschversuch im vergangenen Juli hatten wir geschrieben:

„Der Putsch endete also mit der Kapitulation der Putschisten, aber die außenpolitischen und innenpolitischen Widersprüche des Erdoğan-Regimes bleiben bestehen. Es ist also keinesfalls allmächtig, sondern weiterhin höchst instabil.“

Die historische Mission der AKP hatte darin bestanden, die traditionelle Kriegspolitik in der Innen- und Außenpolitik durch mit Reformen kombinierter neoliberaler Politik zu ersetzen: Die Suche nach der Annäherung an die Europäische Union, den kurdischen Widerstand mittels Friedensvertrags aufzulösen und vor allem die wirtschaftliche Liberalisierung und Zurückdrängen des allmächtigen Militärs aus der Exekutive. Damit einher ging die Entwicklung der Türkei zu einer Regionalmacht im Nahen Osten.

Außenpolitischer Bankrott und der Beginn der Terrorherrschaft in der Innenpolitik

Doch Erdoğans Regionalmachtbestrebungen stießen in der Phase des „arabischen Frühlings“ und des syrischen Bürger*innenkriegs an eine Grenze und scheiterten schließlich. Ihre politischen Verbündeten wie die ägyptische Muslimbrüderschaft oder die Freie Syrische Armee kapitulierten. Die wirtschaftlichen Investitionen haben sich nur in der kurdischen Region Iraks gelohnt, da Barzani ein großes Interesse an der Vernichtung der PKK besitzt, da er die PKK als Störfaktor zur Beziehung mit der Türkei wahrnimmt. Die logistische, finanzielle und militärische Unterstützung der dschihadistischen Milizen, um den Sturz Assads zu beschleunigen und Gegengewicht in der Region zu bilden, kostete die Türkei neben massiven Verschuldungen auch das Ankommen des Syrienkriegs im eigenen Lande in Form von Anschlägen, gesellschaftlicher Polarisierung und außenpolitischen Krisen mit imperialistischen Akteuren.

Die Istanbuler Bourgeoisie TÜSIAD war zwar unzufrieden mit der Entwicklung unter Erdoğan, da sie wirtschaftlich am Westen orientiert ist, dennoch fehlte ihr die Kraft zu intervenieren. Denn währenddessen verstärkte sich die anatolische Bourgeoisie unter Erdoğans Führung und konfrontierte sie am Markt. Arbeiter*innenfeindliche Dekrete wie das Verbot von Streiks und der Prozess der Prekarisierung der Arbeiter*innenklasse unter Erdoğan nützten zwar ebenso TÜSIADs Profitinteressen, jedoch sieht TÜSIAD die Gefahr darin, dass ihre Wirtschaftsbeziehungen zum europäischen oder US-amerikanischen Kapital durch die AKP-Politik untergraben werden. Finanzielle Zugeständnisse gegenüber der eigenen Bourgeoisie – geschweige denn gegenüber der Arbeiter*innenklasse – hat Erdoğan im Tausch für die Einführung des Präsidialsystems nicht anzubieten. Darin besteht sein Dilemma.

Der außenpolitische Bankrott Erdoğans steht in direkter Verbindung zur Verschärfug des inneren Terrors. Die Analyse von Karl Marx stellt das bonapartische Element in der Außenpolitik in den Vordergrund:

Inzwischen tragen Bonapartes Enttäuschungen auf dem Gebiet der Außenpolitik in hohem Maße dazu bei, ihn in seinem Terrorsystem im Inneren anzutreiben. Auf jede Schlappe, die er von außen her erleidet, und die die Schwäche seiner Position verrät und den Bestrebungen seiner Gegner neuen Auftrieb gibt, folgen notwendigerweise neue Kundgebungen sogenannter „Stärke der Regierung“.

Inzwischen beharrt die Türkei nicht mehr auf den Sturz Assads, weil dies den Interessen Russlands widersprechen würde, der sich die Türkei notgedrungen annähern musste. Diese Normalisierung der türkisch-russischen Beziehungen verhindert zwar temporär weitere Konflikte, dennoch bedeutet sie für das türkische Regime eine Sackgasse.

Je schwächer Erdoğans Position in der Außenpolitik wird, um so schärfer empfindet er die Notwendigkeit, die innere Terrorherrschaft in zunehmendem Maße auszudehnen. Denn er führt einen existenziellen Kampf. Schon nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen von 7. Juni letzten Jahres änderte er in der kurdischen Frage seinen Kurs von diplomatischen zu klassischen militärischen Taktiken und warf den „Friedensprozess“ über Bord. Seit dem gescheiterten Putschversuch regiert er das Land per Dekret, um die Opposition zu liquidieren und die gesamte Kontrolle über den Staat zu nehmen. Zeitungen, Verlage, Vereine wurden geschlossen, HDP-Abgeordnete und kurdische Oberbürgermeister*innen wurden verhaftet, nordkurdische Städte wurden militärisch belagert, oppositionelle Akademiker*innen und Lehrkräfte wurden aus Schulen und Universitäten entlassen, auf Streikaktionen wird mit brutaler Repression und Verbot reagiert und es herrscht eine massive Säuberung in staatlichen und militärischen Institutionen vor. Wer eine kritische Stimme erhebt, wird in Verbindung mit Terror gebracht. Die gesellschaftliche Polarisierung, die aus dem Scheitern der Innen-und Außenpolitik und den autoritären Maßnahmen Erdoğans hervorgegangen ist, wird mit kriegerischen Mitteln zum Schweigen zu bringen versucht.

Um die Situation mit den Worten von Clausewitz zu verstehen: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Es ist heute das einzige Rezept Erdoğans.

Interessanterweise gibt es in der Außenpolitik trotz der miserablen Situation Momente, in denen Erdoğan sich in die Rolle des „Vertreters der Nation und des Staates“ drängen kann. So fand er bei bürgerlichen Parteien wie MHP und CHP Unterstützung, um in Syrien militärisch einzumarschieren. Außerdem gehört es zur Tradition der türkischen bürgerlichen Parteien, in der Frage der Unterdrückung des kurdischen Volkes einstimmig zu handeln. Aktuell reihen sich die bürgerlichen Politiker*innen aus der Opposition hinter Erdoğan ein, um gegen das Einreise- und Propagandaverbot für die AKP-Minister*innen in Europa zu protestieren. Die ultranationalistische MHP handelt seit Sommer 2015 als Ersatzreifen für die AKP, weil sich ihre nationalistischen Interessen überkreuzen. Auch TÜSIAD schloss sich der Welle an und betonte in einer Erklärung „Das Einreiseverbot für den Außenminister Çavuşoğlu verstärkt die Spannungen. Auf der Grundlage der europäischen Werte und gemeinsamer Interessen sollten die Spannungen diplomatisch überwunden werden.“

Die bonapartistische Einheit in der Außenpolitik ist damit gewährgeleistet.

Das Einreise- und Propagandaverbot für die türkischen Minister*innen geschieht unter anderem vor dem Hintergrund, dass die europäischen Regierungen in der wirtschaftlichen und geopolitischen Kollaboration mit Erdoğan an ihre Grenzen stoßen. Es wäre kurzsichtig und illusorisch, die aktuelle geopolitische Krise als Kampf zwischen Despotismus und Demokratie wahrzunehmen. Im Gegenteil: Diese Regierungen haben kein Problem damit, Geflüchtete abzuschieben oder im Mittelmeer ertrinken zu lassen, Waffen in die Kriegsregionen zu liefern und ihre Grenzen abzuschotten. Die Demokratie-Demagogie der europäischen Regierungen ist ein Ausdruck der Panik, in der Innenpolitik von rechts unter Druck gesetzt zu werden. Sie haben der türkischen Regierung durch Flüchtlingsabkommen, Waffen- und Kapitalexport erlaubt, die restriktiven Gesetze zu verschärfen, das kurdische Volk, die Arbeiter*innenklasse und die Geflüchteten zu unterdrücken. Da die Instabilität des Erdoğan-Regimes ständig Krisen produziert, breiten sich diese Krisen über die nationalen Grenzen der Türkei in die europäischen Länder aus. Deshalb dürfen wir uns nicht von diesem reaktionären und populistischen Konflikt beeinflussen lassen.

Die aktuellen Spannungen zwischen Europa und der Türkei dienen offensichtlich zur reaktionären Propaganda Erdoğans, um die Verfassungsreform und das Präsidialsystem durchzusetzen. Die Verwendung „antiwestlicher“ Rhetorik und des inneren Kriegs gegen die „Feinde des Staates“ dienen zur Ablenkung der eigenen Bevölkerung von der inneren Misere. Die türkische Wirtschaft steht vor einer großen Krise, die sich in Wachstumsraten und Abwertung der eigenen Währung gegenüber Dollar und Euro, Stopp der ausländischen Investitionen etc. ausdrückt. Laut dem Statistikinstitut der Türkei (TÜIK) sind zwischen den Jahren 2002 und 2016 die Staatsschulden im Inland von 275,1 auf 396,8 Milliarden Dollar und im Ausland von 129,6 auf 403 Milliarden Dollar gestiegen. 24 Prozent der Jugend unter 24 ist arbeitslos, die allgemeine Arbeitslosigkeit liegt bei 12,7 Prozent. Die illegalisierte Lohnbeschäftigung in der Türkei liegt bei 32,7 Prozent. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche kann Erdoğan keine Verbesserungen für die Massen versprechen. Stattdessen ist er gezwungen, verbale Attacken in der Außenpolitik und Repression im Inland auszüben.

Das Regime ist nicht in der Lage, eine Niederlage auszuhalten

Nach dem gescheiterten Putschversuch unternahm Erdoğan den Versuch, sich über den Staat aufzuheben. Dafür wurde eine künstliche Kriegsatmosphäre gegen innere Feinde erschaffen. Es ging so weit, dass Erdoğan von sich selbst behaupten konnte, er wäre nun der „Oberbefehlshaber“ der türkischen Nation. Seine „Demokratie“-Kundgebung in Yenikapı nach dem Putschversuch, zu der alle bürgerlichen Parteien mobilisierten, war ein bedeutender Schritt in Richtung der Bonapartisierung. Doch diese „nationale Allianz“ hat sich schnell als instabil erwiesen, da die Offensive Erdoğans gegen den Putsch sich schnell als Machtkampf entlarvt hat. Die Unfähigkeit der Opposition, eine Alternative zu sein, erlaubt Erdoğan, diesen Titel weiterhin propagandistisch zu nutzen.

Die Massenmobilisierungen beim 8. März und die wachsende Opposition auf der Straße gegen das Referendum am 16. April zeigen, dass Erdoğans Herrschaft sich noch nicht gefestigt hat. Nach aktuellen Umfragen liegt das „Nein“ deutlich vorn. Das bedeutet nicht nur die Ablehnung des Präsidialsystems, sondern auch die Ablehnung des „parteiischen Staatspräsidenten“, der de facto die Regierung regiert. Deshalb wird Erdoğan vor großen Schwierigkeiten stehen, wenn er trotz eines „Neins“ beim Referendum weiterhin in seiner de facto-Rolle bleibt. Die momentane Einheit zwischen MHP und AKP dient nur zur Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands und des Kriegsregimes. Es gibt aber tiefe Risse innerhalb der MHP und im Falle des „Neins“ beim Referendum erwartet den Parteivorstand eine große oppositionelle Welle. Es gibt sogar unabhängige Nein-Kampagnen von MHP-Kadern, auch wenn sie bürokratisch von Parteivorstand bekämpft werden.

Nach den Parlamentswahlen von 7. Juni, die der Alleinregierung der AKP ein Ende setzten, rief Erdoğan Chaos und militärische Offensive aus, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu Neuwahlen zu drängen. Diese Taktik ist ihm damals gelungen, und die AKP konnte die Wahlen am 1. November gewinnen. Doch heute sehen die Bedingungen anders aus und ein ähnliches Manöver würde den Niedergang von Erdoğan vorbereiten.

Unter den jetzigen reaktionären Bedingungen des Landes und der fehlenden Existenz einer revolutionären Führung könnte dieser Prozess zu einem reaktionären und blutigen Bürger*innenkrieg führen.

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